Читать книгу Wege des Schicksals - Penelope Williamson - Страница 4

Zweites Kapitel

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Nichts trieb einem die Tränen schneller in die Augen als der beißende Gestank der Schafe. Obwohl der Wind so heftig wehte und sogar die Rinde von den Bäumen zu reißen drohte, stieg Rachel der ätzende Geruch in die Nase. Die Schafe drängten sich um den Schlitten, blökten und stießen mit ihren knochigen Gesichtern gegen die Latten, während sie oben stand und Gabeln voll Heu hinunterwarf.

Sie stellte sich breitbeinig, um einen besseren Halt zu haben, während Benjo den Schlitten in den gefrorenen Kufenspuren über die Weide fuhr. Die Muskeln ihrer Schultern und Arme taten beim Vorbeugen jedesmal weh, wenn sie das feuchte Heu in die Luft warf. Aber es war ein angenehmer Schmerz. Rachel hatte schon immer die Arbeit im Freien geliebt. Es war schöner als Kochen, Wäschewaschen und die endlosen Pflichten im Haus zu erledigen.

Frauenarbeiten sind eine undankbare Schinderei, dachte sie und bat Gott beinahe gewohnheitsmäßig für ihre sündigen Gedanken um Vergebung.

Benjo zog an den Zügeln, und der Schlitten hielt knirschend an. Rachel stieß die Gabel in einen losen Heuballen und sprang hinunter in den Schnee. Sie zog einen Handschuh aus und wischte sich mit dem Handrücken den juckenden Heustaub von der Stirn.

»Ma ... Ma ... Mama?«

Sie drehte sich um. Die Angst in der Stimme ihres Sohnes erschreckte sie.

Benjo stand neben dem Pferd. Eine Hand hatte er um das Kummet am Hals des Tieres gelegt, als brauche er das Gewicht, um sich am Boden zu halten. Neben der großen Stute wirkte er sehr zerbrechlich. Die dünnen, von der Kälte geröteten Handgelenke ragten aus den Mantelärmeln hervor.

»Mama, dd-d-der Fremde ... ist er ein Gesetzloser?«

Sie trat zu ihm. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie und sah ihn dabei zärtlich an, »vielleicht ...«

»Wird er uns er-er-ersch ...?« Seine Zunge stieß so fest gegen die Zähne, daß sich der Kopf ruckartig bewegte. Die Muskeln an seinem Hals umklammerten das Wort, das einfach nicht hervorkommen wollte.

Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, um ihn zu beruhigen. »Hör mir gut zu.« Sie fuhr ihm sanft durch die wirren Haare und spürte, daß er zitterte. »Der Fremde hat keinen Grund, uns zu erschießen. Wir wollen ihm nichts Böses.«

Benjo legte den Kopf zurück. Seine Augen waren so bleigrau wie die Wolken. Sie sah die Frage in diesen Augen und die unausgesprochene Wahrheit. Die Anderen hatten keinen Grund gehabt, seinen Vater zu hängen, doch Benjamin Yoder war trotzdem auf diese unnatürliche, schreckliche Weise gestorben.

Rachel gestand sich in diesem Augenblick wieder einmal wie so oft in letzter Zeit ein, daß es manchmal sehr schwer war, sich dem Willen Gottes ohne Aufbegehren zu fügen.

Der Mund des Jungen spannte sich, seine Lippen zuckten hilflos, aber dann brachen die Worte ungestüm aus ihm hervor. »Ich werde nicht zulassen, daß er dir etwas tut, Mama!«

Rachel drückte ihn stumm an sich.

Das Schaf stieß mit der schwarzen Nase an Rachels Bein und blökte. »Du sollst das Heu fressen, nicht mich, du dummes Ding!« rief sie lachend.

Es war ein altes Schaf. Es hatte so schlechte Zähne, daß es selbst das weichste Heu kaum noch kauen konnte. Im Grunde genommen hätte es im vergangenen Sommer von der Herde getrennt werden sollen, aber es war immer eine so sanfte, liebevolle Mutter gewesen und hatte Jahr für Jahr kräftige gesunde Lämmer geworfen. Rachel hatte es einfach nicht übers Herz gebracht, das Tier ins Schlachthaus zu schicken, damit es als Eintopf auf einem Eßtisch landen würde.

Das Schaf streckte den Hals vor, hob den Kopf und blickte Rachel mit seinen großen runden und dunklen Augen ruhig an. Rachel stellte sich manchmal vor, sie könnte in diesen sanften Tiefen die Weisheit entdecken, die den Menschen fehlte. Sie glaubte, manche Schafe würden nicht nur alle Geheimnisse der Welt, sondern auch die des Himmels kennen. Das hatte sie einmal zu Ben gesagt, und er hatte sie ausgelacht. In Wirklichkeit, so erklärte er, gehören Schafe wahrscheinlich zu den dümmsten Geschöpfen auf der ganzen Welt.

Rachel mußte unwillkürlich bei diesem Gedanken lachen. Aber dann blickte sie wieder auf das alte Schaf. »Aber du weißt etwas, was du uns nicht verrätst!« sagte sie und kraulte es zwischen den Ohren.

Die Schafe fraßen inzwischen zufrieden das verstreute Heu. Während Benjo Pferd und Schlitten zur Scheune zurückbrachte, liefen Rachel und McDuff zwischen den Tieren über die Weide. Sie betrachtete sich alle Mutterschafe, deren wollene Leiber rund und schwer von den Lämmern waren. Doch es würde mindestens noch einen Monat dauern, bevor sie anfingen zu lammen.

Rachel hoffte sehr, es werde bis dahin etwas wärmer werden. Sie legte den Kopf zurück und blickte in den Himmel, wo die dicken, nassen Wolken drohend dahinjagten. Es würde weiterhin schlechtes Wetter geben.

Der Wind fuhr in heftigen Stößen durch die Pappeln und ließ ihren Rock wie Wäsche auf der Leine flattern. Rachel fühlte sich plötzlich seltsam traurig und einsam. Ben fehlte ihr sehr. Gleichzeitig empfand sie aber auch eine beunruhigende Unsicherheit. Sie war so nervös, als habe sie von Doktor Henrys Whisky getrunken. Sie stand wie angewurzelt im böigen Wind zwischen den Schafen auf der Weide, hatte das Gesicht zu den tiefhängenden Wolken gehoben, und es schien, als habe der Wind einen Teil von ihr losgerissen und in den Himmel hinaufgetragen, wo sie einsam und verängstigt den Gewalten der bedrohlichen Natur ausgeliefert war.

