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Fünftes Kapitel
ОглавлениеDer Fremde stand auf Rachel Yoders Veranda. Er hatte ein Bein angewinkelt, stemmte die Stiefelsohle gegen die Wand und schob lässig einen Daumen in den Patronengurt, der um seine Hüfte hing. Sein Hut warf einen schützenden Schatten über das Gesicht. Er gab sich den Anschein von gleichgültiger Zufriedenheit. Doch in der Luft lag unverkennbar eine drohende Spannung wie vor einem Gewitter an einem heißen Sommernachmittag.
Rachels Schritte wurden langsamer, als sie ihn auf der Veranda sah. Sie war etwas außer Atem, weil sie die Mutterschafe von der Futterkoppel hinaus auf die Weide getrieben hatte. Als er plötzlich mit dem Revolver im Halfter auf der Veranda stand, spürte sie, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte.
Sie durchquerte den tiefen Schatten, den die Scheune warf. Das dünne morgendliche Eis zerbrach unter ihren Schuhen. Am Fuß der Treppe verharrte sie einen Augenblick und musterte ihn vorsichtig. Die Hutkrempe verbarg seine Augen. Der Mund wirkte hart. Sie stieg zögernd die erste Stufe nach oben, blieb aber auf der zweiten bereits stehen.
»Diese eigenwilligen Schafe machen Ihnen das Leben ganz schön schwer, Mrs. Yoder«, sagte er lächelnd.
Sie stieß überrascht die Luft aus. Sie wußte nicht genau, was sie erwartet hatte – einen neuen Ausbruch von Gewalt und Feindseligkeiten vielleicht? Hätte er ihre Gedanken erraten, wäre er vermutlich beleidigt über ihr Mißtrauen gewesen.
Erleichtert trat sie zu ihm. »Manchmal glaube ich, es wäre leichter, den Bach nach meinen Wünschen zu lenken, als diese starrköpfigen Schafe zur Vernunft zu bringen. Ich brauche einen Hund aus Blech.«
Er schob den Hut mit dem Daumen zurück. »Aus Blech? Was ist verkehrt an dem Hund, den Sie haben, abgesehen davon, daß er es offenbar vorzieht, Kaninchen zu jagen, anstatt Schafe zu hüten.«
Sie hob den Draht hoch, an dem die leeren Milchkannen hingen. »Passen Sie auf!« sagte sie und schüttelte die Kannen, die laut klappernd aneinanderstießen. Die Schafe, die sich am Gatter der Weide drängten, machten auf der Stelle kehrt und rannten, so schnell sie konnten, in den Schutz der Pappeln.
Der Fremde lachte. Sie hörte zum ersten Mal seine tiefe, klangvolle Stimme. Rachel staunte wieder einmal über sein rätselhaftes Verhalten. Da steht dieser gefährliche Mann mit dem abweisenden Gesicht. Er hat eine Schußverletzung, den Arm in der Schlinge, einen Colt an der Hüfte, und er lacht wie ein kleiner Junge über einen Haufen dummer Schafe.
Trotzdem mußte sie sich eingestehen, daß er etwas Faszinierendes an sich hatte. Jetzt zum Beispiel wirkte er trotz seiner offenkundigen Schwäche zufrieden und selbstbewußt. Rachel bekam ein flaues Gefühl im Magen, als er die blauen Augen aufmerksam und forschend auf sie richtete. Sie kam sich wieder wie ein kleines Mädchen vor, das wagemutig mit den Knien kopfüber an einem Ast hing und schaukelte.
»Sie sollten im Bett sein, Mr. Kain«, sagte sie ernst, um ihre Verwirrung zu verbergen.
»Wenn ich noch einen Tag länger auf dem Rücken liege und die Astknoten in den Dachbalken zähle, können mich die Wanzen holen.«
»In meinem Bett sind keine Wanzen!«
Er fuhr mit der Hand über die Bartstoppeln am Kinn. Dabei kniff er die Augen etwas zusammen. Vermutlich verbarg er sein Grinsen. »Das behaupte ich nicht, Mrs, Yoder. Das Bett ist sauber, und weich ist es auch. Aber in dem Schlafzimmer ist es langweilig, schrecklich langweilig. Ich gestehe, ich fühle mich dort allein gelassen.« Einsam und allein gelassen. Sie mußte die Hände unter der Schürze falten, um ihre Nervosität zu verbergen. Es war anzüglich und unanständig von ihm, so etwas zu ihr zu sagen. Doch dann fragte sie sich, ob das Unanständige vielleicht nur in ihrem Kopf war. Gab sie seinen Worten vielleicht eine Bedeutung, die sie überhaupt nicht besaßen? Aber jedesmal, wenn er etwas sagte oder tat, wirkte es berechnend. Nur ganz selten einmal hatte sie das Gefühl, daß es von Herzen kam. Sie wollte wissen, was er sah, wenn er sie so durchdringend anblickte, und was er über sie dachte.
Er stieß sich mit dem Fuß von der Hauswand ab und kam über die Veranda, bis er beinahe vor ihr stand. Er war größer, als sie geglaubt hatte, und wirkte vornehm in der enganliegenden Gabardinehose, die er in die glänzenden schwarzen Lederstiefel gesteckt hatte. Er trug über Bens Hemd eine flaschengrüne Weste. Bens Hemd ...
