Читать книгу Wege des Schicksals - Penelope Williamson - Страница 3

Erstes Kapitel

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Er trat während der letzten rauhen Wintertage Montanas in ihr Leben.

Zu dieser Jahreszeit war das Land im Bann der Kälte öde und trostlos. Der Schnee lag in gelblich braunen Klumpen wie altes Kerzenwachs auf der Erde. Die sturmgepeitschten Äste der Pappeln schlugen in der frostigen Luft knallend und krachend aneinander. Und der Frühling war nur eine schwache Erinnerung und alles andere als ein Versprechen.

An jenem Sonntagmorgen, an dem Tag, als er kam, wollte Rachel Yoder nicht aufstehen. Sie lag unter der schweren Steppdecke und blickte durch das kleine Fenster auf den grauen Himmel. Sie lauschte auf das Knarren und Ächzen der Wände, an denen der Wind rüttelte, und fühlte sich von einer Müdigkeit durchdrungen, die wie eine Lähmung war und bis in das Mark der Knochen reichte.

Sie lag bewegungslos im Bett und hörte, wie Benjo das Feuer in der Küche schürte – das Klirren eines Herdrings, das Poltern von Anmachholz in der Kiste, das Scharren der Aschenschaufel. Aber dann wurde es plötzlich still im Haus, und Rachel wußte, daß ihr Sohn ungeduldig auf die geschlossene Tür blickte und sich fragte, weshalb sie noch nicht aufgestanden war.

Sie gab sich seufzend einen Ruck, schob ihre Beine über den Bettrand, stellte die Füße vorsichtig auf den Boden und zitterte, als die kalte Luft von den nackten Holzdielen unter ihrem Nachthemd aufstieg. Fröstelnd zog sie sich schnell an, ohne sich die Mühe zu machen, eine Lampe zu entzünden.

Wie jeden Morgen zog sie ein schlichtes braunes Mieder und einen braunen Rock an. Darüber band sie eine glatte schwarze Schürze. Sie legte sich ein ebenfalls schwarzes Dreieckstuch um die Schultern, dessen lange Enden sie über der Brust kreuzte und in Höhe der Hüfte feststeckte. Ihre Finger waren vor Kälte starr. Sie hatte große Mühe, die dicken Sicherheitsnadeln durch die starre Wolle zu schieben. Doch bei den rechtgläubigen Siedlern war es Sitte, keine Haken und Ösen oder Knöpfe zu verwenden. Die Frauen hatten ihre Kleider schon immer mit Nadeln festgesteckt und würden es auch in Zukunft tun.

Rachels Haare kamen zuletzt. Sie waren dicht und fielen ihr in langen seidigen Wellen bis zur Hüfte. Sie hatten die Farbe von poliertem Mahagoni. Zumindest waren das die Worte des Mannes, der sie als einziger jemals in ganzer Länge gesehen hatte. Bei der Erinnerung daran lächelte sie sanft. Poliertes Mahagoni, hatte er gesagt. Und das aus dem Mund eines Mannes, der nur das Leben in der Prärie kannte. Er hatte bestimmt niemals Mahagoni gesehen, weder poliertes noch unpoliertes. O Ben!

Ben hatte ihr Haar über alles geliebt. Sie hatte sich in acht nehmen müssen, daß sie seine Bewunderung nicht eitel machte.

Rachel schob die Haare zurück, schlang sie zu einem dichten Knoten und bedeckte sie mit ihrer Haube – einer weißen, gestärkten Gebetshaube aus Batist. Rachel tastete mit den Fingern nach der steifen Mittelfalte der Haube, um sich zu vergewissern, daß sie richtig saß. Spiegel hatte es für sie nie gegeben, weder in diesem noch in jenem Haus, wo sie aufgewachsen war.

Die Wärme der Küche lockte. Doch sie blieb traurig im kalten trüben Licht der Morgendämmerung stehen und blickte aus dem vorhanglosen Fenster. Während des Winters waren auf dem Hügel hinter dem Bach etliche Strauchkiefern abgestorben. Die kahlen Stämme hatten jetzt die Farbe von schwarzbraunem Rost. Dunkle Wolken ballten sich über den steil aufragenden Bergen zusammen und drohten mit neuem Schnee. »Komm schnell, Frühling!« flüsterte Rachel. »Laß mich nicht länger auf deine Wärme warten.«

Sie senkte den Kopf und legte ihre Stirn an die kalte Glasscheibe. Sie wünschte sich voll Sehnsucht den Frühling herbei, aber mit dem Frühling kam auch das Lammen der Schafe. Das bedeutete über einen Monat lang nichts als Sorgen und noch mehr Arbeit. Und in diesem Frühjahr mußte sie mit all dem zum ersten Mal allein fertig werden.

»O Ben!« brach es noch einmal aus ihr heraus.

Rachel preßte die Lippen zusammen. Sie durfte dieser Schwäche nicht nachgeben. Ihr Mann hatte jetzt ein besseres Leben, das ewige Leben. Es war nicht richtig von ihr, ihn zu vermissen. Sie mußte Vertrauen haben und sich dem Willen Gottes unterwerfen, und sei es auch nur ihrem Sohn zuliebe.

Rachel verließ den Platz am Fenster und zwang sich zu lächeln, als sie schließlich die Schlafzimmertür öffnete und in die Wärme und das freundliche Licht der Küche trat.

Benjo stand am Tisch und füllte Kaffeebohnen in die Mühle. Als er die Tür hörte, zuckte seine Hand, und ein paar Kaffeebohnen rollten über die braune Wachstischdecke. Aus seinen großen hellen Augen sah er sie fragend und vorwurfsvoll an.

»Mama? Warum bist du so sch-sch-spät? Ff-ff-fühlst du dich nicht w-w-w ...?« Er biß die Zähne zusammen, während sich sein Kehlkopf krampfhaft darum bemühte, das Wort hervorzubringen, das zwischen Kopf und Zunge steckengeblieben war.

Doktor Henry hatte gesagt, wenn der Junge jemals das Stottern überwinden sollte, dann dürfe sie seine Sätze nicht mehr für ihn beenden. Sie müsse die Geduld aufbringen, ihn mit den Worten kämpfen zu lassen. Doch es tat ihr weh, mit anzusehen, wie er sich verzweifelt und erfolglos abmühte. Manchmal tat es so weh, daß sie es einfach nicht ertragen konnte.

Rachel schüttelte den Kopf, ging zu ihm und sagte: »Ich bin noch ein bißchen müde, das ist alles.« Sie schob ihm sanft die Haare aus den Augen. Er war inzwischen so groß geworden, daß sie die Hand kaum noch auf seinen Kopf senken mußte. Im Sommer würde er zehn Jahre alt werden. Bald würde er größer sein als sie.

Wie trotz allem die Zeit verging! Unmerklich wurde aus dem Winter wieder Frühling. Die Lämmer kamen zur Welt, und das Heu wurde gemacht. Die Wolle wurde geschoren, und die Mutterschafe wurden wieder trächtig, und wieder gab es Lämmer. Sie stand morgens auf, zog die Kleider der Großmutter an, ging zur Predigt und sang die Lieder, die schon ihr Großvater gesungen hatte. Ihr Glaube war der Glaube der Großeltern und würde auch der Glaube der Kindeskinder sein. Das hatte ihr am Leben der Menschen in diesem einsamen Tal immer gefallen – daß die Tage wie ein Fluß in das Meer der Jahre mündeten. Das unmerkliche, aber unaufhaltsame Vergehen der Zeit war tröstlich. Die schlichte Gleichförmigkeit, der langsame, aber stetige Rhythmus des Alltags schenkte ihnen allen in diesem weiten wilden Land die Kraft zum Überleben.