Sie hörte das Wiehern eines Pferdes und dann das Rattern von Rädern auf der Holzbrücke.

Für die Anderen sahen alle Siedler mit den einfachen Planwagen und den schmucklosen altmodischen Kleidern gleich aus. Doch Rachel wußte sofort, wer da kam, schon bevor der leichte Wagen mit der verblichenen braunen Segeltuchplane auf den Hof fuhr. Die Nachbarn und ihre Familie hatten sich bestimmt Sorgen gemacht, als sie Rachel und Benjo nicht bei dem morgendlichen Gottesdienst gesehen hatten, aber sie wußte, daß es Noa Weber wäre, der kommen würde, um nach ihnen zu sehen.

Irgend etwas hielt sie bei dem Anblick des Wagens zurück, und sie blieb stehen. Benjo rannte aus der Scheune und begrüßte Noa. Er berichtete ihm auf seine Weise von dem Fremden mit der Schußwunde, der plötzlich hier aufgetaucht war.

Ein Graupelschauer setzte ein. Der Junge führte Noas Pferd mit dem Wagen in die große Scheune. Rachel schnalzte mit den Fingern, McDuff kam in großen Sprüngen sofort zu ihr, und sie verließ zusammen mit dem Hund langsam die Weide.

Rachel ging nicht frohen Herzens durch Schneematsch und Schlamm auf das Haus zu. Sie hielt den Rücken gerade, aber sie senkte den Kopf. Der unangenehme Eisregen war nur ein Grund dafür.

Noa Weber erwartete sie. Er hatte die Hände in die Seiten gestützt. Der Wind zerrte an seinem langen Bart. Sie blieb vor ihm stehen. Ihre Atemwolken stiegen wie weiße Bänder in die kalte Luft auf, ohne sich zu berühren.

Noa sah sie mit seinen braunen Augen besorgt und liebevoll an. Das vom Wetter gerötete Gesicht mit der großen Nase, der dichte rote Bart, der wie eine Gabel Heu auf seiner Brust lag, war ihr so vertraut, daß sie am liebsten gelacht und ihn zur Begrüßung fröhlich umarmt hätte.

Statt dessen stand sie mit den Händen auf dem Rücken vor ihm. Sie lächelte, aber nur innerlich.

Eine weiße Dampfwolke kam aus seinem Mund, als er sie schließlich fragte: »Na, wie geht es unserer lieben Rachel?«

»Ich habe vom Frühstück noch Pfannkuchen übrig ...«

Er lachte, und so schenkte sie auch ihm ein Lächeln, aber sie senkte danach sofort wieder den Kopf und blickte auf den Boden.

Sie gingen nebeneinander zur Haustür. Der Wind trieb ihnen die Graupelkörner ins Gesicht.

Das Lampenlicht hinter dem Küchenfenster ist wie ein Leuchtfeuer, dachte Rachel, das den Weg nach Hause weist.

Draußen auf der Weide im stürmischen Wind unter dem weiten Himmel hatte sie sich einsam und verloren gefühlt. Jetzt stellte sich das Gefühl von Sicherheit wieder ein. Neben ihr ging Noa, und das Haus mit der warmen Küche gehörte ihr.

Der Wind riß Noa beinahe den Hut vom Kopf. Er konnte ihn gerade noch festhalten, bevor er davonflog. »Es wird etwas wärmer«, sagte er, und Rachel lachte. Nur jemand wie Noa Weber konnte dem Winter in Montana etwas Gutes abgewinnen.

Er hörte sie lachen und verzog etwas verlegen die Lippen. »Ich wollte sagen, es könnte schlimmer sein. Es könnte schneien.«

»Es könnte auch ein Schneesturm kommen. Und wahrscheinlich wird es auch so sein. Der Frühling läßt wie immer lange auf sich warten.«

»Fang nicht an, dich über das Wetter zu beklagen!« Er blieb stehen. »Warte einen Augenblick.« Er lehnte sich an das Geländer der Veranda, bückte sich schwerfällig und schnürte seine derben Schuhe mit den dicken Sohlen auf. »Meine Schuhe sind voller Stallmist.«

Er mußte sich beeilt haben, um sofort nach dem Gottesdienst und den notwendigen Arbeiten auf der Farm zu ihr zu kommen, das heißt, soweit sich Noa überhaupt beeilen konnte. Er war ein langsamer Mann mit langsamen Bewegungen, langsamen Gedanken, Worten und Taten. Er brauchte Zeit, um mit sich selbst ins reine zu kommen, doch wenn das geschehen war, konnte ihn nicht einmal ein explodierendes Faß Schießpulver davon abbringen, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte.

Er stapfte mit seinen großen Füßen wie ein Bär in ihre Küche. Er fühlte sich dort wie zu Hause. In dem derben Rock, der weiten Hose aus braunem Sackleinen und dem breitkrempigen Filzhut schien er fraglos der Herr im Haus zu sein. Die langen, struppigen Haare und der lange Bart gehörten ebenso dazu wie der große Zeh, der aus einem Loch im Strumpf ragte. Als sie es sah, versetzte ihr das einen Stich. Noa braucht eine Frau, die für ihn sorgt, dachte sie.

Sein Blick glitt bedächtig vom Spülstein zum Herd und dem Wandschirm, hinter dem der Badezuber stand. Sie vermutete, daß er den Fremden suchte. Er schien wohl in aller Unschuld zu glauben, daß der Mann beim sonntäglichen Abendessen am Tisch saß. Schließlich fragte er: »Wo ist er denn ... der Englische?« Seine Lippen verzogen sich bei dem Wort, als habe es einen schlechten Geschmack.

Sie sprachen deitsch, das alte Bauerndeutsch ihrer Vorfahren, denn die rechtgläubigen Siedler benutzten die englische Sprache nur in Anwesenheit der Anderen. Trotzdem mußte sich Rachel zwingen, den Finger nicht an die Lippen zu legen, so als könnte der Fremde Noas abschätzige Bemerkung hören.