Er bemerkte ihren Blick. »Ich habe alles gefunden bis auf mein Hemd. Also habe ich mir eines von Ihrem Mann genommen. Wenn es Ihnen weh tut, mich darin zu sehen ...«
Sie gab sich einen Ruck und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein. Als ob so etwas wichtig wäre. Ihr Hemd hatte Flecken, und ich mußte es aufreißen. Es ließ sich nicht mehr retten ... Ihr Hemd, meine ich.«
Es war von einer Kugel durchlöchert und von seinem Blut getränkt. Sein Hemd hatte kleine Biesen, perlenbesetzte Knöpfe und einen hohen Kragen. Das Hemd, das er jetzt trug, hatte weder Kragen noch Knöpfe und erst recht keine Biesen.
»Ich fürchte, Sie müssen sich vorübergehend ein wenig wie ein Siedler kleiden, Mr. Kain.«
»Glauben Sie nicht, daß mein Ruf darunter leidet«, erwiderte er mit einem spöttischen Unterton. »Ich bin weit und breit für meine schnelle Anpassungsgabe bekannt.«
Nur mit Mühe unterdrückte Rachel ein Lachen. Er drehte sich etwas unsicher um, so daß er den gesunden Arm ausstrecken mußte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich hier draußen auf einen Stuhl setze? Ich wollte unbedingt ein wenig an die Sonne, aber inzwischen glaube ich doch nicht, daß ich die ganze Zeit stehen kann.«
Als sie am Morgen seinen Verband gewechselt hatte, war die Wunde noch rot und entzündet gewesen. Er hatte zwei Wochen im Bett gelegen und einen großen Teil dieser Zeit hohes Fieber gehabt. Es überraschte sie nicht, daß er sich unsicher auf den Beinen fühlte.
»Sie sollten weder stehen noch sitzen, sondern brav im Bett liegen«, erwiderte sie kopfschüttelnd. »Ich will gar nicht daran denken, was Doktor Henry dazu sagen würde.« Doch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, verschwand sie bereits durch die offene Tür in der Küche, um einen ihrer Stühle mit den gedrechselten Rückenlehnen für ihn zu holen. Wenn er der Welt seine beunruhigende Gegenwart nicht vorenthalten wollte, dann sollte er es lieber auf der Veranda als im Haus tun.
Als sie wieder herauskam, nahm er ihr den Stuhl ab und stellte ihn direkt vor die Hauswand. Beim Setzen schwankte er unsicher, und sie mußte ihm helfen. Er lehnte sich seufzend mit den Schultern an die rauhen Pappelstämme und hielt das Gesicht der Sonne entgegen. Er wirkte seltsam in dieser bäuerlichen Umgebung und so ganz anders als alles, was sie gewohnt war. Schade, daß er sein Hemd ruiniert hatte. Bens Hemd wirkte an ihm wie eine Distel in einem Tulpenbeet.
Rachel wollte es sich nicht eingestehen, aber insgeheim wußte sie, daß es ihr gefiel, ihn dort auf ihrer Veranda sitzen zu sehen.
Rachels Rock bewegte sich anmutig im Rhythmus ihrer Bewegungen, während sie mit dem Rasierpinsel die Seife zu dickem Schaum rührte. Der Fremde blickte von seinem Platz auf dem Stuhl aus besorgt auf ihre Hände. »Sind Sie böse auf mich, Mrs. Yoder?«
Rachel ließ den Rasierpinsel noch schneller kreisen. »Habe ich einen Grund dazu?«
»Zum Teufel, ich weiß es nicht. Man weiß das nie so genau. Nachdem ich die Möglichkeit hatte, über Ihr freundliches Angebot, mich zu rasieren, nachzudenken ...« Er reckte den Hals und fuhr mit der Hand über die Stoppeln unter dem Kinn. »Mrs. Yoder, ich gestehe, daß es nach meiner Erfahrung unklug ist zuzulassen, daß eine wütende Frau etwas Scharfes oder Spitzes in die Hand nimmt.« Er lächelte herausfordernd. »Sie kennen das Sprichwort: ›Ein Mann, der von einer Schlange gebissen worden ist, hat Angst vor einem Seil.‹«
»Ich habe keine allzu große Erfahrung mit Schlangen, Mr. Kain.« Sie wrang das Handtuch aus, das in der Schüssel mit dampfendem Wasser gelegen hatte. »Aber noch bedauerlicher ist es, für Sie natürlich, daß ich möglicherweise wütend bin ...«, sie entfaltete das Handtuch mit einer schnellen Bewegung. »... und ein Rasiermesser in der Hand halte, das scharf genug ist, um Haare zu spalten.« Damit legte sie ihm das heiße Handtuch auf das Gesicht und erstickte seinen erschrockenen Aufschrei.
Um die Wahrheit zu sagen, sie war nervös, obwohl sie einige Übung besaß. Die Männer der Siedler trugen zwar lange Bärte, aber Wangen, Oberlippe und Hals mußten sie trotzdem rasieren. Ben hatte einmal eine so schwere Grippe gehabt, daß Rachel ihn rasiert hatte.
Als der Fremde an diesem Morgen auf der Veranda in der Sonne saß, war ihr aufgefallen, daß er sich wiederholt die Bartstoppeln kratzte. Ohne nachzudenken, bot sie ihm an, ihn zu rasieren. Mit dem rechten Arm in der Schlinge würde er das nie selbst schaffen.