»Es scheint, wir haben da draußen einen Haufen hungriger Schafe«, sagte sie und kämpfte mit belegter Zunge gegen die heimtückische Traurigkeit an. »Wahrscheinlich können die Leute in der Stadt sogar das ungeduldige Blöken hören. Du fängst am besten sofort mit dem Füttern an, während ich mich um unsere hungrigen Bäuche kümmere. Aber du hast recht, wir sind wirklich schon etwas spät dran für den Gottesdienst.« Sie fuhr ihm mit der Hand noch einmal durch die Haare. »Mach dir keine Sorgen, Benjo, mir geht es gut ... wirklich.«

Diesmal spürte sie vor Freude ein Stechen im Herzen, als sie sah, wie sich sein Gesicht vor Erleichterung entspannte. Er rannte zufrieden zur Tür. Dabei griff er nach den Gummistiefeln, die vor dem Herd standen, und nahm Mantel und Hut vom Kleiderhaken an der Wand. Sein Vater war ein großer, kräftiger Mann gewesen, mit schwarzen Haaren und einem dichten Bart, der ihm bis auf die Brust gereicht hatte. Benjo dagegen schlug ihr nach. Er war schlank und für einen zehnjährigen Jungen eher schmächtig. Seine Haare hatten die Farbe von Mahagoni.

Er ließ die Tür hinter sich offen. Der Winter fegte mit einem eisigen Windstoß in die Küche. »Mama?« rief er von der offenen Veranda aus, wo er sich hingesetzt hatte, um die Stiefel anzuziehen. Er hob den Kopf. Seine Augen strahlten. »Warum fressen Sch-Sch-Schafe soviel?«

Diesmal fiel ihr das Lächeln nicht schwer. Benjo und seine unmöglichen Fragen! »Das kann ich nicht genau sagen, aber ich nehme an, sie brauchen diese Unmenge Gras, um die viele warme Wolle zu machen.«

»Und die vielen Sch-Sch-Schaf-k-köttel.« Er lachte, stand auf und stampfte mit den Füßen auf den Boden, bis die Stiefel richtig saßen. Er breitete übermütig die Arme aus und sprang mit einem Satz die Stufe nach unten in den Hof. Schlamm und Eis spritzte auf die Veranda. Er stieß einen lauten Pfiff aus. Mac-Duff, der weißbraune Schäferhund, brach im nächsten Augenblick aus dem Weidengebüsch am Bach hervor. Der Hund rannte auf Benjo zu, sprang an ihm hoch und warf ihn vor Freude beinahe um. Rachel hörte das glückliche Lachen des Jungen und McDuffs Gebell, als sie die Tür schloß. Lächelnd lehnte sie sich gegen das Holz, legte den Kopf zurück und drückte müde die Schultern an die rauhe Tür.

Der brodelnde Wasserkessel ließ sie zum Herd eilen. Sie mußte sich mit dem Frühstück beeilen, wenn sie es noch rechtzeitig zur Predigt schaffen und nicht zu spät kommen wollten. Das wäre wirklich unverzeihlich gewesen! Alle rechtgläubigen Siedler in diesem hohen Bergtal versammelten sich an jedem zweiten Sonntag zum Gottesdienst. Niemand versäumte jemals die Predigt, es sei denn, er wäre todkrank.

Das heiße Schmalz zischte und spritzte, als Rachel einen großen Löffel Maisbrei in die Bratpfanne gab. Sie öffnete das Fenster einen Spaltbreit, um den Qualm abziehen zu lassen. Der Pfannkuchen brutzelte, der Wind fuhr leise klagend am Fensterbrett entlang, und von der Weide her hörte sie Benjo wie einen richtigen Schäfer rufen: »Heuiii! Heuiii!«

Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Benjo hatte Schwierigkeiten, die trächtigen Mutterschafe von ihrem Platz unter den Pappeln in den Futterpferch zu treiben. Die dummen Tiere drängten sich eigensinnig zusammen und liefen schwerfällig im Kreis herum. Mit ihren langen knochigen Nasen und den weit auseinanderstehenden Augen, die aus der zottigen grauen Wolle hervortraten, wirkten sie aus der Ferne wie Gespenster.

In diesem Moment hörte Benjo plötzlich auf, mit den Armen zu fuchteln, und blieb wie angewurzelt stehen. Er hob den Kopf und spähte in die Ferne. Rachel durchzuckte ein stechender Schmerz. Wie er so dastand, erinnerte er sie plötzlich an seinen Vater.

Sie nahm die Pfanne mit dem Maiskuchen vom Herd und trat gedankenverloren ans Fenster. Das Glas beschlug unter ihrem Atem. Sie mußte über die Scheibe wischen.

Und da sah sie ihn, den Mann, der über ihre Heuwiese näher kam. Ein Fremder mit einem langen schwarzen Mantel und einem schwarzen Hut. Er ging geradewegs auf das Haus zu. Er hatte nichts wirklich Bedrohliches an sich, aber ihre Finger krampften sich unwillkürlich um den Griff der Pfanne. Die Fensterscheibe klirrte unter einem Windstoß. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Der Fremde lief schwankend und schwerfällig wie ein Betrunkener, dem die Beine nicht mehr gehorchen. In dieser Gegend kam kein Mensch jemals zu Fuß. Das Land war zu groß und zu weit. Niemand kam auf die Idee, sich ohne Wagen oder Pferd von einem Ort zum anderen zu begeben. Außerdem war für die meisten Leute in Montana ein Mann zu Fuß kein richtiger Mann.

Rachel verließ die Wärme des Hauses und blieb im Hof stehen. Benjo kam zu ihr. Sie beobachteten beide, wie sich ihnen der Fremde schwankend und torkelnd näherte. »Vielleicht ist er ein Handlungsreisender, dessen Wagen zusammengebrochen ist«, murmelte sie. McDuff, der die Schafe unter den Pappeln in Schach hielt, knurrte und sträubte das Fell. »Vielleicht ist er aber auch ein Cowboy, dessen Pferd lahmt und nicht mehr weiterkann.«

Der Winterwind hatte den Schnee auf der Weide zu Wellen zusammengeweht, die in den vergangenen Tagen und Nächten immer wieder vereist waren. Obwohl der Wind inzwischen laut stürmte, hörte sie das Knirschen, mit dem seine Stiefel die Eiskruste durchbrachen.

Der Mann stolperte und fiel auf ein Knie. Der Wind fuhr unter seinen schwarzen Mantel und blähte ihn auf, so daß er vor dem bleigrauen Himmel wie eine fluchtbereite Krähe mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Boden wirkte. Er kam schwerfällig wieder auf die Füße und hinterließ, als er weiterging, eine feuchte hellrote Spur auf dem alten Schnee.

»Er ist vv-vv-vv!« schrie Benjo. Doch Rachel achtete nicht auf ihn. Sie hatte bereits den Rock angehoben und rannte über den Hof.

Der Fuß des Fremden verfing sich in einer Eiskruste. Er fiel der Länge nach in den Schnee. Diesmal stand er nicht wieder auf. Rachel kniete neben ihm so schnell nieder, daß Benjo, der ihr auf den Fersen gefolgt war, sie beinahe überrannt hätte. Blut sickerte in den Schnee und bildete eine rote, immer größer werdende Lache.