Sie ging schweigend vor ihm her in das Schlafzimmer. Der Fremde schlief, ohne sich zu bewegen. Die lange schmale Hand mit der vernarbten Handfläche und dem schwieligen Finger lag locker auf der Decke. Wie jedesmal stockte ihr der Atem, als sie sein Gesicht sah. Es war nicht die Art der Siedler, körperlicher Schönheit Bedeutung beizumessen. Aber Rachel konnte nicht umhin, diesen Mann zu bewundern.

Sie spürte, wie Noa neben ihr erstarrte. Er kniff die Augen zusammen, und sie wußte, daß er in dem Fremden nur jemanden sah, der ungebeten und unerwünscht in ihrer beider Leben, in das abgeschiedene Leben der Siedler gekommen war. Er sagte jedoch nichts, bis sie sich wieder in der Küche gegenüberstanden. Allerdings lächelte diesmal keiner von beiden.

Er hob unvermittelt den Kopf und drehte ihn zur Seite, als wolle er mit dem Bart auf etwas weisen. »Er liegt in ... in deinem Bett, Rachel?« fragte er ungläubig.

»Er hat eine Schußverletzung und war kurz davor zu verbluten. Was sollte ich denn mit ihm machen? Hätte ich ihn wie einen alten Sack in die Ecke werfen sollen?«

»Habe ich das gesagt?«

Der sanfte Vorwurf in seinen Augen schmerzte sie.

»Tut mir leid, Noa. Ich nehme an, ich bin einfach ...«

Müde, einsam und verängstigt. Es kam ihr vor, als stehe sie wieder draußen im Wind auf der Weide und verliere sich irgendwo am Himmel.

Noa zog seinen grob gewebten Rock aus und hängte ihn über den Kleiderhaken an der Wand. Er nahm den Hut ab und streckte die Hand aus, um ihn ebenfalls aufzuhängen, hielt aber dann mit dem Gesicht zur Wand und dem Hut in der Hand inne, als müsse er seine Gedanken ordnen und seine Worte sorgsam wählen. Als er sich schließlich umdrehte, war er ganz der Diakon mit dem ernsten Blick und einem strengen Mund. Als Diakon Weber war es seine Pflicht, darauf zu achten, daß jeder der Gemeinde den geraden und schmalen Weg ging, der in den Himmel führte.

»Der Englische da drinnen ...« Wieder wies er mit dem Kinn auf die Schlafzimmertür, als verdiene der Mann nicht mehr als eine wegwerfende Geste. »Er ist ein Sünder. Ich sage dir, was er gesehen hat, was er getan hat, ist nicht gut. Er hat sich mit der sündigen Welt besudelt und sich dem Bösen verschrieben.«

»Du kennst ihn nicht.«

»Was weißt du über ihn?«

Rachel konnte darauf nichts erwidern. Das wenige, was sie über den Fremden wußte – die Schwiele am Abzugsfinger, die Narben von den Handschellen, die Male der Peitschenstriemen auf dem Rücken, die Schußwunde –, all das entsprang der Sünde. Es sprach deutlich von dem, was er anderen zugefügt hatte, und gehörte zu dem, was man ihm angetan hatte.

Noa sah sie unverwandt an. Die Falten in seinem Gesicht wurden tiefer. Rachel erwiderte seinen Blick mit hoch erhobenem Kopf. Das Schweigen lastete auf ihnen und wirkte durch das Trommeln der Graupelkörner auf dem Blechdach noch lauter und bedrohlicher.

Sie wandte sich ab und ging zum Herd. Mit der Gabel legte sie ein Stück Pfannkuchen auf einen Teller, schüttete Hirsesirup darüber und trug ihn zusammen mit einem Blechbecher zum Tisch. Dort blieb sie mit dem Teller in der Hand stehen. Das, was sie gleich tun würde, verursachte ihr einen bitteren Schmerz in der Brust. Sie tat es trotzdem: Sie stellte bewußt den Teller auf Bens Platz am Kopfende des Tischs.

Sie spürte, daß Noa sich bewegte, blickte auf und stellte fest, daß er sie fragend ansah. Schnell drehte sie den Kopf zur Seite und ging zum Herd, um die Kaffeekanne zu holen.

Als sie an den Tisch zurückkam, saß er bereits und hatte den Kopf im stummen Gebet geneigt. Sie dachte an die vielen Male, die sie neben dem Tisch gestanden und auf Bens Kopf mit den schwarzen Haaren hinuntergeblickt hatte. Noas Schultern waren breit und kantig wie ein Amboß. Sie spannten die Nähte seines derben Hemdes. Sein ganzer wuchtiger Körper füllte die Küche aus. Aber er hatte keine dunklen Haare. Sie waren rostbraun, hatten die Farbe von Bratäpfeln.

Als Kinder waren sie, Ben und Noa gute Freunde gewesen. Erst jetzt, wenn Rachel an diese Zeit zurückdachte, erschien es ihr seltsam, daß zwei so wilde Jungen ein scheues, mageres Mädchen, das drei Jahre jünger war, bei ihren Spielen mitmachen ließen. Vielleicht war sie das gewesen, was Sehnen für Knochen und Muskeln sind. Sie hatte die beiden zusammengehalten. Schon als Kinder waren die zwei sehr unterschiedlich gewesen: Noa langsam, beständig und in seinem Verhalten vielleicht ein wenig steif, Ben dagegen unbekümmert und zu Streichen aufgelegt. Er lachte oft und wurde ebenso schnell wütend.