Sie nahm ihm das Handtuch wieder vom Gesicht. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen, als sie Bens Rasiersachen ausbreitete und das Messer langsam an dem glatten Lederriemen abzog. Sie prüfte die Schärfe am Daumenballen und brachte sich bewußt einen kleinen Schnitt bei. Sie verzog das Gesicht und lutschte an der Wunde. Er mußte unwillkürlich schlucken. Scheinbar unbeeindruckt von seinen Befürchtungen, verteilte sie gleichmäßig den Schaum auf dem dunklen Bart. Sie wußte, daß das angenehm war. Die Dachsborsten waren weich wie Babyhaare. Die Seife duftete nach Kräutern, und der warme, feuchte Dampf machte die Haut geschmeidig. Sie wartete, bis er, in sein Schicksal ergeben, langsam die Augen schloß, dann sagte sie nicht ohne eine gewisse Bosheit: »Keine Angst, Mr. Kain, wenn ich sehe, daß Blut spritzt, dann weiß ich, daß ich zuviel abgeschnitten habe.«
Er riß die Augen auf, und Rachel lachte. Sie konnte nicht mehr aufhören. Sie lachte hemmungslos wie schon lange nicht mehr. Und das tat gut, so unendlich gut. So hatte sie nicht mehr gelacht, seit Ben tot war.
Als sie sich wieder beruhigte, versuchte er, den Beleidigten zu spielen, aber es gelang ihm nicht. Seine Augen verrieten ihn. »Haben Sie jetzt genug über meine Feigheit gelacht?«
Sie nickte ernst.
»Dann zeigen Sie mir bitte, wie Sie das Rasiermesser halten. Ich will nur wissen, ob Ihre Hand zittert.«
Sie hielt das Rasiermesser hoch und ließ die Klinge so zittern, daß die Sonnenstrahlen darauf tanzten. Das brachte sie von neuem zum Lachen und ihn ebenfalls.
Das Rasiermesser entfernte fast geräuschlos den Schaum und mit ihm die Bartstoppeln. Es gefiel ihr zu sehen, wie das Messer Abschnitt um Abschnitt die gemeißelten Züge und die glatte Haut seines Gesichts zum Vorschein brachte. Sie hatte ganz vergessen, wie jung er vermutlich war. Er hatte meist etwas Abweisendes, Hartes an sich, das ihn älter wirken ließ, als habe er weit mehr durchgemacht, als sein Gesicht verriet. Sie hatte ihn einmal nach seinem Alter gefragt. Er hatte ihr keine Antwort gegeben und so getan, als wisse er das nicht!
Sie beugte sich tiefer und berührte mit dem Oberkörper seine Schulter. Verlegen wich sie zurück und sah ihn verwirrt an. Aber sein Blick richtete sich nicht auf sie, sondern auf etwas in der Ferne – vielleicht auch auf etwas tief in seinem Innern.
Rachel reinigte gerade das Rasiermesser, als sie sah, daß er ihr Nadelkissen in der Hand hielt.
Als sie sich am Tag zuvor einen Augenblick hingesetzt hatte, um Benjos Socken zu stopfen, hatte er das Nadelkissen entdeckt. Es bestand aus rotem Samt und hatte die Größe eines Holzapfels. Er fragte, ob sie ihm das Nadelkissen eine Zeitlang überlassen könne. Sie konnte sich nicht vorstellen, was er damit anfangen wollte. Erst als er alle Stecknadeln und Nähnadeln herauszog und begann, das Kissen mit der Hand des gebrochenen Arms zusammenzudrücken, begriff sie, was er vorhatte. Er übte beharrlich die Finger der stillgelegten Hand, obwohl sie an seinen zusammengepreßten Lippen sah, daß er dabei Schmerzen hatte.
»Warum tun Sie sich weh?« fragte sie.
Er erwiderte nichts. Wenn es darum ging, Fragen über sich zu beantworten, glich er den Schafen, die bei der kleinsten Bewegung erschrecken und in Panik davonlaufen konnten. Aber sie sah, wie sich sein Blick auf die Kugel richtete, die immer noch neben der Bibel auf dem Nachttisch lag – auf die »beinahe letzte Kugel«, wie er gesagt hatte. Er ließ die Kugel nicht aus den Augen und übte mit dem Nadelkissen die Beweglichkeit seiner Hand.
Sie wusch ihm das Gesicht mit einem sauberen heißen Handtuch. »So, Mr. Kain«, sagte sie. »Einen Moment noch.« Sie beugte sich über ihn und wischte mit einem Zipfel des Handtuchs den letzten Rest Seifenschaum von einem Ohrläppchen.
Er wickelte dabei ein Band ihrer Haube um seinen Zeigefinger und zog leicht daran. »Wozu tragen Sie eigentlich dieses komische Ding die ganze Zeit?«
»Das ist bei uns Siedlern so üblich. Es gehört zur Ordnung, zu den Lebensregeln. Die Haube ist ein Symbol und erinnert daran, daß wir uns immer Gott und den Menschen unterordnen müssen. Die Bibel sagt: »Denn wenn das Weib ihr Haar nicht bedeckt, soll sie wie die Schafe geschoren werden. Deshalb tragen wir unsere Hauben am Tag. Nachts haben wir andere Hauben.«
Sie hatte ihre Nachthaube allerdings nicht immer getragen, solange Ben am Leben war. Er hatte ihre offenen Haare über alles geliebt, und er fühlte sich von ihr verwöhnt, wenn sich die langen Locken um sie beide legten, wenn sie in der Dunkelheit zusammenkamen. Manchmal ließ er die Lampe brennen, damit er sie sehen konnte. Poliertes Mahagoni ...
