Читать книгу Wege des Schicksals - Penelope Williamson - Страница 5
Drittes Kapitel
ОглавлениеEs war bereits Mittag, doch Rachel war mit ihrer Arbeit schon einen ganzen Tag im Rückstand. In einem Eimer wartete Sahne, die gebuttert werden mußte. Sie wollte einen Apfelkuchen backen und die Bettwäsche einweichen. Der Fußboden stand vor Dreck, seit mit dem letzten Hagel das ganze Tal im Schlamm versunken war, und mußte unbedingt geschrubbt werden.
Doch zuerst mußte die Wunde des Fremden versorgt werden.
Rachel klemmte sich frisches Verbandszeug unter den Arm. Sie füllte eine Emailleschüssel mit Essigwasser und eilte zum Schlafzimmer. Das Wasser schwappte über den Rand und tropfte auf die Dielen. In der Luft verbreitete sich sofort der scharfe Geruch von Essig. Sie rümpfte widerwillig die Nase.
Doktor Henry hatte ihr aufgetragen, den Patienten dreimal am Tag zu versorgen. Sie sollte die Schußwunde mit Karbol säubern und ihn mit einem in Essigwasser getränkten Schwamm am ganzen Körper waschen. Der Mann hatte seit der ersten Nacht hohes Fieber. Doch er war nicht im Delirium und warf sich auch nicht im Bett herum, wie man es hätte erwarten können. Die meiste Zeit lag er still da, aber er war in Schweiß gebadet. Allerdings hatte er zweimal versucht, sich, wie von Furien gejagt, aufzusetzen, dabei den Revolver umklammert, wie ein gejagtes Tier mit weit aufgerissenen Augen um sich geblickt und auf einen unsichtbaren Gegner gezielt.
Er ließ seine Waffe nicht mehr los, seit Rachel sie ihm in die Hand gegeben hatte. Doch Doktor Henry meinte, das gefährliche Ding beruhige ihn anscheinend. Deshalb durfte Rachel ihm den Trommelrevolver auch nicht wieder wegnehmen.
»Tun Sie dies, tun Sie das ...« Der Arzt hatte leicht reden. Er war seit dem ersten Tag nur ein einziges Mal herausgekommen. Dieser Doktor Henry, dachte sie gereizt, kommandiert mich nach Lust und Laune herum.
Rachel öffnete gerade die Schlafzimmertür, als draußen im Hof McDuff plötzlich laut bellte. Der Mann im Bett richtete sich auf. Rachel blieb wie angewurzelt stehen und starrte voller Entsetzen in den schwarzen Lauf des Revolvers. Sie schrie, hob instinktiv die Schüssel, und das Essigwasser schwappte ihr ins Gesicht. Sie schloß krampfhaft die Augen und zitterte. Sie wollte so klein sein, um sich hinter der Schüssel wie hinter einem Schild zu verstecken.
Alles blieb still. Nur das Wasser, das auf den Boden tropfte, war zu hören. Auch der Schäferhund bellte nicht mehr. Langsam ließ sie die Schüssel sinken und spähte mit angehaltenem Atem über den Blechrand.
Er zielte immer noch mit dem Revolver auf den Ansatz ihrer Nase zwischen den Augen. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie wußte, daß Doktor Henry die Kugeln aus dem Revolver genommen hatte. Aber sie traute der Sache nicht und hatte Angst vor tödlichen Waffen.
McDuff bellte noch einmal. Die Augen des Fremden wurden zu schmalen Schlitzen. Der Revolverlauf bewegte sich nicht, doch sie hätte schwören können, daß sich der Finger am Abzug anspannte. Es war der frisierte Abzug, der sich bei der leichtesten Berührung löste.
»Um Himmels willen, schießen Sie nicht, bitte!« stieß sie schließlich mühsam hervor.
»Dieser Hund«, seine Stimme klang tonlos. »Warum bellt er?«
Sie drehte langsam den Kopf und blickte aus dem Fenster. McDuff sprang mit großen Sätzen in das Weidendickicht, dann rannte er unter den Pappeln am Bach entlang. Vor ihm flitzte ein schmutziggraues flauschiges Etwas und verschwand in einem Erdloch.