Sie goß aus einer verbeulten blaugepunkteten Kanne Kaffee in Noas Becher. Er aß schweigend, wie es Sitte war, und blickte dabei auf die bemalten Tonteller auf dem Bord an der Wand. Die Teller gaben ihr das Gefühl, einen Regenbogen in der Küche zu haben. Rachel hatte sie selbst bemalt und sich dabei Wildblumen zum Vorbild genommen, mit denen das Tal im Frühling übersät war. Sie hatte ein Dutzend Teller bemalen wollen, aber nach dem fünften aufgehört, als Noa ihr erklärt hatte, daß sie das, was sie da tat, mit sündigem Stolz erfüllen würde. Außerdem würden ihr die Tonteller zu großes weltliches Vergnügen bereiten. »Bemalter Ton ist nicht annähernd so nützlich wie Blech«, hatte er gesagt. »Wer bemalte Teller hat, folgt nicht dem geraden und schmalen Weg, der in den Himmel führt.«

Ben war damals wütend auf Noa gewesen. »Hat nicht Gott ein paar Dinge nur deshalb geschaffen, weil sie hübsch sind?« schrie er Noa so laut an, daß die Teller klapperten. Aber sie gab nach dieser Zurechtweisung das Malen auf.

Noas Gabel klirrte leise, als er sie auf den Teller legte, der nicht aus bemaltem Ton war, sondern aus Blech. »Der Junge hat gesagt, der Arzt sei hiergewesen und habe sich um den Fremden gekümmert.«

»Er hatte eine Kugel im Körper, die herausgeholt werden mußte.«

Noa nahm den Kaffeebecher in die Hand, stellte ihn aber wieder ab. »Du hast den Arzt kommen lassen, und es ist kaum ein Jahr her, seit das ... das mit Ben passiert ist.«

»Seit Ben gestorben ist.«

»Ja, das meine ich. Aber sei vorsichtig, ehe es dir bewußt wird, ist der Arzt in dein Leben verwickelt – in dein Leben und das des Jungen. Das kann nicht gut sein.«

»Es ist kaum wahrscheinlich, daß er anfangen wird, uns Höflichkeitsbesuche abzustatten.« Sie seufzte. Noas steife Art machte sie plötzlich ungeduldig. »Lucas Henry ist kein schlechter Mann, wirklich nicht. Er lacht über heilige Dinge, aber doch nur, weil er in seinem Herzen leidet.«

»›Du kannst nicht aus dem Becher des Herrn trinken und aus dem Becher des Satans. Du kannst nicht am Tisch des Herrn sitzen und am Tisch des Satans.‹«

Rachel schluckte und schwieg. Wenn Diakon Weber die Heilige Schrift zitierte, mußte er wirklich am Ende seiner Geduld sein.

Er hob den Finger, als sei sie ein Kind, mit dem er schimpft. »Eines Tages gehst du zu weit, Rachel. Ich prophezeie dir, du wirst die gerechte Strafe für deinen Eigenwillen und deinen Stolz bekommen.«

Sie senkte den Kopf. Sie verstand die Warnung. Wenn sie nicht gehorchte, würde er sie zwingen, vor der ganzen Gemeinde auf die Knie zu fallen und ihre Sünden zu bekennen. Rachel war sich jedoch nicht sicher, ob sie es je über sich bringen würde, so etwas zu tun, selbst wenn es für ihre unsterbliche Seele war.

»Ben hat das immer getan«, fuhr Noa fort. »Er hat immer versucht herauszufinden, wie weit er gehen kann. Er wollte bis an die Grenzen des Erlaubten stoßen. Das war für seine Seele schlimm genug, aber er hätte dich nicht ermutigen dürfen ...«

Sie hob energisch den Kopf. »Ben war ein frommer und gottesfürchtiger Mann!«

Noa schwieg einen Augenblick und preßte die Lippen fest zusammen. Dann seufzte er und zog an seinem Bart. »Ach, ich wollte nur sagen, daß dieser Arzt für dich nie ein wahrer Freund sein kann.«

»Das ist er nicht. Er ist, was er ist. Ich kann keine Schußwunde heilen. Deshalb ist er gekommen, aus keinem anderen Grund. Er ist nicht mein Freund.«

Doch sobald sie das gesagt hatte, überkamen sie Schuldgefühle. Es war keine Lüge, aber irgendwie leugnete sie die Wahrheit. »Dieser Arzt« hatte Bens Leiche abgeschnitten und zu ihr nach Hause gebracht. Er hatte das leere Zimmer mit seinen tröstlichen Worten gefüllt. Er hatte sie in die Arme genommen, sie hatte ihr Gesicht an die teure Moireeseide seiner eleganten Weste gedrückt und sie mit ihren Tränen befleckt. Sie und Doktor Henry Lucas ... sie waren vielleicht keine Freunde, aber sie bedeuteten einander etwas.

Sie hörte, wie Noa tief Luft holte. Sein Blick richtete sich auf den Schmalztopf und das Salzfäßchen in der Mitte des Tischs. Er stützte sich auf die Ellbogen zu beiden Seiten des leeren Tellers.

»Rachel.« Er nahm den Teller und hielt ihn mit beiden Händen fest. Er sah sie so fest an, als habe er ihren Blick ebenfalls im Griff. »Du hast mein Essen an Bens Platz gestellt. Das hat mich glauben lassen, daß ...«

»Ich habe es nicht absichtlich getan«, unterbrach sie ihn schnell, bevor er fortfahren konnte, denn Worte, die einmal ausgesprochen waren, ließen sich nicht zurücknehmen. Was sie gerade gesagt hatte, war gelogen, mochte Gott ihr verzeihen. Aber durch die Aufforderung, sich an den Platz ihres gestorbenen Ehemanns zu setzen, hatte sie Noa Weber indirekt gesagt, sie sei bereit, ihm in ihrem Herzen und in ihrem Bett einen Platz einzuräumen. O ja, sie hatte daran gedacht und dementsprechend gehandelt, aber jetzt wollte sie alles wieder ungeschehen machen.

Noa stellte den Teller ab und griff nach ihrer Hand. »Ich weiß, was du denkst. Aber durch das, was du getan hast, bist du ihm nicht untreu geworden. Er ist seit beinahe einem Jahr von uns gegangen. Vergiß nicht, der Junge braucht die feste Hand eines Vaters, die ihn leitet.«

Die Gemeinde sah es nur mit großer Mißbilligung, wenn eine Frau eigene Wege ging und keinen Ehemann hatte, dem sie treu ergeben folgte, denn in der Bibel stand geschrieben: »Das Oberhaupt der Frau ist der Mann.« All das und noch vieles mehr waren gute Gründe dafür, daß sie Noa Webers Ehefrau werden sollte.