Rachel hielt es nur für einen kleinen Verstoß gegen die Regeln, die Haube nicht zu tragen, wenn sie mit Ben im Bett lag.
Doch der Blick, mit dem der Fremde sie jetzt ansah, machte sie plötzlich nachdenklich, und sie fragte sich, ob er nicht irgendwie wisse, daß sie ihre Nachthaube meist ihrem Mann zuliebe nicht getragen hatte.
»Wissen Sie, wie ein Präriebrand aussieht?« fragte er, »Wenn die Flammen die Unterseiten der Wolken aufleuchten lassen und sie den Himmel scharlachrot und weinrot färben? Als ich in der ersten Nacht hier die Augen aufgeschlagen habe, lag ich in Ihrem Bett und glaubte, auf eine von Flammen beleuchtete Wolke zu blicken. Ich dachte, es sei ein Traum, aber das waren Sie mit Ihren offenen Haaren.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Warum sollte Gott oder irgend jemand etwas so Schönes verbergen wollen?«
Bei seinen Worten regte sich ein Anflug von Freude in ihrer Brust. Er hatte gesagt, ihre Haare seien hübsch. Aber solche Gefühle waren sündig, eitel und dumm. Rachel Yoder hielt sich schon wieder einmal für etwas Besonderes.
Sie legte das Rasierzeug zusammen. »Wenn ich Ihnen zuhöre«, sagte sie, »vermute ich, daß die Schlange die schwache Eva im Paradies mit ähnlichem Unsinn dazu verführt hat, von der verbotenen Frucht zu kosten.«
Sein Mund verzog sich zu einem übermütigen Lächeln. »Ja, wahrscheinlich.« Er blickte ihr in die Augen, nahm das Nadelkissen in die andere Hand und hielt es hoch, als biete er ihr den Apfel an.
»Aber wahrscheinlich hat ihr der Apfel so gut geschmeckt, daß die Schlange sie überhaupt nicht dazu verführen mußte, ein zweites Mal hineinzubeißen.«
Rachel saß auf den Verandastufen. Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen und den Kopf zurückgelegt. Die Sonne tanzte wie ein roter Ball auf ihren Augenlidern. Der Wind brachte endlich einen Anflug von Wärme. Es roch nach tauender Erde, und daran gab es keinen Zweifel: Frühlingsgerüche lagen in der Luft.
Sie schlug die Augen auf und fühlte sich in den endlosen, leeren blauen Himmel hinaufgehoben, um sich dort auf ewig zu verlieren.
Unwillkürlich drehte sie sich nach dem Fremden um. Er hatte den Stuhl an die Hauswand gestellt und die langen Beine ausgestreckt. Er bewegte sich nicht. Leicht beunruhigt dachte sie daran, aufzustehen und nachzusehen, ob er überhaupt atmete.
Aufstehen mußte sie so oder so! Sie mußte Brot backen, Kleider waschen und sich um die tausend anderen Dinge kümmern, die auf sie warteten. Es war die reine Faulheit, wenn sie in der Sonne saß und ihren Gedanken nachhing. Sie hatte nicht die Entschuldigung einer Schußwunde.
Benjo würde außerdem aus der Schule nach Hause kommen. Vermutlich wäre es besser, wenn der Fremde dann nicht mehr auf der Veranda sitzen würde. Benjo hielt sich von ihm fern, seit er ihn so erschreckt hatte. Für Rachel war das eher angenehm, obwohl sie nicht genau wußte, warum.
Auf der Weide wurden plötzlich ein paar Schafe lebendig und stießen sich unter lautem Blöken mit den Köpfen. Der Hutrand des Fremden hob sich etwas, während er die ausgelassenen Tiere beobachtete.
»Wir haben in diesem Winter kaum Schafe verloren«, sagte sie. Es war eigenartig, aber ausgerechnet sie, der es nie etwas ausgemacht hatte zu schweigen, empfand immer wieder das Bedürfnis, mit ihm zu reden. Vielleicht tat sie es, um seine innere Leere zu füllen. »Richtig schlimm war es nur ein einziges Mal, als es vor ein paar Wochen so heftig und lange geschneit hat.«
Dieser Winter unterschied sich sehr von den anderen, in denen sich die Schaffelle in der Scheune bis zu den Dachsparren gestapelt hatten.
»Es sind hauptsächlich die Schneestürme, bei denen die Schafe umkommen. Sie drängen sich dann so dicht zusammen, daß sie sich gegenseitig erdrücken.«
Er sagte nichts, aber sie hatte das Gefühl, daß er zuhörte.
»Bis auf die Schneestürme mögen die Schafe den Winter. Ihre dicken Felle halten sie warm. Es gibt keine Fliegen, und ohne Rücksicht auf das Wetter erscheinen zweimal am Tag die Zweibeiner und füttern sie mit Heu.«
Sie zog die Knie wieder an und umfaßte sie mit den Händen. Sie beugte sich hinunter, drückte den Mund an die Handgelenke und lächelte über den Gedanken, bevor sie ihn aussprach. »Der Winter ist eine gute Zeit, um ein Schaf zu sein.« Beim Sprechen drehte sie den Kopf um und sah ihn an.
Die Falten um seinen Mund vertieften sich flüchtig. Sie wußte mittlerweile, wann sein Lächeln echt war. Wenn es von Herzen kam, dann zeigte es sich nur daran, daß er ganz schnell die Lippen verzog. Und die Fältchen um die Augenwinkel runzelten sich.