Sie legte dem Fremden ihre Hand auf die Schulter. Er zuckte unter der Berührung zusammen und hob mit einem Ruck den Kopf. Sie sah das blanke Entsetzen in seinen Augen, bevor sie sich wieder schlossen und er wie ein schwarzes lebloses Bündel auf dem rot gefärbten Schnee in sich zusammensackte.

Die Blutlache wurde größer. Die gesamte untere Seite des schwarzen Leinenmantels war blutgetränkt und glänzte naß. Hellrote Fußspuren führten von der Weide in das Kieferngehölz, aus dem er hervorgekommen war.

»Benjo!« stieß Rachel mit erstickter Stimme hervor. Der Junge zuckte zusammen und wich einen Schritt zurück. »Benjo, du mußt in die Stadt reiten und Doktor Henry holen.«

»Nn-nn-nn!«

Sie drehte sich auf den Knien um und packte den Jungen an den Schultern. »Benjo ...«

Er schloß die Augen und schüttelte heftig den Kopf. »Kk-kk-k-kann!«

Sie faßte ihn bei den Schultern. »Doch, du kannst es. Der Arzt kennt dich. Du mußt nichts sagen. Schreib es ihm auf.«

Benjo starrte sie mit weit aufgerissenen grauen Augen an. Er hatte Angst. Es war für den Jungen jedesmal eine schwere Prüfung mit seinem Stottern und den Kleidern, die verrieten, daß er zu den Siedlern gehörte, in die Stadt zu den anderen zu gehen. Meistens starrten die Leute ihn nur an und flüsterten hinter vorgehaltener Hand, aber manchmal waren sie auch grausam. Zu einem mageren Jungen, der an seinen Worten zu ersticken schien, waren sie fast immer grausam.

Rachel drehte ihn jetzt energisch herum. »Benjo, du mußt gehen!« Sie gab ihm einen Stoß in Richtung Hof. »Geh jetzt. Geh!«

Der Mann war dabei zu sterben. Sie konnte sich nicht vorstellen, weshalb er noch nicht tot war, wo er soviel Blut verloren hatte und immer noch blutete. Sie mußte ihn ins Haus bringen. Er durfte nicht länger dem kalten Wind ausgesetzt sein und auf dem eisigen Boden liegen.

Sie versuchte, ihn hochzuheben, aber es gelang ihr nicht. Sie griff nach seinen Armen und zog ihn über den Schnee. Doch als sie das frische rote Blut sah, das hinter ihm eine breite Spur hinterließ, blieb sie erschrocken stehen.

Sie hörte das Klatschen und Stampfen von Hufen im Schlamm und blickte über ihre Schulter. Benjo saß auf dem ungesattelten alten Zugpferd und ritt aus der Scheune. Er sah ihr für einen kurzen Moment in die Augen, dann drückte er seine Fersen in die runden Flanken der Stute und schlug mit dem Hut auf ihren rechten Hinterlauf. Das Pferd schnaubte, fiel in einen schnellen Trab und überquerte klappernd die alte Holzbrücke, die über den Bach führte. Das Pferd trabte entlang der vereisten Karrenspuren in Richtung Stadt.

Rachel nahm eine Handvoll Schnee und rieb damit das reglose, bleiche Gesicht des Fremden. Er stöhnte und bewegte sich. Sie schlug ihn auf die Wange und dann noch einmal etwas fester. »Aufwachen! Aufwachen!«

Er öffnete die Augen und war wieder so weit bei Bewußtsein, daß er beinahe auf die Knie kam. Sie bemerkte, daß sein rechter Arm gebrochen war, und band hastig aus dem schwarzseidenen Halstuch des Mannes eine Schlinge.

Sie legte sich seinen anderen Arm über die Schulter, faßte ihn um die Hüfte und zog ihn auf die Füße. »Wir gehen jetzt zum Haus«, sagte sie, obwohl sie bezweifelte, daß er sie hörte. Der Wind peitschte mit eisigen Böen über das Land. Der Mann atmete stoßweise und keuchend.

Eng umschlungen mühten sie sich durch den knirschenden, verharschten Schnee. Sie waren sich so nahe, daß seine Bartstoppeln ihr die Wange kratzten und seine Haare über ihre Augen fielen. Der Kolben seines Gewehrs, das er in einem Sattelholster über der Schulter trug, schlug ihr mehrmals gegen den Kopf. Der Revolver an seiner Hüfte bohrte sich in ihre Seite. Sein Geruch, der süßliche Geruch seines Blutes verursachte ihr Übelkeit.

Es gelang Rachel, die Steppdecke vom Bett zu zerren, bevor sie beide in einer seltsamen Umarmung darauf fielen. Sie erstarrte unter seinem Gewicht, und der Gedanke, er könne gerade gestorben sein und sie läge nun unter einem Toten, entsetzte sie. Rachel bäumte sich auf, preßte sich verzweifelt gegen seinen Oberkörper und warf ihn schließlich auf den Rücken. Auf dem Betttuch breitete sich schnell ein hellroter Fleck aus. Solange er noch blutete, konnte er nicht tot sein. Doch sein Gesicht war leichenblaß. Die geschlossenen Augen lagen in tiefen Höhlen. Rote Streifen zogen sich über seine Wange, dort, wo sie ihn geschlagen hatte.

Er lag auf dem Gewehr. Es gelang ihr nur mit Mühe, die Waffe unter seinem Körper hervorzuziehen. Dann schlug sie den nassen Mantel zurück. Er trug vornehme Kleidung, die jetzt aber so naß und blutig war, daß sie kostbare Sekunden brauchte, um herauszufinden, wo er überhaupt verletzt war. Sie riß mit zitternden Händen seine Weste und das Hemd auf.

Und dann sah sie es. Er hatte eine Schußwunde in der linken Seite.

Das Loch war klein und schwarz. Beim Atmen quoll Blut daraus hervor. Sie knüllte ein Leinentuch zusammen und preßte es mit beiden Handflächen so lange auf die Wunde, bis ihre Arme vor Erschöpfung schmerzten. Doch als sie das Handtuch anhob, sah sie, daß sich die Blutung zwar beruhigt hatte, aber nicht gestillt war.

Rachel lief aus dem Schlafzimmer und durch die Küche hinaus auf den Hof. Der Wind zerrte an ihrem Rock und schlug ihr die Bänder der weißen Haube um den Hals. Sie erschreckte die Hühner, die im Stroh vor der Scheune gescharrt hatten und jetzt gackernd auseinanderstoben. Rachel riß das Scheunentor auf und blieb einen Augenblick lang keuchend stehen. Der scharfe Geruch der Kühe, Hühner und Schafe schlug ihr ins Gesicht. Dieser Geruch war so sehr Teil ihres Lebens, daß Rachel ihn nur selten wahrnahm. Doch diesmal stieg Übelkeit in ihr auf. Sie hustete und würgte.

Es war das Blut. Der Mann war voller Blut. Sie schloß die Augen, aber alles, was sie sah, war Blut.

Sie sammelte Spinnweben ein, die sie in der Scheune überall finden konnte, und dachte dabei, wenn Ben noch lebte, wären es niemals so viele gewesen. Sie wünschte, daß Ben lebte, daß er sich um den Mann kümmerte, der sterbend in dem großen Bett lag.

In der Schürze, damit der Wind sie nicht davonwehen konnte, trug sie die klebrigen Spinnweben zurück ins Haus. Sie fürchtete sich beinahe davor, ins Schlafzimmer zu gehen, denn sie glaubte mit Sicherheit, der Mann sei in ihrer Abwesenheit gestorben. Er war nicht tot, doch er lag erschreckend ruhig auf dem Bett, und Blut tropfte auf den Dielenboden.