Als sie jung waren, hatte es so ausgesehen, als würden sie, Noa und Ben immer zusammenbleiben und das ganze Leben teilen. Rachel fand das ganz natürlich, denn die Zeit hier in Montana verging so gleichförmig. Es gab im Grunde keine Brüche oder einschneidenden Veränderungen. Aber dann war der Tag gekommen, als Noa Weber sie zum ersten Mal geküßt hatte, und Rachel begann zu begreifen, daß die drei Freunde nicht immer in der Lage sein würden, alles miteinander zu teilen.

An diesem Tag war Noa auf dem Heuboden in der Scheune seines Vaters gewesen und hatte einen Wagen mit Heu beladen. Sie hatte versucht, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen und ihm von rückwärts einen Stoß zu versetzen. Doch in letzter Sekunde hatte er nach ihr gegriffen, ihren Schürzenzipfel zu fassen bekommen, und sie war mit ihm hinunter ins Heu geflogen. Einen Augenblick lang hatte sie lachend auf dem Rücken gelegen. Die Halme hatten sie in der Nase gekitzelt und das Sonnenlicht geblendet. Dann hatte sein Kopf die Sonne verdeckt und seine Lippen sich auf ihre gelegt.

Sie konnte sich immer noch daran erinnern, wie sie sich bei diesem Kuß gefühlt hatte. Sie begann, vor Aufregung und Angst zu zittern. Sie hatte damals den merkwürdigen Wunsch verspürt, er möge sie noch einmal küssen. Und gleichzeitig hatte sie gewollt, daß Ben sie ebenfalls küssen würde, damit sie feststellen könnte, ob sie dabei genau dasselbe empfand.

Also hatte sie Ben später gesucht und ihn an dem Teich gefunden, wo sie immer angelten. Er schlief am Ufer, obwohl er eigentlich seine Pflichten hätte erledigen sollen. Er lag im Gras auf dem Bauch. Sein Kopf ruhte auf den Armen. Es war ein heißer Tag, und das schweißnasse Hemd klebte ihm am Rücken. Sie sah die gewölbten Schultermuskeln und seine Rippen, die über der schmalen Hüfte endeten. Sie bemerkte, wie sich der Rücken einer Schüssel gleich nach oben wölbte und in die straffe harte Rundung seines Hinterns überging. Er hatte die Hosenbeine bis zu den Knien hochgerollt. Sie stellte fest, daß seine Waden fest waren und eine Kurve beschrieben wie eine Pflugschar und mit feinen dunklen Haaren bewachsen waren. Sie konnte sich nicht daran erinnern, diese Dinge früher an ihm wahrgenommen zu haben.

Verwundert und leicht benommen setzte sie sich neben ihn ins Gras und sah ihn lange an. Dann streckte sie langsam die Hand aus und berührte seine schwarzen Haare, die sich über dem Hemdkragen wellten.

Er schlug die Augen auf und lächelte sie an.

»Noa hat mich auf den Mund geküßt«, flüsterte sie.

Er hörte auf zu lächeln, und auf seiner Stirn erschien eine senkrechte Falte. Er setzte sich schnell und geschmeidig auf, wie es seine Art war, legte den Kopf etwas schief und musterte sie. »Dagegen habe ich nichts«, sagte er schließlich. »Wenn du es dabei beläßt. Und solange du nicht vergißt, daß du mich heiraten wirst.«

Sie schnitt eine Grimasse. »Findest du nicht, daß ich dabei auch ein Wort mitzureden habe, Benjamin Yoder?«

Er beugte sich so weit vor, daß ihre Gesichter nur um Haaresbreite voneinander entfernt waren. Es schien, als würden sich ihre Lippen im nächsten Augenblick berühren.

Sie spürte die Wärme seines Atems, als er sagte: »Ja, Mädchen, ich glaube schon, daß du dabei ein Wort mitzureden hast. An dem großen Tag, an dem ich dich frage, wirst du ›ja‹ sagen.«

Irgendwie lagen seine Hände auf ihren Armen, und er zog sie noch näher zu sich heran. Ihre Lippen schienen sich ihm von selbst zuzuneigen. Sie hörte ein eigenartiges Stöhnen so wie das Geräusch, das der Wind macht, wenn er durch die Dachsparren einer Scheune fuhr, und dann wußte sie, daß der Laut von ihr kam.

Er ließ sie jedoch so plötzlich los, daß sie rückwärts auf die Ellbogen fiel. Er hatte sie losgelassen, ohne sie überhaupt geküßt zu haben. Sie sah zu, wie er seine Angel und den Fischkorb aufhob und fröhlich davonging, während sie mit brennendem Mund dalag, sich nackt vorkam und dachte: Ich hasse ihn, obwohl sie bereits wußte, daß sie ihn hoffnungslos liebte.

Und Noa, der liebe Noa hatte es auch schon immer gewußt. Jetzt, so viele Jahre danach und so viele Erinnerungen später, blickte sie auf Noa Weber, und seine dunklen braunen Augen erwiderten ihren Blick, sahen sie forschend an und versuchten, in ihr Herz vorzudringen.

Im Laufe der Jahre hatte sie so oft erlebt, daß diese Augen ihren Blick erwiderten. Sie waren traurig und hoffnungslos gewesen an dem Tag, an dem sie vor Gott und der Gemeinde einen anderen zum Ehemann genommen hatte. Sie waren leer vor Angst gewesen in der Nacht, in der seine eigene Frau im Kindbett gestorben war. Sie waren in jenem Sommer dunkel vor Verzweiflung gewesen, als die meisten seiner Schafe Kamasskraut gefressen hatten und verendet waren. Sie hatten unzählige Male geglänzt und geleuchtet in der Verzückung beim Gebet.

Und nun strahlten diese Augen wegen ihrer albernen unbedachten Geste vor Hoffnung so hell wie Weihnachtskerzen.

Gewiß, sie konnte sich vorstellen, mit ihm zu leben. Sie sah ihn abends so wie jetzt am Tisch sitzen, während sie über den vergangenen Tag sprachen und den nächsten planten. Sie konnte sich vorstellen, wie sie mit Noa im Stroh kniete und sie zusammen lachten, während sie das Wunder der Geburt eines Lammes beobachteten. Sie konnte sich vorstellen, daß sie während der Predigt seinen Blick auffing, und sie beide lächelten – nun ja, das vielleicht doch nicht, denn ein Diakon konnte sich nicht erlauben, während des Gottesdienstes seine Gedanken abschweifen zu lassen.