»Es ist unser Schäferhund. Er jagt ein Kaninchen.« Rachel drehte den Kopf wieder in Richtung Bett. Sie bemühte sich, ihre Stimme normal klingen zu lassen, als rede sie jeden Tag mit Fremden, die mit Revolvern auf sie zielten. »McDuff ist stets hinter Hasen und Kaninchen her. Er jagt alles, was sich da draußen bewegt.«
Er richtete den Lauf des Revolvers ruckartig nach oben und bewegte den Daumen. Sie hörte ein metallisches Klicken. Dann sank er in die Kissen. Auf seinem Gesicht glänzten Schweißperlen. Die Hand mit dem Revolver zitterte und blieb dann bewegungslos auf der Decke liegen.
Sie starrte ihn an. Ihr Herz raste. Er war schuld daran, er und sein Revolver! Im nächsten Augenblick zuckte er bereits wieder zusammen, wurde leichenblaß und starrte angespannt auf das Fenster. McDuffs Gebell hatte Benjo von seiner Arbeit in der Scheune weggelockt. Das dumme Kaninchen war wieder aus seinem Bau aufgetaucht und raste auf die struppigen wilden Pflaumenbäume zu, die zwischen dem Bach und dem Futterschuppen wuchsen. Benjo lief mit der Schleuder hinter dem Kaninchen her. Er hob die Lederschlinge wie ein Lasso über den Kopf.
»Wer ist das?« fragte der Mann im Bett mit belegter Stimme. Rachel rang nach Luft. »Mein Sohn. Tun ...« Sie brachte kein Wort mehr heraus, denn die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie hustete und würgte. Dann flüsterte sie: »Tun Sie ihm nichts.«
Unter den Pflaumenbäumen spannte Benjo die Schleuder, zielte und schoß. Das Kaninchen fiel wie ein Stein ins Gras. Der Mann wandte den Blick vom Fenster ab. Dann lachte er leise. »Wie es aussieht, gibt es bei Ihnen heute Kaninchen zum Abendessen.«
Seine Worte und sein Lächeln beruhigten sie, aber die fiebrig glühenden Augen jagten ihr immer noch Angst ein. Sie blickte zu Boden, wo das Essigwasser einen großen dunklen Fleck hinterlassen hatte, der beinahe wie Blut aussah. Du lieber Gott, du lieber Gott! Was wäre geschehen, wenn Benjo an meiner Stelle ins Zimmer gekommen wäre ...
»Sind Sie verrückt?!« rief sie aufgebracht, und ihr Schreck entlud sich in Empörung. Sie ging mit hochrotem Kopf auf das Bett zu. »Sie fuchteln mit diesem gefährlichen Ding herum und zielen damit auf unschuldige Menschen. Ich habe schon ein Loch von einer Ihrer Kugeln in meiner Wand und ich will nicht noch eins. Nicht in meiner Wand! Haben Sie mich verstanden? Schießen Sie nicht auf meinen Sohn und auch nicht auf mich. Ich hätte Lust, Ihnen ...« Sie brach ab, als sie das Echo ihrer schrillen Stimme hörte.
Die senkrechten Falten zu beiden Seiten seines Mundes wurden kaum wahrnehmbar tiefer, und die Augenwinkel verengten sich etwas. »Wozu haben Sie Lust? Wollen Sie mir den Hintern versohlen?«
Verwirrt wandte sie den Blick ab und mußte unwillkürlich lächeln. »Verdient hätten Sie es.«
Ihr wurde bewußt, daß sie die Schüssel immer noch in der Hand hielt, und stellte sie laut klappernd auf den Boden. Sie hatte das Verbandszeug an der Tür fallen lassen. Sie hob die Binden auf und legte sie auf den Nachttisch neben ihre schwarze, in Kalbsleder gebundene Bibel und die Flaschen mit Karbol und Alaun, die Doktor Henry ihr dagelassen hatte. Dann schlug sie die Bettdecke bis zu seiner Hüfte zurück und schob mit einem Ruck Bens Nachthemd hoch.
»Was zum Teufel ...« Er griff nach der Decke, aber sie drückte seine Hand zur Seite.
»Stellen Sie sich nicht an! Meinen Sie, ich mache das zum ersten Mal?«
Das Blut war durch das weiße Verbandsleinen gesickert. Sie beugte sich über ihn und versuchte, den Knoten zu lösen, mit dem die beiden Enden verbunden waren. Ihr Arm berührte dabei den muskulösen Oberkörper. Er hatte immer noch Fieber. Seine Haut fühlte sich heiß und feucht an.