»Sie scheinen sich im Augenblick endlich auch einmal wohl zu fühlen«, sagte er.
Ja, dachte sie und ließ den Blick liebevoll über die Farm schweifen – über die hohen Heuhaufen, die ordentlich gezimmerten Schuppen, in denen die Schafe lammten, und über die hohe Scheune. Ihre Farm war ein guter Platz für Schafe. Es gab viel Gras, einen Bach, der beinahe das ganze Jahr hindurch Wasser führte, und ein breiter Streifen Pappeln und Weiden, die im Sommer Schatten spendeten und im Winter den Wind brachen.
Die Mutterschafe hatten mit dem Blöken und Springen aufgehört und fraßen wieder. Rachel fand es schön, einfach dazusitzen und den Schafen zuzusehen. Sie zogen bedächtig kauend über die Weide und verbrachten grundsätzlich die Zeit so, wie sie es am liebsten hatten. Dabei wuchs das Fell, die kostbare Wolle, und in ihren Leibern wuchsen die Lämmer heran.
Jetzt begreife ich das alte Mutterschaf mit den wenigen Zähnen, dachte Rachel. Das Geheimnis der Tiere ist das stille Glück und das natürliche Wohlbehagen der sanft und gemächlich verrinnenden Zeit.
»Ein Tag wie dieser ist schön, finden Sie nicht auch, Mr. Kain? Man möchte Gott preisen und Ihm dafür danken, daß Er einem das Leben geschenkt hat, um sich an einem solchen Tag zu erfreuen.« Ihre Worte schienen ins Leere zu fallen. Sie drehte den Kopf und sah, wie er den Blick schnell auf die Berge richtete, als habe sie ihn dabei überrascht, daß er sie ansah. Etwas Kaltes schien über sein Gesicht zu zucken. Sie hatte das Gefühl, er habe gerade an etwas sehr Schmerzliches gedacht. Sie wollte zu ihm gehen und ihn trösten. Sie wollte ihm die Hand auf den Kopf legen.
Statt dessen umfaßte sie ihre Knie fester und hielt den Atem an.
»Was hat Sie eigentlich dazu gebracht, sich hier in diesem einsamen Tal anzusiedeln?« fragte er mit belegter Stimme.
»Wie es dazu kam? Das gehört alles zu den wunderbaren und geheimnisvollen Wegen des Himmels. Wir haben als eine größere Gemeinde von rechtgläubigen Siedlern angefangen, die sich im Sugarcreek Valley in Ohio als Farmer niederließen. Aber es kam zu einer Spaltung der Gemeinde, wie Sie es vermutlich nennen würden. Manche von uns hatten das Gefühl, daß die anderen sich durch die Welt vom rechten Weg abbringen ließen. Sie gewöhnten sich an moderne Dinge wie an Blitzableiter und Peitschenhalter am Wagen. Und sie wurden hochmütig. Sie ließen sich zum Beispiel photographieren, hatten Knöpfe an ihren Kleidern, und die Männer trugen Hosenträger. Manche banden sich sogar Halstücher um.«
Er lachte. »Ja, ich habe viele Männer gekannt, die von Halstüchern auf die breite Straße der Sünde geführt wurden.«
»Sie sollten über Dinge, die Sie nicht verstehen, nicht lachen.«
Er machte ein ernstes Gesicht, doch sie wußte, daß er innerlich immer noch lachte.
»Nun ja«, fuhr sie etwas verunsichert fort, »mein Vater hatte eine Offenbarung Gottes.« Sie machte eine Pause, um zu sehen, ob er wieder lachte. Aber er saß nur da und blickte auf die Schafe. »Mein Vater hat dieses Tal im Traum gesehen und uns hierhergeführt. Das heißt, nur diejenigen von uns, die entschlossen waren, die Tradition lebendig zu halten und auf dem geraden und steilen Pfad zu bleiben, der in den Himmel führt. Als beim ersten Gottesdienst in diesem Tal mein Vater durch das Los zum Bischof bestimmt wurde, da wußten wir, es war ein Zeichen Gottes. Es war eine Art Bestätigung dafür, daß er uns an den richtigen Ort geführt hatte. Doch dann stellte sich heraus, daß das Tal wenig Wasser hatte.«
»Das Land liegt sehr hoch, und viel mehr als Gras für Heu kann man hier wohl kaum erhoffen.«
Seine zutreffende Bemerkung überraschte Rachel. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie er hinter zwei Maultieren am Pflug über ein Feld ging. Aber sie konnte es nicht. »Sind Sie Farmer, Mr. Kain?«
»O Gott, nein. In diesem Leben bestimmt nicht mehr.«
Sie wartete, ob er noch mehr sagen werde. Vermutlich wollte er nichts über seine Vergangenheit verraten. Rachel versuchte, sich ihn als Farmer vorzustellen, wie er breitbeinig auf einem Schlitten stand und mit der Gabel hungrigen Schafen Heu fütterte. Doch statt dessen sah sie Ben vor sich.