Doch wenn sie sich vorstellte, daß sie mit ihm ins Schlafzimmer ging, sich seinetwegen auszog, spürte, wie sich sein Gewicht auf sie senkte, und hörte, wie er stöhnte, wenn er ...

Rachel mußte tief Luft holen, um den Druck in ihrer Brust loszuwerden. Sie entzog ihm die Hand und griff nach seinem leeren Teller. Aber er hielt sie am Handgelenk fest.

»Rachel ...«

»Noa, sprich bitte nicht weiter. Ich bin einfach noch nicht bereit, mir mehr anzuhören.«

Er ließ sie los und stand auf. Sein Gesicht war leer und ausdruckslos, als er den Rock anzog und den Hut aufsetzte. Aber an der Tür blieb er stehen, und als er sich umdrehte, sah sie, daß er wieder soweit war, den Diakon hervorzukehren und ihr noch eine Predigt zu halten, die sie nicht hören wollte. Sie wandte ihm entschlossen den Rücken zu und trug Teller und Becher zum Spülstein.

»Ach ja, unsere Rachel«, sagte er. Sie reagierte nicht. »Ich weiß«, fuhr er fort, »daß du sagen wirst, da der Englische hier angeschossen und blutend aufgetaucht ist, kann es nicht Gottes Wille gewesen sein, ihn sterben zu lassen. Und damit hast du sicher recht. Siehst du«, fügte er hinzu, und es klang, als wolle er sie necken, denn ihre Schultern hatten bei seinen Worten gezuckt, »ich billige dir sogar zu, daß du hin und wieder recht hast.«

Sie hörte, wie er einen Schritt näher kam. Sie erstarrte, ohne sich umzuwenden. »Aber wir rechtgläubigen Siedler haben uns nicht umsonst von den Dingen ferngehalten, die die Seelen verderben. Ich weiß, Ben war der Meinung, wir sollten Veränderungen gegenüber nicht immer blind sein, wir sollten der Welt und den Menschen nicht immer den Rücken kehren. Aber das war falsch von ihm, und jetzt hat er dich dazu gebracht, daß du denkst, du könntest ...«

Sie warf den Blechteller mit lautem Geklapper in den Spülstein und drehte sich heftig um. »Hör auf, Ben für mein Verhalten die Schuld zu geben!«

Das überraschte ihn so sehr, daß sein Gesicht über dem Bart rot anlief. Er sah sie an, als habe er sie noch nie gesehen, als sei sie nicht die Rachel, die er sein ganzes Leben lang kannte.

Sie griff sich an die Stirn und stellte fest, daß eine Haarsträhne unter der Haube hervorhing, und schob sie ungeduldig zurück unter den gestärkten weißen Batist. Diese Geste hatte sie im Laufe der Jahre unzählige Male gemacht, und Noa lächelte gegen seinen Willen.

»Ach Rachel.« Er seufzte und lachte leise, schüttelte den Kopf und betrachtete die Zehe, die sich durch seinen Strumpf gebohrt hatte. »Du änderst dich nie. Selbst Ben konnte dich weder im Guten noch im Schlechten ändern.«

Er wandte sich ab, drehte sich dann aber noch einmal zu ihr um. »Ich habe beim Kommen gesehen, daß du nicht mehr viel Holz hast. In ein oder zwei Tagen schicke ich meinen Jungen mit der Axt herüber.«

Ihr Lächeln war etwas unsicher. »Das wäre sehr nett. Das heißt, wenn Moses die zusätzliche Arbeit nichts ausmacht.«

»Der Junge tut, was ich ihm sage«, erwiderte Noa und war plötzlich wieder ganz streng und förmlich.

Er wartete, aber sie hatte ihm nichts mehr zu sagen oder brachte zumindest nicht die Worte über die Lippen, die er hören wollte. Das Schweigen hing schwer und kalt zwischen ihnen, und nachdem es einen Augenblick zu lange gedauert hatte, drehte er sich um und ging.

Sobald sich die Tür hinter seinen breiten Schultern geschlossen hatte, trat sie ans Fenster. Die Graupeln lagen wie ein Mantel aus Eis auf dem schlammigen Vorplatz, und der Wind wehte stürmisch. Sie beobachtete, wie er das Pferd mit dem Wagen aus der Scheune führte und auf den Sitz kletterte. Aber er fuhr nicht sofort los. Er saß da, hatte die Schultern wie zum Schutz gegen das Wetter hochgezogen und hielt mit einer Hand seinen Hut fest.

Sie wollte zu ihm gehen und ihm den Schmerz darüber nehmen, daß sie ihn verletzt hatte. Sie wollte zu ihm gehen und sagen: »Ich werde dich heiraten, mein lieber Noa. Dann hast du, was du schon immer haben wolltest, und ich habe ... wenn ich Ben nicht haben kann, wenigstens einen Ehemann, der mir lieb und der mein Freund ist.«

Rachel wollte auf den Hof laufen und ihm das alles sagen. Doch obwohl sie ihm hinterherblickte, bis sein Wagen hinter dem Hügel verschwunden war, bewegte sie sich nicht von der Stelle. Das Haus war still bis auf die Hagelkörner, die gegen die Fensterscheiben trommelten, und das Stöhnen der Wände, die unter dem Aufprall der Windstöße bebten.

Der Hagel prallte immer noch an die Scheiben und trommelte auf das Blechdach, und der Wind wimmerte im Ofenrohr, als Rachel spät am Abend das braune Schultertuch und die Schürze abnahm und die Nadeln in den breiten Gürtel der Schürze steckte. Sie zog auch die oberste Nadel des Mieders heraus und löste die starren Bänder der Gebetskappe. Sie bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, um nach dem langen Tag den schmerzenden Nacken zu lockern.