Sein Brustkorb hob sich und drückte gegen ihren Unterarm, als er tief einatmete. Sie seufzte und gab den Kampf mit dem Knoten auf. Er betrachtete sie aufmerksam. Sein Blick glitt langsam über die Haube, das braune Mieder und den braunen Rock und dann wieder zurück zu der gestärkten weißen Haube. »Was sind Sie?« fragte er. »Eine Art Nonne oder eine Schwester?«
»Wie kommen Sie darauf? Ich gehöre zu den Siedlern.«
Seine Augen waren dunkelblau und so kalt und scharf wie Eissplitter auf dem Fluß, die den Winterhimmel widerspiegeln. Er starrte sie an, als wollte er mit seinem Blick ihre Haut durchbohren. »Woher soll ich das wissen? Ich habe noch nie etwas von ›den Siedlern‹ gehört«, sagte er. Er verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Sie sehen ganz normal aus, ein bißchen steif vielleicht. Ganz bestimmt sind Sie fromm, so fromm wie eine Betschwester.«
Sie begriff, daß er versuchte, freundlich zu sein. Er wollte die Sache mit dem Revolver jetzt herunterspielen und bemühte sich scherzhaft darum, mit ein paar netten Worten alles wiedergutzumachen. Trotz Fieber und Schwäche besaß er zweifellos das unwiderstehliche Gesicht eines Mannes, der sich seiner Wirkung auf Frauen sehr wohl bewußt ist. Aber sie ließ sich davon nicht täuschen.
Er seufzte etwas übertrieben schwer. »Eigentlich müßte ich an Ihrem finsteren Gesicht erkennen, daß Sie eine Art Engel sind.«
»Ich weiß nicht, was Sie unter ›Engeln‹ verstehen. An uns Siedlern ist nichts Besonderes, außer daß wir Schafe züchten. Wenn jemand Rinder hat, dann könnte er wahrscheinlich auf uns herabblicken. Wir sind einfache Leute, wir arbeiten und kommen zum Beten zusammen. Wir vertrauen darauf, daß der allmächtige Gott uns behütet.«
»Tut er das? Behütet Sie Ihr allmächtiger Gott?«
Eine solche Frage konnte nur einer der Anderen stellen. In der Gemeinde der Siedler kannte jeder die Antwort auf diese Frage schon von Kindesbeinen an. Rachel schwieg, denn sie hielt es für überflüssig, etwas darauf zu erwidern.
Es entstand ein gespanntes Schweigen. Er richtete den Blick wieder auf das Fenster. Sie entfaltete das saubere Verbandszeug, obwohl sie den blutigen Verband noch nicht ganz entfernt hatte.
»Sie kommen nicht aus dieser Gegend?« fragte sie.
»Nein.«
»Waren Sie auf der Durchreise?«
Er gab einen Laut von sich, der alles und nichts bedeuten konnte.
»Ich frage nur für den Fall, daß jemand auf Sie wartet. Ihre Leute werden sich inzwischen wahrscheinlich große Sorgen machen, und ich könnte ihnen eine Nachricht schicken, wenn ich wüßte ...« Sie ließ den Satz offen, damit er ihn beenden konnte. Er gab sich nicht einmal die Mühe, auch nur irgend etwas zu antworten.
In diesem Augenblick verstand Rachel zum ersten Mal all jene besser, die gereizt oder ungeduldig mit den Siedlern wurden, wenn jede ihrer Fragen stets nur mit Schweigen oder einsilbig beantwortet wurden. Sie sah ihn kurz an. Er betrachtete inzwischen aufmerksam ihr Schlafzimmer. Er schien alles in sich aufzunehmen und darüber nachzudenken, so, wie er auch sie gemustert hatte.
Ihr Haus war wie die meisten Farmhäuser im Tal der Siedler ein schlichtes Gebäude aus Pappelstämmen mit einem Blechdach. Es hatte drei einfach eingerichtete Räume: eine Küche, von der zwei Schlafzimmer abgingen. Es gab keine Vorhänge an den Fenstern, keine Teppiche auf dem Boden, keine Bilder an den Wänden. Es war ein normales Haus. Aber das wußte er natürlich nicht. Ihm würde alles hier bestimmt etwas merkwürdig vorkommen.