Sie tupfte etwas Terpentin auf die Schußwunde. Sein Körper bäumte sich vor Schmerz auf. Die Bauchmuskeln spannten sich, aber er kam nicht zu Bewußtsein. Sie drückte die Spinnweben auf die Wunde und legte eine saubere Kompresse darüber. Dann entfernte sie sich rückwärts vom Bett, bis ihre Kniekehlen den Sitz des Schaukelstuhls berührten. Sie setzte sich und legte die blutverschmierten Hände mit den Handflächen nach oben in den Schoß. Sie schloß die Augen, sah aber nur Blut und schlug sie schnell wieder auf.

Dann hob sie entschlossen den Kopf, und zum ersten Mal blickte sie bewußt in das Gesicht des Fremden, der auf ihrem Bett lag.

Er war jung, bestimmt nicht älter als fünfundzwanzig. Seine Haare hatten die schwarzbraune Farbe frisch gepflügter Erde, seine Haut war weiß wie Milch, obwohl das auch vom großen Blutverlust kommen konnte. Er sah gut aus – hohe, markante Wangenknochen, eine lange schmale Nase, schön geschwungene Augen mit langen dichten Wimpern. Sie konnte sich nicht an die Farbe der Augen erinnern, sondern nur an ihren Ausdruck blanken Entsetzens, als sie ihn zum ersten Mal berührt hatte.

Mutter Anna Maria konnte durch Handauflegen heilen. Von ihr, der Großmutter ihres Vaters, war Rachel in die Geheimnisse der Heilkunde eingeweiht worden, doch die Gabe des Handauflegens war ein Geschenk Gottes, und bisher hatte Er es nicht für richtig gehalten, sie auch Rachel zuteil werden zu lassen. Ihre Urgroßmutter sagte, die Heilkraft stelle sich nur dann ein, wenn man fest im Glauben sei. Wenn man seine Seele der Kraft des Glaubens öffne, so wie eine Sonnenblume ihre Blütenblätter der Wärme und dem Licht, dann würden die himmlischen Kräfte helfen.

Rachel stand langsam auf und trat wieder an das Bett heran. Sie legte ihm die Hände auf das Herz, wie sie es so oft bei ihrer Urgroßmutter gesehen hatte. Sie schloß die Augen und stellte sich vor, daß sich ihre Seele wie eine Blume öffnete, deren Blütenblätter sich langsam entfalteten und der Sonne entgegenreckten.

Sein Brustkorb bewegte sich unter ihrer Hand, hob sich ruckartig und sank wieder. Sie glaubte, das Klopfen seines Herzens zu hören, immer lauter und lauter. Sie stellte sich vor, daß das Leben ihren Fingern entströmte wie wärmende, heilende Sonnenstrahlen, bis sie Teil des Klopfens seines Herzens wurde.

Doch als Rachel schließlich die Augen öffnete und auf sein Gesicht blickte, sah sie die blauen Lippen und die wächserne Haut des nahenden Todes.

»Nun komm schon! Mach den Mund auf ...«

Rachel schob den Gummischnuller zwischen die Lippen des Fremden und hob die nierenförmige Flasche so weit hoch, daß die Milch in seinen Mund fließen konnte. »So ist es gut. Ja, so!« sagte sie, so als sei er ein Säugling. »Trink schön, trink alles aus wie ein braves kleines Baby ...«

Sie blickte sich schuldbewußt um, als habe man sie gerade bei einer Sünde ertappt. Was dachte sie sich dabei, so merkwürdige Dinge zu sagen, und das zu einem der Anderen? Sie hatte keine Ahnung, was sie zu dem Versuch veranlaßt hatte, ihn wie ein verwaistes Lamm mit der Flasche zu füttern.

Sie hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, um das viele Blut zu ersetzen, das er verloren hatte, weil er sonst mit Sicherheit sterben würde. Sie hatte schon viele mutterlose Lämmer gerettet, indem sie die Neugeborenen mit einem Gemisch aus Milch, Wasser und Sirup aus der Flasche säugte.

Doch bei dem Fremden war sie bisher so wenig erfolgreich wie bei manchen zum Tode verurteilten Lämmern. Der größte Teil der Milch rann ihm aus den Mundwinkeln und über das Kinn herunter.

Sie saß neben ihm auf dem Rand des breiten weißen Eisenbetts. Sie legte die Beine hoch und lehnte sich an das Kopfteil mit den alten Messingverzierungen. Es kostete sie große Mühe, den schweren, leblosen Körper erst zur Seite zu rollen, dann an sich zu ziehen und seinen Kopf an ihre Brust zu legen. Sie spürte, wie er sich unter ihren Händen bewegte. Und als sie seinen Hals rieb, wie sie es manchmal tat, um die Lämmer dazu zu bringen, daß sie saugen würden, spürte sie, wie ein Ruck durch seinen Körper ging. Als sie ihm den Schnuller an den Mund hielt, trank er gierig.

Sie legte die Hand auf seine Stirn und drückte ihn noch fester an sich. Dann senkte sie den Kopf und legte ihre Wange auf sein dunkles Haar.

Rachel stand ungeduldig wartend draußen im Hof, als Benjo endlich mit dem Arzt zurückkam.

Der leichte Zweispänner schwankte und schaukelte auf den hohen Speichenrädern über die gefrorenen Wagenspuren. Er kam vor ihr zum Stehen, und Rachel sah im glänzenden schwarzen Lack ihr Spiegelbild. Erschrocken stellte sie fest, daß ihre Haube verrutscht war. Der Wind spielte mit einigen losen Haarsträhnen. Im Gesicht entdeckte sie einen Streifen verkrustetes Blut.

»Brrr!« rief Doktor Lucas Henry und zog die Zügel an. Er griff grüßend an seine Melone. Sein brauner Schnurrbart bewegte sich kaum, als er höflich lächelte. Wie üblich hatte er vom Whisky ein feucht glänzendes Gesicht.

»Wie geht's, Mrs. Yoder?« Er sprach nachlässig schleppend und undeutlich. Rachel hatte immer das Gefühl, daß er bewußt den sündigen Trunkenbold spielte, und das ganz besonders gern bei den gläubigen Siedlern. »Es bläst ganz ordentlich heute morgen«, sagte er. »Man braucht zwei Hände und einen Topf Klebstoff, um die Haare auf dem Kopf zu halten.«

Benjo ritt neben den Wagen. Sie sah ihn fragend an. Er war blaß, und über seine Stirn zog sich eine Falte, doch die Augen verrieten mehr Aufregung als Angst. Sie lächelte ihn an, damit er wußte, wie stolz sie auf ihn war und wie zufrieden. Aber laut sagte sie dann: »Die armen Schafe sind immer noch nicht gefüttert.«

Der Junge richtete seinen Blick auf das Haus und dann sofort wieder auf seine Mutter. Als sie schwieg, wendete er die Stute und ritt zur Scheune.

Der Arzt nahm den Hut ab und verneigte sich übertrieben tief vor ihr. »Es ist mir stets ein Vergnügen, Ihnen einen Besuch abzustatten, Mrs. Yoder.«

Seine Worte und sein Benehmen verwirrten sie. Bei den Siedlern war es nicht Sitte, beim Kommen und Gehen höfliche, nichtssagende Worte zu wechseln. Rachel wußte nie genau, wie sie sich verhalten sollte, wenn einer aus der Stadt auf diese Weise mit ihr sprach. Sie entschied sich dafür, ihm nur stumm zuzunicken.