Sie nahm die Haube ab und legte sie an ihren Platz auf dem Bord unter dem Fenster. Als sie aufblickte, sah sie ihr Spiegelbild im nachtschwarzen Glas. Die Frau, die ihr entgegenblickte, war überhaupt nicht Rachel, sondern eine Fremde mit wirren, langen Haaren, die ihr über die Schulter fielen.

Sie setzte sich in den Schaukelstuhl, dessen Binsensitz unter ihrem Gewicht leicht knirschte. Der Fremde lag in ihrem Bett. Er war eine stumme Ansammlung von Hügeln und Tälern unter der Steppdecke. Die Steppdecke war verziert mit einem riesigen weißen Stern, der sich über einen mitternachtsblauen Hintergrund ausbreitete. Im trüben Licht der Lampe wirkte der Stern schartig und zerbrochen, als sei er vom Himmel gefallen und geborsten.

Das Öl in der Lampe brodelte leise. Es war ein gemütliches, tröstliches Geräusch. Sie würde zu Benjo gehen, obwohl sie wahrscheinlich den Hund vom Bett verjagen mußte, um Platz zu haben. Ihr Kopf juckte wie so oft, wenn sie die gestärkte Haube einen Tag lang getragen hatte. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, rieb die Kopfhaut und gestattete sich den Genuß, hemmungslos zu kratzen.

Sie würde gehen. Gleich ...

Sie stieß mit einem leisen Seufzen den Atem aus und ließ den Kopf nach hinten sinken. Dann wehrte sie sich nicht länger und ließ zu, daß die Musik kam.

Zu dem Trommeln des Regens auf dem Blechdach gesellte sich in einem anderen Rhythmus ihr Herzschlag. Der Wind pfiff schrill wie eine Flöte. Die Holzwände stöhnten, und die tiefen Baßtöne ließen sie erbeben.

Die Musik wurde wilder. Abgerissene Trompetenstöße begleiteten helle Zimbeln, die durch ihr Blut jagten. Sie zitterte, erschrocken über die Gewalt der donnernden Akkorde. Wogende Lichtbänder zuckten hinter ihren geschlossenen Augen, pulsierten und bebten im Rhythmus der hämmernden Töne. Noch nie war die Musik so furchteinflößend gewesen, noch nie so wild und so verboten.

Im Leben der Siedler war selbstverständlich keine Musik erlaubt, abgesehen von den Gesängen beim Gottesdienst. Doch es schien, als sei die Musik ihr ganzes Leben lang in ihr gewesen, als sei sie etwas so Elementares wie das Atmen.

Rachel hatte keine Ahnung, weshalb die Musik kam, sie wußte nur, woher sie kam. Sie rührte von den Tönen der Natur her – vom kratzenden Geigengezirpe der Grillen, einem Donnerschlag, dem Knallen der Pappeln, wenn der Frost ins Holz drang, dem rauhen Schnurren einer Katze.

Natürlich hatte sie die Anderen gehört, wenn sie auf ihren weltlichen Instrumenten spielten. Wenn sie durch die Hauptstraße von Miawa-City ging, konnte sie die blecherne Musik nicht überhören, die aus den Saloons drang. Aber das ließ sich nicht vergleichen mit den zarten, heiteren Melodien und den symphonischen Rasereien, die sie manchmal überfluteten und durchströmten, wenn sie die Augen schloß und ihr Herz dem Lied der Erde öffnete.

Niemand wußte etwas von ihrer Musik. Selbst Ben hatte nichts davon geahnt. Rachel war sicher, wenn jemand aus der Gemeinde davon erfuhr, würde man sie zwingen, die Musik aufzugeben. Sie würde es auf den Knien vor der ganzen Gemeinde als Sünderin beichten und geloben müssen, nie mehr geschehen zu lassen, daß die Musik kam.

Aber die Musik war ihre Art zu beten. Mit Worten hatte sie Schwierigkeiten. Sie kamen ihr hohl und nichtssagend vor und schienen nichts als Lärm und Luft zu sein. Sie konnte keine Worte finden, um davon zu sprechen, was wirklich in ihrer Seele vorging. Doch die Musik war anders. Sie frohlockte und flehte, sie pries und klagte manchmal und schrie auch vor Zorn. Sie betete. Wenn die Musik kam, war irgendwie auch der Herr da. Dann konnte sie Ihn auf dieselbe Weise spüren, wie sie die Musik spürte, und sie wußte, Er hörte und verstand die Gedanken, denen die Musik Ausdruck verlieh.

In vielen Nächten hatte sie im Schaukelstuhl gesessen, allein mit dem Herrn und ihren Gedanken und den wilden Akkorden und sanften Melodien. Dann verging die Zeit langsam und schön. In den ersten Monaten nach Bens Tod hatte sie die Musik verloren. Es gab in ihr nur eine Leere, die so hart war wie kalter Stein, und Stille, tiefe Stille. Sie schleppte sich durch die Tage, taumelnd vor Leid und erdrückender Einsamkeit. Sie konnte nur einen schwachen Schatten des Glaubens aufbieten, der ihr immer Halt und Trost gegeben hatte. Denn wie konnte ein liebender Gott zulassen, daß der Vater eines Jungen, ein Ehemann so ungerecht von den Anderen erhängt wurde?

Doch die Musik fand einen Weg, sich wieder bei ihr Gehör zu verschaffen, so wie Gott stets einen Weg fand. Anfangs kam sie in kurzen heiteren Augenblicken wie der flüchtige Duft von Apfelblüten an einem windigen Frühlingstag. Dann schloß sie eines Abends die Augen und öffnete ihr Herz dem Wind, der heulend und stöhnend durch die Pappeln fuhr. Und der Wind wurde zum Instrument wunderbarer, hallender Klänge, die sie höher und höher trugen.

Als die Musik an diesem Abend kam, öffnete ihr Rachel das Herz. Diesmal war es keine liebliche, sanfte Musik. Sie war voller Gewalt und Raserei. Es war ein wilder Ausbruch von Tönen, die am schwarzen Himmel explodierten und so gewaltsam und überraschend waren wie das Geräusch einer einschlagenden Kugel.

Wie immer endete die Musik ganz unvermittelt. Rachel versank in einer endlosen hallenden Stille. Langsam öffnete sie die Augen.