Sie hatte sich unwillkürlich ebenfalls im Zimmer umgesehen, aber nun richtete sich ihr Blick wieder auf ihn. Sein Gesicht verriet nichts von seinem wahren Wesen. Es schien weder gut noch böse.
Während sie einander ansahen, schien die Luft schwer und immer drückender zu werden. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte.
Rachel wußte, sie würde es nie fertigbringen zu lächeln, doch sie fand, in Anbetracht der besonderen Lage könnte sie vielleicht versuchen, etwas freundlicher zu ihm zu sein. Schließlich war er Gast in ihrem Haus, auch wenn sie nicht einmal seinen Namen kannte.
Sie trocknete die Hand an der Schürze und hielt sie ihm entgegen, wie es bei ihnen zur Begrüßung Sitte war. »Es ist vielleicht etwas spät, um sich vorzustellen, nachdem Sie mich bereits verwünscht haben, mich am liebsten erschossen hätten und meine Bettwäsche mit Ihrem Blut getränkt haben. Aber ich bin Rachel Yoder. Mrs. Yoder.«
Er lag da und bewegte sich nicht. Doch seine Hand hielt den Revolver jetzt etwas locker, und sein Daumen fuhr langsam und sanft über den Griff. Das Schweigen dauerte an, und ihre Hand hing in der Luft zwischen ihnen, bis sie zu zittern anfing und langsam nach unten sank.
Da ließ er den Revolver los und ergriff ihre Hand. »Ich bin Ihnen dankbar, Mrs. Yoder. Und ich entschuldige mich.«
Ihre Handflächen berührten sich einen Augenblick lang. Schließlich zog sie ihre Hand zurück. »Ich nehme Ihre Dankbarkeit und Ihre Entschuldigung an«, erwiderte Rachel. »Haben Sie vielleicht auch einen Namen, den Sie mir nennen wollen? Es ist nur, damit Benjo und ich etwas sagen können, wenn wir über Sie sprechen.«
Sie hatte vor, ihre Bereitschaft zur Freundlichkeit durch eine Art Scherz unter Beweis zu stellen. Offenbar machte das auf ihn keinen Eindruck. Er ließ Rachel so lange auf eine Antwort warten, daß sie glaubte, er werde überhaupt nicht reagieren.
»Sie können mich Kain nennen«, sagte er schließlich.
Rachel verschlug es den Atem.
»Und nun bist du verflucht auf dem Angesicht der Erde, die ihren Mund geöffnet hat, um das Blut deines Bruders aufzunehmen, das von deiner Hand vergossen wurde ...«
Ganz sicher konnte niemand bei seiner Geburt einen solchen Namen bekommen haben. Er mußte ihn als eine Art bitteren und grausamen Scherz angenommen haben. Ihr fiel die Schwiele an seinem Abzugsfinger ein. Kain. Das ist der Name, mit dem er tötet.
Sie wußte, daß ihr diese Gedanken ins Gesicht geschrieben standen. Sein Mund zuckte. »Wenn Ihnen mein Name nicht gefällt«, sagte er, »suchen Sie sich einen anderen aus. Ich höre auf beinahe jeden Namen, der keine Beleidigung ist. Ist dieser Benjo Ihr Mann?«
»Mein ...« Die Stimme gehorchte ihr nicht. Sie mußte sich räuspern und antwortete dann: »Mein Sohn.«
Er musterte sie auf seine eindringliche Art, und sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Also sind Sie Witwe.«
Sie öffnete den Mund zu einer Lüge. Doch der lebenslange Glaube daran, daß jede Lüge eine Sünde sei, zwang sie, wahrheitsgemäß zu antworten: »Ja. Mein Mann ist im letzten Jahr gestorben.«
Er sagte nicht, daß es ihm leid tue, wie die meisten der Anderen es getan hätten. Er sagte überhaupt nichts. Sein Blick wanderte wieder zum Fenster, und er schien sie vergessen zu haben. Hinter dem verwitterten grauen Weidenzaun, hinter den schwarzen Pappeln am Bach, hinter den verschneiten Wiesen und den felsigen steilen Hügeln lockten die Berge. Sie ragten hoch auf vor dem harten Blau des Himmels, über den der Wind weiße Wolkenfetzen jagte, und sie wirkten majestätisch und einsam.