Der Arzt saß auf seinem Wagen und wirkte in seinem grün-blau karierten Wollmantel, mit dem vom Wind geröteten Gesicht und den hellen Augen wie ein bunter Vogel. »Sie begrüßen mich heute wieder einmal mit so vielen munteren Worten – ganz wie ein Wasserfall, meine Liebe!« rief er und lachte. »Sie sind schuld daran, wenn ich eines Tages taub werde.«

Doktor Henry blickte sie noch einen Augenblick lang an, dann seufzte er tief. Er wickelte die Zügel um den Griff der Bremse, nahm seine schwarze Arzttasche und stieg vom Wagen. Ein Fuß stand bereits auf der Erde, der andere noch auf dem Trittbrett, als er das Gleichgewicht verlor und beinahe zu Boden fiel.

Rachel wurde blaß. Der Mund des Arztes verzog sich unter seinem hängenden Schnurrbart wieder zu einem schiefen Lächeln, in dem jedoch diesmal ein Anflug von Bosheit lag. »Zum Teufel noch mal, Sie haben überhaupt keinen Grund, die Nase zu rümpfen!« Er tippte mit dem Finger leicht an ihre Nase. »Denn ich bin zwar kaum das, was Sie als stocknüchtern bezeichnen würden, aber so voll wie eine Haubitze bin ich auch nicht. Man könnte vielleicht sagen, daß ich etwas angeheitert bin.« Er lachte, und zwinkernd fügte er hinzu: »Sie, meine liebe Mrs. Yoder, könnten das zum Beispiel jetzt sagen, wenn Sie Ihre Zunge zum Sprechen verwenden würden.« Auch diese anzügliche Bemerkung brachte sie nicht dazu, das Schweigen zu brechen.

Er holte tief Luft und versuchte es mit einer Frage. »Meine liebe Rachel. Was glauben Sie? Wofür hat Ihnen Gott eine Zunge gegeben?«

Sie wußte nie genau, was er mit dem ganzen gotteslästerlichen Unsinn meinte. Doch sie zweifelte nicht daran, daß es ebenso wenig freundlich gemeint war wie sein Lächeln. Deshalb reagierte sie auf die Bosheiten des Arztes so, wie alle Siedler sich im Umgang mit den Anderen auch verhielten. Sie schwieg.

Ohne ihm noch einen Blick zu gönnen, drehte sie sich um und ging auf das Haus zu. Sie überließ es ihm, ihr zu folgen.

»Ihr Junge«, sagte er und ging mit großen, plötzlich sehr sicheren Schritten neben ihr her, »hat es geschafft, mir in seiner unnachahmlichen Art begreiflich zu machen, daß Sie durch die Ankunft eines Boten aus der Hölle in Schwierigkeiten geraten sind. Es muß ein schwarzer Dämon sein, vielleicht der Fürst der Finsternis ... vielleicht ein Inkubus?« Er versuchte, die Augenbrauen spöttisch hochzuziehen. »Dieser Satan erschien hier auf dem Hof, in einen weiten schwarzen Mantel gehüllt, und hinterließ eine blutige Spur im Schnee.«

»Er kommt nicht aus der Hölle! Es ist einer von euch, und er ist verwundet!«

»Halleluja, sie kann reden!« rief er und breitete seine Arme mit so viel Überschwang aus, daß er stolperte. Doktor Henry lächelte sie an, doch sie erwiderte sein Lächeln nicht. Schulterzuckend fragte er: »Wie schlimm ist es?«

»Ich glaube, er wird sterben. Ich habe die Wunde mit Terpentin gereinigt und sie mit Spinnweben verbunden. Und ich habe ihm mit der Flasche etwas zu trinken gegeben, so wie ich meine mutterlosen Lämmer füttere, um das viele Blut zu ersetzen, das er verloren hat.«

Sie hielt dem Arzt die Tür auf. Er blieb neben ihr auf der Schwelle stehen. Er war groß und schlank und kam ihr so nahe, daß sie die Falten hätte zählen können, die sich durch die glänzende Haut seines Gesichts zogen. Er roch nach Whisky – ein schaler Geruch, der so abstoßend war wie kalter Schweiß.

Seine Augen funkelten goldbraun und spöttisch. »Sie sind ein wahres Wunder, meine Liebe, ein Inbegriff der Klugheit und der Tüchtigkeit! Außerdem sind Sie barmherzig wie ein Engel und helfen einem sterbenden Sünder. Ich kann es kaum glauben, daß es Ihnen nicht gelungen ist, den armen Kerl ohne meine unbedeutende Hilfe wieder zum Leben zu erwecken.«

Sie ging auf seinen Spott nicht ein, sondern erwiderte ernst und wahrheitsgemäß: »Ich habe versucht, ihn zu heilen. Ich habe ihm die Hand aufgelegt und mich an Gott gewandt. Aber der Herr hat nicht geantwortet, denn mein Glaube war nicht stark genug.«

Er wandte den Blick ab, und sein Schnurrbart zog sich am linken Mundwinkel ein wenig nach unten. Zur Abwechslung klang es jedoch ernst, als er sagte: »Nein? Aber wessen Glaube ist schon stark genug?«

Als sie in die Küche traten, schlug ihnen die warme Luft vom Herd und die Gerüche von gebackenem Maisbrei und Blut entgegen. Sie wartete, während der Arzt zuerst seinen Mantel und dann den Gehrock auszog und beides zusammen mit dem Hut an den Kleiderhaken neben dem Herd hängte. Erleichtert stellte sie fest, daß seine Bewegungen kontrolliert und sicher waren. Vielleicht war er doch nicht so betrunken, wie sie befürchtet hatte.

Er nahm die goldenen Manschettenknöpfe mit den Perlen ab, steckte sie in die Tasche seiner maronenfarbenen Brokatweste und begann, die Hemdsärmel hochzukrempeln. Er achtete stets wie ein richtig vornehmer Herr auf sein Aussehen, doch an diesem Tag war sein hoher gestärkter Kragen von getrocknetem Schweiß gelblich verfärbt, und die graue Seidenkrawatte hing ihm lose um den Hals. Seine blonden Haare, die er üblicherweise in der Mitte scheitelte und mit Pomade glättete, waren strähnig, so als sei er immer wieder mit den Fingern hindurchgefahren.

Der Arzt wusch sich über dem Spülstein die Hände und ging dann, ohne zu fragen, in ihr Schlafzimmer. Er wußte, wohin er gehen mußte, denn an dem Tag, an dem er Ben nach Hause gebracht hatte, war er schon einmal dort gewesen. Damals hatte er allerdings nichts für den Mann tun können, der von den Anderen gehängt worden war.

»Ich verstehe nicht, wieso er immer noch lebt«, flüsterte Rachel.

Doktor Henry hatte die Kompresse abgenommen und betrachtete aufmerksam die Wunde. Aus dem Loch in der Seite des Fremden sickerte noch Blut. Das Blut und die blaßblonden Haare auf den Unterarmen des Arztes glänzten im Lampenschein unnatürlich hell.