»Ben, mein Mann, hatte die Idee, es mit Schafen zu versuchen. Obwohl die Bibel oft von ›Hirten‹ und ›Herden‹ spricht und davon, daß Abel, der Sohn Adams, ein Schafhirte war, suchte mein Vater als Bischof und Führer unserer Gemeinde viele Tage lang im Gebet nach einer Antwort, bevor er sich mit dem Gedanken anfreunden konnte.« Sie schwieg und fügte dann erklärend hinzu, als sie sich davon überzeugt hatte, daß er ihr zuhörte: »Wissen Sie, wir waren immer Bauern. Es bedeutete eine große Veränderung, den Pflug an die Wand zu hängen und Schafe zu züchten. Diese Entscheidung war von großer Tragweite und mußte sehr verantwortungsbewußt getroffen werden.«
»Ihr Vater ist offenbar ein standhafter Mensch.«
»Es ist nicht unsere Art nachzugeben. Für uns, die rechtgläubigen Siedler, gibt es nur einen Weg, etwas zu tun, und keinen anderen. Ben hat immer gesagt, Gott hätte uns keinen Verstand gegeben, wenn er nicht wollte, daß wir ihn zum Denken benutzen. Ben besaß die Fähigkeit, die Dinge auch von der anderen Seite zu sehen.« Sie wies auf die Wand hinter ihnen. »Es ist wie das Fenster da drüben. Von dort blickt man immer von der Küche auf den Hof. Aber eines Tages steht man hier auf der Veranda und man blickt durch dasselbe in die Küche. Es ist dieselbe Fensterscheibe, aber man blickt von der anderen Seite hindurch. Das hat Ben getan. Er hat einfach von der anderen Seite durch das Fenster geblickt. Deshalb fanden ihn unsere Leute etwas schwierig.«
Sie wurde traurig und verstummte. Bedrückt schloß sie die Augen und legte die Finger auf die Lippen. Sie wollte nicht vor dem Fremden um Ben trauern. Ben gehörte ... ihr.
Rachel schluckte und atmete langsam und tief. »Ich verstehe wirklich nicht, was mit mir los ist. Gerade eben war ich noch so froh, und jetzt ...« Sie wollte nicht weinen, doch im nächsten Augenblick standen ihr Tränen in den Augen.
»Er fehlt Ihnen.« Seine Stimme war leise.
»Er fehlt mir so sehr, daß ich manchmal ...« Sie zuckte die Schultern und ließ den Kopf sinken.
Er wendete den Blick nicht von den Schafen, als gäbe es nichts Faszinierenderes auf der Welt, als sie beim Fressen zu beobachten. Aber dann fragte er so sanft, daß es Rachel schmerzte: »Wie ist er gestorben?«
Sie verbarg das Gesicht für einen Augenblick in ihren Händen. Dann ließ sie die Hände in den Schoß fallen und ballte sie zur Faust. Sie hatte nie darüber gesprochen, nicht mit ihrem Vater, nicht mit ihrer Mutter und nicht mit einem ihrer Brüder. Nicht einmal mit Noa. Der Herr hat Ben zu sich genommen, darüber waren sich alle einig. Niemand sprach jedoch darüber, auf welche Weise das geschehen war.
»Vergessen Sie meine Frage«, sagte er. »Das geht mich nichts ...«
»Sie haben ihn aufgehängt. Die Anderen haben meinen Mann als Rinderdieb aufgehängt.« Sie sah ihn mutig an und wartete darauf, daß er sagen werde: »Das tut mir leid ...« Statt dessen fragte er: »War er ein Rinderdieb?«
»Ben hätte sich eher beide Hände abgehackt, als etwas zu nehmen, was nicht ihm gehörte!« Ihre Worte klangen scharf, weil der Zorn und die Empörung in ihr nie zur Ruhe kamen, auch wenn sie sich das nie anmerken ließ. »Die meisten der Anderen in dieser Gegend mögen uns nicht, weil wir andere Sitten haben und uns absondern. Deshalb sind sie manchmal auf kleinliche Weise bösartig zu uns. Sie werfen zum Beispiel Feuerwerkskörper in unsere Wagen, wenn wir durch die Stadt fahren, oder die Männer provozieren uns Frauen, indem sie sich mit den Sporen in unseren langen Röcken verhaken. Sie lachen über uns oder beschimpfen uns. Aber meistens ist alles harmlos.« Rachel blickte ausdruckslos vor sich hin. »Allerdings gibt es da einen Rinderzüchter, einen Schotten namens Fergus Hunter. Er hat auf der anderen Seite im Tal eine große Ranch.«
Sie hob den Kopf und starrte auf die steilen, mit Kiefern bewachsenen felsigen Hänge, als könnte sie durch die Felsen hindurch das große weiße Haus mit den vielen Dachgauben und den großen Veranden sehen, die endlosen Weiden und die meilenlangen Zäune, die mit Zederschindeln gedeckten Ställe und die vielen tausend Rinder.
»Das ganze Tal war früher einmal freies Land. Mr. Hunter gewöhnte sich an, seine Herden dort weiden zu lassen, wo immer es ihm gefiel. Er wurde das, was die Zeitungen einen ›Rinderbaron‹ nennen. Er blähte sich in seinem Stolz so auf, daß er von seinen Leuten verlangte, ihn tatsächlich Baron zu nennen, als sei ein König aufgetaucht und habe ihn dazu gemacht.«
»Ich kannte ein Pferd, das hieß Baron.«
Sie sahen sich an und lächelten. Das Leben brachte stets nur Verwirrung. Alles wurde irgendwie von oben nach unten und von vorn nach hinten verdreht und auf den Kopf gestellt.