Eine große Ruhe war über ihn gekommen. Aber die Stille im Zimmer war nach wie vor von einer abweisenden Gespanntheit ähnlich einem Stacheldraht zwischen zwei Zaunpfosten.
»Sie haben mir immer noch nicht verraten, wo Sie zu Hause sind«, sagte Rachel. Sie hatte den Wunsch, ihn mit einem Ort, den sie kannte, in Verbindung zu bringen. Allerdings konnte sie ihn sich nicht hinter einem Pflug vorstellen, oder wie er mit der Heugabel einer Schafherde Heu vorwarf. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, daß er ein Rind mit dem Lasso einfing oder versuchte, sich auf dem Rücken eines wilden Mustangs zu halten.
Er riß sich vom Anblick der Berge los und sah sie an. »Ich habe kein Zuhause.« Er schien mehr sagen zu wollen, doch das Rattern von Wagenrädern auf der Holzbrücke hielt ihn davon ab. Mit einer Bewegung, die so schnell war, daß Rachel es erst merkte, als es bereits geschehen war, hob er den Revolver und zielte auf die Tür.
Ihr Herz begann wieder schneller zu schlagen. Sie trat ans Fenster, um den Weg besser überblicken zu können. Noas Sohn kam mit dem Wagen seines Vaters auf den Hof.
Sie wandte sich wieder dem Fremden zu. Er konnte den schweren Trommelrevolver kaum in der ausgestreckten Hand halten. Er zitterte sogar. Sein Brustkorb zuckte, während er schwer atmete, und das Gesicht glänzte schweißnaß.
Sie ging zum Bett, legte ihm die Hand auf die Brust und drückte ihn in die Kissen. Bens Nachthemd war naß. Er hatte es durchgeschwitzt. Sie spürte, wie ihn Fieberschauer überliefen. »Es ist nur Moses«, sagte sie, »der Sohn meines Nachbarn. Er kommt, um für mich Holz zu hacken.«
Sein Atem ging so rauh, daß es wie ein Keuchen klang, als er fragte: »Dieser Nachbar und sein Sohn, wissen sie von mir?«
»Das ganze Tal weiß inzwischen von Ihnen. Ihre Geschichte macht so schnell die Runde, wie sich Gerüchte verbreiten, die beim Weitererzählen immer abenteuerlicher werden. Wenn jemand am Sonntag hustet, hört er am Dienstag von seinem Nachbarn eine Geschichte über seine eigene Beerdigung.«
»Was sagen die Leute?«
Sie beobachtete durch das Fenster, wie Moses die Bremse anzog, die Zügel um den Bremsengriff wand und vom Wagen sprang. Er nahm den Hut vom Kopf, fuhr sich mit dem Rockärmel über den Mund und strich sich dann die hellbraunen Haare zurück. Mit siebzehn sah man bereits, daß er einmal so groß und kräftig werden würde wie sein Vater.
»Die Siedler sagen, Sie sind ein Englischer, der sich beinahe hat erschießen lassen, und Sie sind nur dank Gottes großer Gnade noch nicht tot, obwohl Sie es wahrscheinlich wegen Ihrer Sünden verdient hätten. Trotzdem beten wir alle darum, daß Sie schließlich doch noch die Wahrheit und das Licht erkennen. Was die Anderen sagen, das können Sie sich vermutlich besser denken als ich. Wenn Sie jetzt vielleicht so liebenswürdig sind, einen Augenblick stillzuhalten, dann kümmere ich mich erst einmal um Ihre Wunde. Die Zeit vergeht, und ich habe noch jede Menge Arbeit.«
Er sah sie an. Seine Augen glänzten, und sein Blick war leicht verschwommen. »Sie sind sehr seltsam«, murmelte er und blickte sich noch einmal langsam im Zimmer um. »Das alles hier ist sehr seltsam.«
»Ich gehöre zu den rechtgläubigen Siedlern, und das ist ein Haus, wie jeder es in unserer Gemeinde hat. Unsere Lebensweise ist so, wie es in der Heiligen Schrift steht, und in den Augen Gottes keineswegs seltsam. Bleiben Sie jetzt ruhig liegen.«
Sie schnitt den Verband mit der Schere auf. Am ersten Abend hatte sie ihn, ohne es zu wollen, angelogen. Er war hier nicht sicher. Außer im Himmel war ein Mann wie er nirgendwo sicher. Und nach diesem Leben würde er wahrscheinlich nicht dorthin kommen.