»Während der Kämpfe gegen die Sioux habe ich Männer gesehen, die mehr Löcher im Leib hatten als ein Sieb«, sagte er. Er nahm sein Besteck aus der schwarzen Tasche und untersuchte die Wunde. »Und doch haben sich die Durchlöcherten ans Leben geklammert. Ich frage mich noch heute, warum sie sich entgegen aller Vernunft, aller Wissenschaft und aller guten Manieren diese Mühe gemacht haben ...« Er runzelte die Stirn und erklärte dann sachlich: »Die Kugel ist an einer Rippe abgeprallt und steckt in der Milz. Ich brauche heißes Wasser und mehr Licht.«

Sie ging schnell in die Küche, um das Wasser vom Herd zu holen. Als sie zurückkam, stand Doktor Henry mit zurückgelegtem Kopf und einem silbernen Flachmann an seinen Lippen am Bett des sterbenden Mannes. Sein Adamsapfel bewegte sich beim Schlucken.

Er ließ die Flasche sinken und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Als er sie sah, wurde er so rot wie Benjo, wenn sie ihn mit den Fingern in der Zuckerdose ertappte.

Sie stellte den Wassereimer und die Emailleschüssel laut klappernd auf den Boden und verließ wortlos das Schlafzimmer. Als sie mit der Petroleumlampe wiederkam, war er gerade dabei, mit übergroßer Sorgfalt sein chirurgisches Besteck auf den Nachttisch zu legen. Doch als er aufblickte, sah sie, daß seine Augen den selbst ihr bekannten unnatürlichen Whiskyglanz hatten und daß seine Hände zitterten.

Rachel stellte die Lampe auf die kleine Konsole über dem Kopfteil des Bettes. Sie richtete behutsam die Flamme. Als sie sich umdrehte, übergab ihr Doktor Henry den ledernen Patronengürtel und die Pistole im Halfter. Der Whiskygeruch ließ sie stärker zusammenzucken als die Waffe. Er sagte: »Das legen Sie lieber irgendwohin, wo ...«

Das Gewicht des Gürtels überraschte sie. Sie nahm ihn von einer Hand in die andere. Dabei rutschte der Revolver aus dem Halfter und fiel zu Boden. Ein Schuß löste sich. Etwas traf knallend die Wand, und Holzsplitter flogen durch das Zimmer. Die Luft schien plötzlich voll Rauch und Flammen zu sein.

Rachel schrie laut auf. Sie starrte auf den Boden, als hätte sich die Hölle unter ihren Füßen aufgetan. Sie konnte den Schwefelgestank der Unterwelt riechen. Das Höllenfeuer nahm ihr den Atem.

Doktor Henry bückte sich leise fluchend und hob den Revolver auf. Sie sah schreckensbleich und stumm mit an, wie er die restlichen Patronen aus dem Magazin herausnahm.

Er reichte ihr die Waffe und lachte. »Ich wollte Ihnen noch sagen, daß Sie das verdammte Ding besser irgendwohin legen sollten, wo wir nicht darüber stolpern und uns am Ende selbst damit umbringen.«

Rachel starrte wie gelähmt auf den Revolver. Er war schwarz und kalt. Die Waffe war etwas Schreckliches, schrecklich wie der Tod. Sie brachte es nicht über sich, den Revolver anzufassen. Doktor Henry brummte ungeduldig und nahm ihr den Patronengürtel wieder ab. Dann sah er sich im Zimmer um. Sein Blick fiel auf den Kleiderschrank aus ungehobeltem Kiefernholz. Ben hatte ihn im ersten Jahr ihrer Ehe selbst geschreinert, obwohl es gegen die Regeln war, daß die Frau eines Mannes so etwas Überflüssiges besaß. Bei den rechtgläubigen Siedlern war ein Gebot des einfachen Lebens, dem sie sich geweiht hatten, Kleider an Haken zu hängen.

»Ein geöltes Halfter und ein frisierter Abzug«, brummte der Arzt, während er den Revolver in seinen Händen drehte und wendete. Rachel wich ängstlich zurück, denn sie fürchtete, es könnte sich auch ohne Munition noch ein Schuß lösen. »Was für einen gefährlichen Mann haben Sie sich da nur in Ihr frommes Haus geholt, Mrs. Yoder. Er wies auf den Kleiderschrank, wie um zu fragen: »Darf ich?« Sie nickte.

Ihr Finger zitterte, als sie auf die Ecke hinter ihrem Schaukelstuhl deutete, wo das Gewehr des Fremden an der Wand lehnte. »Da ist noch eine Waffe«, stieß sie mühsam hervor.

Er verstaute beide Schußwaffen im Kleiderschrank. Doch als er zum Bett zurückkam, stellte er fest, daß es noch eine dritte Waffe gab – eine kleine Pistole, die der Fremde in einem Schulterhalfter unter der linken Achselhöhle trug. Dem Arzt schien es Vergnügen zu machen, sie auch auf dieses Mordinstrument hinzuweisen. Er suchte weiter und fand in einem Stiefel des Mannes ein langes Jagdmesser, das in einer Scheide steckte. Doktor Henry erklärte, das sei ein sogenannter Zahnstocher aus Arkansas.

»Ihr mutterloses Lämmchen ist offenbar ein ausgewachsener Mörder«, stellte er schließlich fest und legte die beiden Waffen zu den anderen. Das Schloß klickte erschreckend laut in dem stillen Zimmer, als er die Schranktür zudrückte. »Er hat genug Schießeisen bei sich, um ein ganzes Regiment damit umzulegen.« Er warf ihr von der Seite einen spöttischen Blick zu. Sie wußte nicht genau, ob er sich über sie lustig machte oder über den gefährlichen Fremden.

Dann entkleideten sie gemeinsam den Mann. Sie zogen ihm alles aus. Er war schlank und kräftig, hatte lange Beine und einen muskulösen Brustkorb. Sein Bauch war sehnig und straff, und sein Geschlecht lag schwer auf den dunklen Haaren zwischen den Beinen.

Sie hob den Kopf und bemerkte, daß der Doktor sie beobachtete. Obwohl ihr das überhaupt nicht ähnlich sah, errötete sie.

Eine der blassen Augenbrauen des Arztes hob sich, und er verzog leicht den Mund. »Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man ein Werk Gottes bewundert, meine Liebe.«

Er lächelte immer noch leicht, als er eine Brille aus der Westentasche zog. Er wischte die Gläser sorgfältig mit einem weißen Taschentuch und schob die beiden Bügel nacheinander hinter seine Ohren.

Danach schien er sich ganz langsam zu bewegen, so wie ein Schwimmer unter Wasser. In der gespannten Stille hörte Rachel das Ächzen des Windes, das Ticken der Küchenuhr und das rauhe Atmen des Mannes auf dem Bett.

Doktor Henrys lange Finger verschwanden in der Tasche seiner gestreiften Hose und legten sich um den Hals der silbernen Flasche. Sie hielt ihn am Handgelenk fest, bevor er die Flasche an den Mund setzen konnte.

Die Sehnen unter ihrer Hand spannten sich. »Die Kugel herauszuholen ist schwieriger, als den Schweif eines Maultiers in Zöpfe zu flechten. Ich brauche nur einen kleinen Schluck, um meine Nerven zu beruhigen ...«

»Sie haben schon genug geschluckt, um Ihre Nerven zu betäuben.«

Er sah sie mit trüben Augen an und befreite sich dann aus ihrem Griff. Aber er steckte den Flachmann wieder in die Tasche. »Ich glaube, meine liebe Rachel, als stumme Siedlerin haben Sie mir besser gefallen.« Er seufzte und blickte auf den Verwundeten. »Schade, daß ich kein Chloroform bei mir habe, um ihn zu betäuben. Aber er ist schon so weit, daß ihm wahrscheinlich der Schmerz des Skalpells bereits hinüberhilft.«

Doktor Henrys Hand zitterte nur leicht, als er dann das Skalpell vom Nachttisch nahm und mit der Schneide auf die blasse Haut des Fremden drückte. Blut drang hervor, und Fleisch klaffte auseinander. Rachel mußte wegsehen.