»Mr. Hunter würde es bestimmt nicht gefallen, wenn er wüßte, daß er ein Pferd als Namensvetter hat«, sagte sie und seufzte dann. »Es hat ihm auch mit Sicherheit nicht gefallen, daß wir Siedler hierhergekommen sind und das Land rechtmäßig erworben haben, das er sich einfach angeeignet hatte. Und es gefiel ihm noch weniger, daß wir anfingen, Schafe zu züchten. In den ersten Jahren versuchte er, uns zu vertreiben. Er brannte unsere Scheunen ab, riß unsere Zäune nieder und vergiftete die Wasserlöcher und Weiden mit Salpeter. Aber als er sich davon überzeugt hatte, daß er uns auf diese Weise nicht vertreiben konnte, ließen seine Grausamkeiten etwas nach. Nach einiger Zeit dachten wir, er hätte sich mit uns als Nachbarn abgefunden, und wir könnten alle in Frieden hier miteinander leben.«
Rachel verstummte. Ihr Gesicht wirkte plötzlich so zart und fast durchsichtig. Sie war eine junge Frau, die sich nach Schutz und Frieden sehnte. Warum nur war ihr gerade das verwehrt, was sie ihrem innersten Wesen nach brauchte?
»Aber vor ungefähr einem Jahr hat er die Grenze seiner Ranch so gezogen, daß sie mitten durch das Tal führte, wie eine Art Linie, die man auf einer Landkarte zieht. Er erklärte diese Grenze zur Todeslinie und sagte zu uns: ›Wenn ihr sie überschreitet, dann bringt euren Sarg gleich mit.‹«
Dem Fremden entrang sich ein kaum hörbarer Seufzer, als habe er die Geschichte schon einmal gehört. »Und ihr habt ihm nicht geglaubt.«
»O doch, wir haben ihm geglaubt. Aber wir haben uns nicht vertreiben lassen, ganz gleich, wie viele Linien Mr. Hunter zog. Es ist nicht unsere Art, Auseinandersetzungen mit den Anderen zu suchen, die uns schaden wollen. Aber in einer feindseligen, brutalen Welt können wir es nicht immer vermeiden, für unseren Glauben leiden zu müssen.«
Der Fremde blickte auf die fernen Berge. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Ein Mann kann den Duft einer Wiese kennen«, sagte er. »Er weiß, was ein erstklassiges Pferd ist, und er liebt eine schöne Frau. Das alles gehört vielleicht zu seinem Leben, ohne daß er es je versteht.«
Seine Worte ernüchterten sie wie kaltes Wasser. Sie kannte ihn nicht, und sie verstand ihn nicht. Vermutlich interessierte es ihn überhaupt nicht, wie ein ehrlicher Schafzüchter den Tod gefunden hatte. Er hörte ihr nur aus reiner Höflichkeit zu. Er wollte auf ihrer Veranda in der Sonne sitzen und mußte demnach auch ihr Gerede über sich ergehen lassen. Doch ihre Geschichte war kein »Gerede«. Es wäre ein Verrat an Ben, über seinen Tod einfach nur zu »reden«, und sie würde ihn nicht verraten, indem sie jetzt seine Geschichte nicht zu Ende brachte.
»Als Mr. Hunter die Todeslinie zog, stellte er auch einen Mann ein, von dem er sagte, er sei sein Aufseher. Er behauptete, viele Kälber würden spurlos verschwinden, noch bevor er sie mit Brandzeichen zu seinem Eigentum gemacht hätte. Der Aufseher sollte dem Rinderdiebstahl ein Ende setzen.« Sie versuchte, geringschätzig zu lachen, brachte aber nur einen erstickten Laut hervor. »Vielleicht hätte sich der Aufseher mit den Rindern von Mr. Hunter unterhalten sollen, denn sie kamen ständig uneingeladen auf unsere Heuwiesen. Im letzten Frühjahr entdeckten wir eines Morgens beim Aufwachen wieder einmal Rinder, die zusammen mit unseren Schafen weideten. Diesmal standen sie jedoch direkt hier vor dem Haus. Ben trieb sie zusammen und wollte sie zurückbringen.«
Es war ihre letzte Erinnerung an ihn. Er saß auf dem alten Wagengaul und ließ das Lasso über den Rindern kreisen, die den Staub im Hof aufwirbelten. Sie rief ihm lachend zu, er sei ein geborener Cowboy, aber Ben lachte nicht. Er ärgerte sich über die Rinder.
»Ben brauste immer schnell auf, aber er kam meist über seinen Zorn ebenso schnell hinweg. Ich nehme an, er ist an jenem Morgen losgeritten, um Mr. Hunter die Meinung zu sagen, weil der Baron seinen Rindern erlaubte, überall im Tal zu weiden.«
Rachel schloß die Augen. Doch sie hatte keine Tränen mehr, die sie hätte unterdrücken müssen. Sie mußte sich mit einer schmerzenden Leere abfinden. In ihr Schicksal ergeben, öffnete sie die Augen und blickte, ohne etwas zu sehen, auf die zerklüfteten steilen, mit Kiefern bewachsenen Hänge, hinter denen die Hunter-Ranch lag, und auf die eine Pappel, die sie nur aus ihrer Vorstellung kannte.
»Doktor Henry hat ihn dann am Nachmittag zu mir zurückgebracht. Er war tot. Sie hatten ihn aufgehängt, weil er die bewußten Rinder, die sich zu uns verirrt hatten, angeblich stehlen wollte.«
»Dafür werden sie früher oder später büßen müssen«, sagte der Fremde so leise, daß sie sich fragte, ob sie seinen Gedanken oder seine Stimme hörte. Vielleicht hatte sie auch nur gehofft, daß er das sagen werde.