Das Zimmer schwankte und war dunstig vom Rauch der Lampe. Der Fremde lag regungslos in ihrem Bett. Ein glänzender Schweißtropfen lief ihm über Wange und Unterkiefer bis in die Vertiefung des Schlüsselbeins. Das Licht brach sich in seinen glänzenden Augen.

Er war wach. Ihr stockte der Atem, zuerst vor Überraschung, dann vor Angst. Wie er einfach so dalag und sie in der gespannten Stille ansah ...

Nein, das war albern. Er war nur verwirrt und hatte vielleicht Angst, weil er an einem fremden Ort aufgewacht war.

Sie stand auf und ging zu ihm. Sie glaubte, sich schon etwas an ihn gewöhnt zu haben. Schließlich waren Stunden vergangen, seit er über die Heuwiese getaumelt war. Sie hatte ihn gehalten und mit der Flasche gefüttert, sie hatte seinen blutigen Körper gewaschen. Aber erst in diesem Moment, als sie in sein Gesicht blickte, verstand sie, weshalb man die Augen die Fenster der Seele nannte. Im trüben Licht richteten sich seine glänzenden Augen auf sie. Sie glühten, waren wild, und gequält von alten, namenlosen schrecklichen Ängsten.

Ihr wurde erst bewußt, daß sie einen Schritt zurückgewichen war, als er nach ihr griff. Seine Finger gruben sich mit erstaunlicher Kraft schmerzhaft in ihren Arm. Sein rauher Atem übertönte ihr Keuchen. »Wo ist mein Revolver?«

Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor, ehe sie beinahe schluchzend tief Luft holte. »Wir haben ihn weggetan ... in den Kleiderschrank.«

»Holen Sie ihn!«

Seine langen schlanken Finger wurden weiß von der Heftigkeit seines Griffs. Seine Kraft erschien ihr unnatürlich zu sein.

»Sie werden mich erschießen.«

»Ich erschieße Sie, wenn Sie mir nicht den Revolver geben.« Seine Augen richteten sich wie hypnotisierend auf sie. Sein Blick ließ sie nicht mehr los. »Geben Sie mir den gottverdammten Revolver!«

Sie wußte, er war zu allem fähig. Es machte nichts, daß er angeschossen und mit einem gebrochenen Arm in ihrem Bett lag. »Also gut, wenn Sie mich loslassen.«

Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, aber er ließ nicht los. Dann tat er es jedoch so plötzlich, daß sie das Gleichgewicht verlor und stolperte.

Die Tür des Kleiderschranks quietschte, als Rachel sie öffnete. Sie ging auf die Knie und zog den Patronengürtel aus der Ecke hervor, wo Doktor Henry ihn hingelegt hatte. Obwohl sie zugesehen hatte, wie der Arzt die Kugeln herausgenommen hatte, fürchtete sie sich immer noch vor dem Revolver. Er glitt leicht und schnell aus dem geölten Halfter. Sie staunte von neuem über sein Gewicht. Der Holzgriff fühlte sich so glatt an wie ein alter, oft benutzter Axtstiel.

Sie glaubte, der Fremde sei wieder eingeschlafen, denn er bewegte sich nicht und hatte die Augen geschlossen. Doch als sie ihm den Revolver entgegenstreckte, legten sich seine Finger wieder mit der unnatürlichen Kraft um den Griff. Sie spürte, wie er einen erleichterten Seufzer ausstieß.

Wie gebannt starrte sie auf die Hand mit dem Revolver. Sie hatte die Hand nicht sehr sorgfältig gewaschen. In den Hautfalten bemerkte sie getrocknetes Blut, das unter den Nägeln Krusten bildete.

Sie betete, daß er zu benommen sei, um festzustellen, daß die Kugeln fehlten.

Seine Finger umfaßten den Revolvergriff. Er richtete unvermittelt den Blick nach oben und starrte sie mit weit geöffneten Augen an.

Ihr war nicht bewußt, daß sie den Atem anhielt, bis sein Blick sie losließ und über die nur mit Astknoten geschmückten nackten Wände zum vorhanglosen Fenster glitt, hinter dem nur der endlose schwarze Himmel zu sehen war. In seinen Augen lag wieder die ganze Angst, die sie darin gesehen hatte, als sie ihn auf der Wiese zum ersten Mal berührt hatte.

»Wo bin ich?«

»Sie sind in Sicherheit«, antwortete sie leise. Sie beugte sich über ihn, als wolle sie ihm die Hand auf die Stirn legen, wie sie es bei Benjo tat, wenn er aus einem bösen Traum erwachte und getröstet werden mußte. Schließlich tat sie es doch nicht. »Sie können weiterschlafen. Sie sind in Sicherheit.«

Er schloß die Augen. Als er sie wieder aufschlug, waren sie leer und ausdruckslos. Er zog einen Mundwinkel nach oben, aber es wurde kein Lächeln daraus. Sein Blick richtete sich wieder auf das dunkle Fenster. »Es gibt keinen sicheren Ort ...«

Jetzt berührte sie mit den Fingerspitzen sanft seine Wange. »Seien Sie still, und schlafen Sie«, flüsterte Rachel. »Da draußen ist nichts außer der Nacht und der Dunkelheit.«

Sie beugte sich hinunter, um den Docht zurückzudrehen. Dabei streiften ihre offenen Haare seinen Oberkörper und sein Gesicht. Sie spürte ein Ziehen und sah, daß er eine dicke Strähne zwischen den Fingern hielt. In seinen Augen lagen Überraschung und Verwirrung, doch dann schlossen sich die schweren Lider scheinbar gegen seinen Willen. Er schlief wieder ein, aber nicht, bevor er ihre Haare losgelassen und die Hand wieder um den Revolvergriff gelegt hatte.

Sie drehte den Docht ganz zurück. Die erlöschende Flamme zuckte, sank in sich zusammen, und das Zimmer lag im Dunkeln. In der offenen Tür blieb sie stehen und blickte zurück. Doch das Bett war nur noch ein schwarzer Schatten, der sich mit den Schemen der Nacht vermischte.

Sie wandte sich ab und überließ ihn der Dunkelheit und der Nacht. Er hatte blaue Augen. Das wußte sie jetzt.

Wege des Schicksals

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