Sie hörte das leise Klappern von Metall auf Holz, als der Arzt das Messer beiseite legte und nach einem anderen seiner schauerlichen Instrumente griff. Sie hörte überdeutlich seinen Atem, ihr Herz klopfte, der Wind heulte, und die Uhr tickte laut.

Der Fremde stöhnte plötzlich auf, und zu Rachels Schreck lachte der Doktor leise. »Spürst du das Messer, mein Lieber?« fragte er beinahe liebevoll. »Das ist gut, sehr gut sogar. Solange du Schmerzen hast, lebst du noch.« Der Verletzte stöhnte noch einmal und bäumte sich dann heftig auf. »Verdammt noch mal, stehen Sie nicht da wie ein Zaunpfahl! Halten Sie ihn fest!«

Rachel beugte sich über das Bett und packte den Fremden bei den Schultern. Der Körper unter ihren Händen war kalt, hart und schweißnaß. Der Arzt stach und bohrte in der blutenden Wunde. Rachel holte tief Luft und schluckte. Eine Schweißperle rann unter ihrer Haube hervor und am Hals nach unten.

Doktor Henry spitzte den Mund und stieß einen leisen Pfiff aus. Dann richtete er sich auf und hielt die Kugel mit einer langen spitzen Pinzette ans Licht.

»Eine vierzig-vier-vierzig«, murmelte er. »Vermutlich von einer Winchester. An einer Seite ist sie leicht abgeplattet. Da ist sie auf die Rippe geprallt.«

Er ließ die Kugel in die Schüssel mit dem blutigen Wasser fallen. »Sie sehen ein bißchen grün aus, meine Liebe. Ich nehme an, Sie könnten jetzt bestimmt selbst etwas von meinem Whisky gebrauchen. Es ist ganz in Ihrem Sinn, wenn ich Ihnen nichts davon gebe, da ich Sie doch nicht verführen möchte. Aber fallen Sie mir nicht in Ohnmacht. Ich brauche Sie noch.«

Sie mußte ihm helfen, das Loch im Körper des Mannes zu vernähen, das von der Kugel herrührte und vom Skalpell noch vergrößert worden war. Er schloß die Wunde mit einer gebogenen Silbernadel, die jener Teppichnadel ähnelte, die Mutter Anna Maria benutzte. Rachel hatte ihrer Urgroßmutter einmal geholfen, das Bein ihres Bruders Levi zu nähen, der sich beim Heumachen mit der Sichel die Wade aufgeschnitten hatte. Damals war ihr nicht übel geworden, aber jetzt spürte sie den kalten Schweiß unter ihrer Haube. Ihr Magen krampfte sich zusammen.

Doktor Henry verband die Wunde und untersuchte dann den gebrochenen Arm des Mannes. Die Hände des Arztes zitterten nicht mehr. Vielleicht kann er sich jetzt auf sich selbst verlassen, dachte sie, und braucht keinen Whisky mehr.

Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Ein schräger, mehrfacher Bruch der Speiche. Es sieht aus, als hätte der blöde Kerl versucht, den Bruch selbst zu richten.« Er zwinkerte ihr gutgelaunt zu. »Ihr Lämmchen hält sich anscheinend für besonders hart im Nehmen.«

Rachel fand, es gehöre bestimmt eine ganze Menge Mut dazu, den eigenen gebrochenen Arm zu richten. Sie überlegte, ob der Mann es wohl vor oder nach der Schußverletzung getan hatte. Aber wer hatte auf ihn geschossen? Was war der Grund für das Entsetzen, das sie in seinen Augen gesehen hatte?

Rachel errötete zum zweiten Mal und senkte schuldbewußt den Kopf. Warum machte sie sich so viele Gedanken über diesen Fremden, der an diesem Sonntagmorgen in den Hof getaumelt war und seine blutigen Fußspuren im Schnee hinterlassen hatte?

Rachel konnte das Würgen und Husten im Hof bis ins Schlafzimmer hören. Doktor Lucas Henry erbrach den Whisky, der ihm sauer im Magen gelegen hatte, und versuchte, die Angst abzuschütteln, die dafür verantwortlich gewesen war, daß seine Hände gezittert hatten und sein Lächeln manchmal leicht boshaft gewesen war.

Sie saß in ihrem Schaukelstuhl mit der gedrechselten Rückenlehne, hielt die Hände im Schoß gefaltet und blickte unverwandt auf den jungen Mann in ihrem weißen Eisenbett. Der Arzt hatte mit ihrer Hilfe den gebrochenen Arm in Gips gelegt, das Blut abgewaschen und ihm eines von Bens alten Nachthemden angezogen.

Rachel fand, daß seine Augen nicht mehr so tief in den Höhlen lagen wie zuvor. Seine Lippen hatten einen Hauch Farbe.

Sie hörte das Quietschen der Pumpe im Hof und dann das Spritzen von Wasser. Der Doktor wusch sich jetzt das Gesicht.

Der Mann im Bett lag völlig bewegungslos, doch sie glaubte, an seinem Hals den Puls schlagen zu sehen. Sie glaubte, wenn alles nur still sein würde, könnte sie sein Herz klopfen hören.

Ein Geräusch an der Tür ließ sie aufblicken. Doktor Henry lehnte im Türrahmen. Von seinem vornehmen Auftreten war nichts mehr zu sehen. Die Kleider hatten Flecken, und von den wirren Haaren tropfte Wasser. Im Mundwinkel hing eine Zigarette. Die Zigarette und der Schnurrbart hoben sich etwas, als er mühsam lächelte. »Da sitzen Sie nun und sehen so zufrieden mit sich aus wie ein ... wie ein Schwein in der Suhle.«

Rachel war so froh, daß sie den Arzt anlächelte. »Er wird überleben!«

Der Arzt hob die Schultern. »Diesen einen Tag.« Er zog lange an seiner Zigarette und sah sie durch die Rauchwolke hindurch mit zusammengekniffenen Augen an. »Wilde Kerle wie dieser werden keine Großväter. Die letzte Kugel erwischt sie am Ende doch alle.«

Er schien sich jedoch keine Sorgen darüber zu machen, daß »die letzte Kugel« seinen Patienten treffen könnte. Dieser Doktor Lucas Henry war ein seltsamer Mann. Vermutlich kannte Rachel ihn besser, als er sich das eingestehen mochte. Natürlich kannte sie ihn im Grunde genommen überhaupt nicht. Aber im letzten Jahr hatte sie in diesem Schaukelstuhl neben diesem Bett gesessen und die Hand ihres toten Ehemannes gehalten. Doktor Henry war eine Weile bei ihr geblieben und hatte geredet. Er war geblieben, weil er irgendwie gespürt haben mußte, daß sie, die immer die Stille und das Alleinsein geliebt hatte, beides nicht mehr ertragen konnte. Das meiste, was er an jenem Tag gesagt hatte, waren nur Worte gewesen, um die leeren Ecken des Zimmers zu füllen. Aber manches hatte sie gehört und im Gedächtnis behalten. Er war im selben Jahr, im selben Monat und sogar am selben Tag geboren wie sie. Sie fand das erstaunlich, und es gab ihr das Gefühl einer seltsamen Verbundenheit mit ihm, als müßten zwei Menschen, die zusammen die Reise des Lebens begonnen hatten, auf diesem Weg besondere Sorge füreinander tragen. Sie wußte deshalb auch, daß er wie sie vierunddreißig Jahre alt war.