Das Fleisch um die Wunde verheilte nicht. Es war schwarz und an den Rändern ausgefranst. Nach den heftigen Bewegungen blutete er wieder.
Ein Körper läßt sich mit dem Messer schneiden, von einer Kugel zerreißen und zerfetzen, peitschen und verbrennen, in Ketten legen und erniedrigen – wie leicht läßt sich ein Körper verwunden. Wie erschreckend, daß er so verletzlich ist, obwohl der Körper das Gefäß des Lebens und der Tempel der Seele ist. Der Fluß ihrer Gedanken riß ab, und plötzlich wurde ihr mit Entsetzen klar, daß, wenn dieser Fremde seines Lebens nicht sicher war, sie und Benjo sich dann ebenso in Gefahr befanden. Bei dieser nüchternen Erkenntnis blieb ihr beinahe das Herz stehen.
In dem Moment, als sie diesen Mann aufgenommen hatte, wurden seine Feinde zu ihren Feinden.
Langsam hob sie den Blick und mußte schlucken. Es gelang ihm immer wieder, daß alles Leben aus seinem Gesicht wich, daß seine Augen ausdruckslos und stumpf wurden, so daß sie durch zwei Löcher in die leere Hülle einer leblosen Gestalt zu blicken schien.
»Der Mann, der Ihnen das angetan hat ...« Sie holte tief Luft, räusperte sich und fragte dann: »Wird er Sie bis hierher verfolgen?«
Nichts regte sich in seinen Augen, nichts.
Plötzlich wußte sie es: Er hatte ihn getötet. Es bestand für sie kein Zweifel. Er hatte den Mann getötet, der ihn angeschossen hatte.
Ein flaues Gefühl überkam sie, und sie wollte es nicht wahrhaben. Wer zur Gemeinde der rechtgläubigen Siedler gehörte, würde keine Vergeltung an seinen Feinden üben, sondern unterwarf sich dem Willen Gottes und vertraute auf die Barmherzigkeit des Himmels. »Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine.«
Trotzdem mußte sich Rachel in diesem Augenblick etwas eingestehen. Sie empfand es als Erleichterung zu wissen, daß er den Mann getötet hatte. Sie und Benjo befanden sich in Sicherheit, weil dieser Mann tot war.
Sie riß ein Stück sauberes Verbandszeug ab und betupfte das hervorsickernde Blut. »Sie müssen nicht bei jedem Geräusch oder bei jedem Besucher, der hier erscheint, mit Ihrem Revolver herumfuchteln. Kein Mensch aus der Stadt hat einen Grund, hierherzukommen.« Sie betupfte die Wunde, aber das Bluten hörte nicht auf. »Und wir, meine Nachbarn und alle Siedler hier im Tal, wir tun niemandem etwas, am wenigsten den Hilflosen und Kranken.«
»Im Augenblick tun Sie mir weh.« Er lächelte wieder sein durchtriebenes Lächeln. Aber diesmal schaffte er es nicht, den harmlosen Tunichtgut zu spielen. Seine Lippen verrieten das Wilde, Unberechenbare in ihm, den Hang zu allem Sündigen.
»Die Bibel sagt, Mr. Kain, daß ein Mensch von allen seinen Sünden früher oder später heimgesucht wird.« Wie zur Bekräftigung ihrer Worte, betupfte sie noch einmal die Wunde mit Karbol.
Er gab keinen Laut von sich, aber sein Bauch zuckte heftig. Sie wußte, sie hatte ihm Schmerzen zugefügt, und kam sich jetzt selbst schlecht vor. Vermutlich meinte Noa das, wenn er von weltlicher Verderbtheit sprach. Sie tat und sagte bereits Dinge, die ihr, der tugendsamen Rachel Yoder, überhaupt nicht entsprachen.