Sie nickte und versuchte zu schlucken. Es gelang ihr nicht. Ihre Augen waren so trocken, daß die Lider schmerzten. Die Leere in ihr loderte wie ein Feuer, das von keinem Wasser gelöscht werden konnte.
»Wissen Sie, was Mr. Hunter später gesagt hat? ›Es tut mir leid, Mrs. Yoder.‹ Er kam mit dem Sheriff auf die Farm. Zuerst berichtete mir der Sheriff, wie es zu dem Irrtum gekommen war. Er erklärte, jemand, der glaubt, seine Rinder werden gestohlen, habe das Recht, sie vor Dieben zu schützen. Dann sagte Mr. Hunter, das mit meinem Mann sei eine Tragödie, und er bedaure den Irrtum.«
»Mir scheint, daß Sie dieser Erklärung wenig Glauben schenken und noch weniger von der Entschuldigung etwas halten.«
»Wie auch immer, ich habe Ben verloren.«
Der Fremde blickte auf seine Hand. Er starrte so lange darauf, als müsse es ihm gelingen, durch die Haut hindurch das Fleisch bis auf die Knochen zu sehen. »Sie haben recht. Tot ist tot.« Nein, dachte sie, Ben hat mich verlassen, aber er ist bei Gott.
Die Leere war da, aber etwas anderes würde ihr Leben erfüllen. An den Sonntagen traf sie sich mit der Gemeinde zum Gottesdienst, und anschließend aß man zusammen mit den Nachbarn das gemeinsame Mahl. Sie war nicht allein. Sie hatte Benjo und die Farm. Morgens fütterte sie die Schafe, und nachmittags erfüllte der Duft von frisch gebackenem Brot das Haus. Der Wind in den Pappeln erzählte ihr Geschichten. Und abends saß sie im Schaukelstuhl, bis die Musik kam und sie durch ihre wundersamen Klänge mit der ganzen Natur verband. Ihre Tage und Nächte waren erfüllt von Arbeit, Gebet und Musik. Sie durfte auf die Liebe und Fürsorge all jener vertrauen, die ihr geblieben waren. Vor allem aber war da die unerschütterliche Gewißheit, daß die Zeit Tag für Tag, Jahr um Jahr unmerklich verging.
»Der Tod ist etwas sehr Schmerzliches«, sagte sie laut zu dem Fremden und zu sich, »aber nur für die Lebenden. Die Bibel erinnert uns an das ewige Gesetz. ›Der Herr hat es gegeben, und der Herr hat es genommen.‹ Wenn wir leiden müssen, denken wir nur an das Nehmen und vergessen das Geben. Aber Er gibt uns so viel. Er gibt uns die Schafe, die den Winter lieben, und einen so schönen Tag wie diesen, der erfüllt ist vom Versprechen des Frühlings. Er hat mir die Jahre gegeben, die ich mit Ben zusammen war, und Er hat mir unseren Sohn gegeben.« Sie wußte, daß diese Worte der Wahrheit entsprachen, und doch vermochten sie nicht die Leere zu füllen.
»Ich bringe die Mörder um, wenn Sie das wollen.«
»Wie bitte?« Sie starrte ihn verwirrt an.
Er saß so entspannt auf dem Stuhl, daß er hätte schlafen können. Doch seine Stimme klang schneidend kalt wie die Wintererde. »Ich töte diesen Mr. Hunter und seinen Aufseher, weil sie Ihren Mann gehängt haben.«
Rachel erschrak, denn bei Gott, diese brennende Leere weckte in ihr das Bedürfnis, die beiden Männer für das bezahlen zu lassen, was sie Ben angetan hatten.
»Es gibt keine Rechtfertigung, jemanden zu töten«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Rache steht allein Gott zu.« Alles nur Worte, die nicht halfen, die Leere zu füllen.
Durch seine Worte hatte er in einem einzigen Augenblick das schreckliche Bedürfnis nach Rache in ihr geweckt. Dieser Wunsch war wie seine Pistole – schwarz und gefährlich.
Langsam zog er den Revolver. »Der Herr nimmt, Mrs. Yoder ... aber auch dieser Colt ist dazu in der Lage.« Er richtete den Lauf der Waffe in den Himmel, als wolle er auf die Häher schießen, die über ihnen kreisten.
Sie sprang auf und fiel beinahe die Stufen hinunter, so daß sie sich an das Geländer klammern mußte. »Sagen Sie nicht solche schrecklichen Dinge!«
»Das war nur ein Angebot, denn ich denke, ich schulde Ihnen etwas dafür, daß Sie mich aufgenommen und gepflegt haben.« Er verstummte und fügte dann ruhig hinzu: »Falls Sie Ihre Meinung ändern ...«
»Das werde ich niemals tun!« Ein heftiger Windstoß bauschte ihren Rock, und das Blechdach klapperte. Der Wind war wieder kalt und ohne jeden Anflug von Frühling. Sie legte zitternd die Arme um ihren Oberkörper. »Das werde ich nie tun«, wiederholte sie.
Sie drehte sich um und ging über den Hof. Sie zwang sich, langsam und mit erhobenem Kopf zu gehen. Sie ging bis in die Mitte der Scheune und stand dort mit herabhängenden Armen, ohne zu wissen, weshalb sie hierhergekommen war. Staubteilchen tanzten in dem Sonnenstrahl, der durch das offene Tor fiel. Sie atmete den Geruch von Tieren und Heu ein.
»Das werde ich niemals tun«, sagte sie noch einmal, und es klang wie ein Schwur.