Jeder hier in Montana hatte irgendwo ein Zuhause zurückgelassen, und sein Zuhause war in Virginia gewesen. In seiner Aussprache hörte sie oft den Nachklang der alten Heimat. Eine Zeitlang war er Arzt bei der US-Kavallerie gewesen.

Diese Dinge und einiges mehr hatte er ihr über sich erzählt, doch etwas anderes hatte sie nur gespürt. Er war ein Mensch, der sich absonderte, jedoch nicht freiwillig so wie sie. Es war vielmehr so, als habe ihn die Welt ausgeschlossen und als würden die Menschen ihn meiden. Zumindest schien er das zu glauben. Wie auch immer, er war ein trauriger und einsamer Mensch.

Sie beobachtete ihn, während er die Silberflasche aus der Tasche holte und einen großen Schluck nahm. »Aus rein medizinischen Gründen«, murmelte er. Diesmal richtete sich sein Spott gegen ihn selbst. »Ich ersetze damit nur einen Teil der lebensnotwendigen Flüssigkeit, die ich gerade verloren habe.« Er wies mit der Flasche in Richtung Bett. »Genau das muß auch mit unserem Revolverhelden dort im Bett passieren. Die Flasche war eine gute Idee! Versuchen Sie, ihn dazu zu bringen, daß er so viel Rindfleischbrühe trinkt, wie Sie ihm einflößen können. Nach ein paar Tagen, wenn er kräftiger ist, geben Sie ihm etwas von diesem schrecklich süßen Rhabarberwein, den ihr hier macht.«

Sie nickte, und erst dann begriff sie schlagartig, was seine Worte bedeuteten. »Ich dachte, Sie würden ihn mit sich in die Stadt nehmen.«

»Nein, es sei denn, Sie wollen, daß all Ihre Mühe mit ihm umsonst war.«

Sie verschränkte die Arme und umfaßte die Ellbogen.

»Aber ...«

»Wechseln Sie den Verband häufig. Ich lasse Ihnen genug Alaun hier. Reinigen Sie um Gotteswillen die Wunde nicht noch einmal mit Terpentin. Er braucht zu allem anderen nicht auch noch Wundblasen. Ich gebe Ihnen statt dessen Karbol. Sorgen Sie vor allem dafür, daß er ruhig liegenbleibt. Er kann es sich nicht leisten, daß es wieder anfängt zu bluten.«

Der Doktor stieß sich vom Türrahmen ab. Er hielt sich vorsichtig aufrecht, ganz besonders jedoch den Kopf, als fürchtete er, ihn zu verlieren, wenn er sich zu schnell bewegen würde. Er ging zum Bett, griff nach der Hand seines Patienten und fühlte ihm den Puls. Rachel sah, daß die Hand des Fremden schmal und lang war und so feingliedrige Finger hatte, daß sie beinahe so zart wie die einer Frau wirkte.

Doch dann schlossen sich die Finger des Arztes um die Hand, und er drehte sie energisch um. »Sehen Sie sich das genau an, Mrs. Yoder. Der Handrücken ist glatt, aber die Handfläche ist völlig kaputt. Jemand muß den jungen Mann irgendwann in seinem Leben brutal mißhandelt haben. Und sehen Sie sich diesen Finger an. Eine solche Schwiele am Abzugsfinger bekommt man nur, wenn man viele Stunden lang das Schießen übt.«

Er legte die narbige und schwielige Hand behutsam auf das Bett und fuhr mit den Fingern über den Handrücken. »An den Gelenken sind Narben von Handschellen. Jemand hat ihm mit der Peitsche den Rücken bearbeitet. Das Gefängnis hinterläßt diese Art von Spuren. Er hat vermutlich schon den ersten Mann umgebracht, noch bevor er richtig entwöhnt war, und ist nie wieder von der schiefen Bahn abgekommen.«

Seine Berührung war wieder eigenartig sanft, als er dem Fremden die Haare aus der blassen Stirn strich. »Ich frage mich, ob er es Ihnen danken wird, daß Sie ihn gerettet haben. Und ich frage mich, warum Sie sich überhaupt die Mühe gemacht haben, denn der Teufel hat ihn bereits fest in den Klauen. Das glauben Sie doch auch, oder etwa nicht?« Er hob den Kopf und sah sie an. Sein Gesicht zeigte eine echte innere Qual, deren Ursache sie nicht einmal erahnen konnte. »Sie und Ihre Leute, ihr unnahbaren Rechtgläubigen, seid ihr so sicher, daß nur ihr gerettet werdet, weil ihr allein das auserwählte Volk Gottes seid?«

Rachel schüttelte den Kopf. Seltsam, sie wollte ihm die nassen Haare aus den Augen streichen, ihn mit der gleichen Sanftheit berühren, mit der er den Verwundeten berührt hatte. »Niemand kann seiner Rettung sicher sein. Wir können uns nur Gottes ewigem Willen unterwerfen und hoffen, daß sich alles zum Besten fügt.«

Er sah sie durchdringend an. Zwischen seinen Augen erschien eine senkrechte Falte, als sei diese Frau ihm ein Rätsel, das er zu lösen versuchte. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, daß er einer der wenigen aus der Stadt war, die, wenn sie die Siedler sahen, nicht spöttisch auf die langen Bärte, Hauben und einfachen Kleider blickten, die in das vorige Jahrhundert gehörten. Sie vermutete, daß Doktor Henry den Frieden in ihren Herzen spüren konnte. Das erschreckte ihn und zog ihn gleichzeitig an.

Plötzlich zuckte er mit den Schultern, als schüttle er die Last seiner Gedanken ab, und lachte. »Wenn man weiß, wie selten sich die Dinge zum Besten wenden, dann könnte ich mir denken, daß in der Hölle großes Gedränge herrscht.«

Er verließ seinen Platz am Bett und begann, sein Besteck einzupacken. Er sagte nichts mehr, außer, daß er in ein oder zwei Tagen wiederkommen und nach seinem Patienten sehen werde. Auch Rachel blieb stumm. Sie blickte nicht länger auf den Fremden in ihrem Bett, auf den rätselhaften Mann mit einer Schwiele am Abzugsfinger und den vernarbten Peitschenstriemen auf dem Rücken.

Sie begleitete den Doktor hinaus in den Hof. Der rauhe kalte Wind preßte ihr den Rock gegen die Beine und spielte mit den langen Schößen seines Gehrocks. Es überraschte sie, daß Benjo immer noch auf dem Heuschlitten stand und die trächtigen Schafe fütterte, denn ihr kam es vor, als müßten inzwischen viele Stunden vergangen sein.

An seinem Wagen angelangt, drehte sich Doktor Henry noch einmal um und blickte auf das Haus. »Der junge Mann da drinnen ...«, sagte er. »Er mag so schön sein wie ein Frühlingsmorgen, aber wahrscheinlich hat er keine Bedenken, alles über den Haufen zu schießen, wenn er nicht gerade halbtot ist.« Er strich ihr mit den Rücken seiner Finger so sanft über die Wange, wie er den Fremden berührt hatte. »Geben Sie acht, kleine Rachel. Die Mächte der Finsternis gewinnen manchmal trotz aller Tugend die Oberhand.«

Wege des Schicksals

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