Sie schwieg, während sie den frischen Verband anlegte. Dabei vermied sie es, ihm in die Augen zu sehen. Sie wollte gerade gehen, als sie feststellte, daß er auf die Kugel blickte, die der Arzt aus der Wunde herausgeholt hatte. Sie lag neben der Bibel auf dem Nachttisch – klein, rund, bronzefarben und an der einen Seite etwas abgeflacht, wo sie, wie Doktor Henry gesagt hatte, gegen seine Rippe geprallt war.
»Der Arzt hat sie aus Ihrer Milz herausgeholt«, sagte Rachel.
Er ließ seinen Revolver los und griff nach der Kugel. Er hielt sie gegen den Sonnenstrahl, der durch das Fenster ins Zimmer fiel, und betrachtete sie beinahe so ehrfürchtig wie ein Goldstück. Doch dann schlossen sich seine Finger darum und wurden zur Faust.
Sie folgte seinem Blick von der Kugel in der Faust zum Kleiderschrank. Die Tür stand halb offen, obwohl das nicht hätte sein sollen. Doktor Henry hatte die Waffen des Fremden und seinen Patronengürtel dort hineingelegt.
Rachel stockte der Atem. Ihr Blick richtete sich angstvoll auf den Revolver, der neben ihm lag, und dann auf sein Gesicht.
Seine blauen Augen waren kalt und ohne jedes Gefühl. »Das war beinahe ... die letzte Kugel.«
Moses Weber stapfte über die rohen Bohlen der Veranda und kratzte den Schafsmist von seinen Stiefeln. Die Stiefel hatten geprägte Schäfte und Absätze. Er nahm den runden steifen Filzhut mit der schmalen Krempe ab, strich seine Haare glatt, zog die karierte Hose hoch und hob die Hand, um anzuklopfen.
Die Tür ging auf, bevor er die Hand senken konnte. Mrs. Yoder musterte ihn staunend, hielt die Hand über die Augen und rief: »Wenn das nicht unser Moses ist! Ich bin ja ganz geblendet! Ja, geblendet wie von einem Blechdach in der Sonne!«
Er wurde über und über rot. »Äh, ich komme, um das Holz zu spalten.«
»Das habe ich mir gedacht, und das ist sehr nett von dir. Besonders, da ich weiß, daß dein Vater dich vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeiten läßt.« Sie sah ihn noch einmal prüfend an und nickte. »Aber du siehst wirklich sehr gut aus.«
Er verrenkte sich beinahe den Hals, um einen Blick in die Küche zu werfen. Doch sie verlagerte das Gewicht und versperrte ihm den Blick. Dann lehnte sie sich an den Türrahmen. »Hast du dir diese fesche Kleidung in einem Versandhauskatalog ausgesucht?«
»Ja, Mrs. Yoder. Ich habe sie mit dem Geld für die Wolle vom letzten Sommer bezahlt.« Er hob den Kopf, um über sie hinwegzublicken. Er sah einen Milcheimer und ein Sieb mitten in der Küche auf dem Boden stehen. Auf dem Tisch befand sich eine Schnur mit getrockneten Äpfeln und die Mehldose. Nach all dem Gerede hatte er irgendwie gehofft, den geheimnisvollen Fremden in einem langen schwarzen Mantel, zwei Trommelrevolvern mit Perlmuttgriffen irgendwo in der Küche zu sehen, während ihm das Blut aus der Schußwunde tropfte.
Mrs. Yoder kam auf die Veranda und zog die Tür halb hinter sich zu. Sie roch nach Essig. Der scharfe Geruch stieg Moses in die Nase.
Sie ist wohl beim Einmachen, dachte er, obwohl es dafür eigentlich nicht die richtige Jahreszeit ist.
Er hatte nichts von dem Fremden gesehen. Die Leute sagten, der Mann sei ein Desperado, ein Gesetzloser, dessen Gesicht man von Steckbriefen kannte, auf denen für seine Ergreifung »tot oder lebendig« tausend Dollar in reinem Gold versprochen wurden. Aber man flüsterte auch, die einzige Belohnung, die jemand bisher bekommen habe, sei eine Ladung Blei aus seinen Revolvern. Moses wünschte sich nichts sehnlicher, als die Revolver mit eigenen Augen sehen zu können. Dann hätte er seiner Freundin Gracie eine Geschichte erzählen können, bei der ihr kalte Schauer über den Rücken liefen. Wenn ihm das gelang, erlaubte ihm Gracie manchmal, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken.
Moses erinnerte sich plötzlich daran, daß Mrs. Yoder immer noch vor ihm stand und lächelte. Wahrscheinlich wunderte sie sich, weshalb er nicht mit der Arbeit anfing. Er steckte die Hände in die Taschen, machte einen Schritt rückwärts und stolperte, weil sein Absatz an einem verzogenen Brett hängenblieb. »Also, ich ... ich geh in den Holzschuppen.«
Er war auf halbem Weg zum Hackklotz, als sie ihm nachrief. »Moses? Klopf an die Tür, wenn du fertig bist! Ich gebe dir einen Apfelkuchen mit nach Hause.«
Moses drehte sich um, lachte und legte die Hand an die gebogene Krempe seines neuen schwarzen Hutes. Sie hatte ihn nicht ins Haus eingeladen, aber vielleicht konnte er doch noch einen Blick auf den Desperado werfen. Möglicherweise konnte er ihn sogar begrüßen. Das würde Gracie sehr beeindrucken, wenn sie davon erfuhr, obwohl sein Vater wahrscheinlich einen Wutanfall bekommen würde. Der alte Diakon Weber vertrat die Ansicht, daß ein Junge wie er die Welt mit all ihren schlechten und verderblichen Einflüssen nur von weitem sehen mußte, um für immer verdammt zu sein. Als könne die Reinheit der Seele bereits dadurch befleckt werden, daß sie sich den sündigen Menschen darbot, so wie ein Rechen Rostflecken bekam, wenn er im Regen liegenblieb.
Moses blickte zum Haus und legte zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht, das sich auf dem Blechdach brach, die Hand über die Augen. Aber Mrs. Yoder war schon ins Haus gegangen. Sie sei geblendet von ihm in seinen neuen Kleidern, hatte sie gesagt, geblendet wie von einem Blechdach in der Sonne. Er grinste bei dem Gedanken daran.
In letzter Zeit hatte es viel Gerede darüber gegeben, daß sein Vater und Mrs. Yoder heiraten würden. Es war kein Geheimnis, daß sein Vater sie über alles verehrte. Aber es sah nicht so aus, als würde sie ihn nehmen, auch jetzt nicht, nachdem Mr. Yoder seit beinahe einem Jahr tot und begraben war. Moses wollte nicht daran denken, wie niedergeschlagen und traurig sein Vater in letzter Zeit wirkte.
Moses wünschte sich, es würde ein Wunder geschehen, und die beiden würden doch noch heiraten. Er mochte Mrs. Yoder. Sie hatte eine nette Art zu lächeln. Sie klopfte ihm manchmal aufmunternd auf die Schulter oder strich ihm die Haare aus den Augen. Außerdem erkundigte sie sich immer, ob er warm genug angezogen sei, und sie gab ihm zu essen, wie heute, wo sie ihm einen Apfelkuchen versprochen hatte. Insgeheim stellte er sich seine Mutter oft wie Mrs. Yoder vor, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Aber seine Mutter war bei der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben, als er erst ein Jahr alt war. Danach erschien seine Tante Fannie, um seinem Vater und ihm den Haushalt zu führen. Falls sie jemals ein Lächeln auf ihren Lippen hatte, dann jedenfalls nicht in seiner Gegenwart.
Obwohl die Sonne schien, war der Wind immer noch eisig, und Moses zitterte vor Kälte, als er den neuen Gehrock mit den vier Knöpfen auszog. Er sollte keine Schweißflecken bekommen, bevor Gracie ihn gesehen hatte. Wahrscheinlich würde sie ihn in den neuen Sachen überhaupt nicht erkennen. Sie war gewohnt, ihn nur in dem häßlichen braunen Rock aus Sackleinen zu sehen, wie alle Jungen der Siedler ihn trugen.
Er betastete mit dem Finger die Haut über den Lippen, um festzustellen, ob da schon etwas wuchs. Aber er spürte nicht den leichtesten Flaum. Er hatte im Drugstore von Miawa-City ein Mittel gekauft, das versprach, auf der Glatze eines Mannes wieder Haare wachsen zu lassen. Aber bei Schnurrbärten schien das Zeug überhaupt nicht zu wirken. Er wünschte sich einen dieser Schnurrbärte mit hochgebogenen Enden. Damit würde er wirklich wie ein Mann aussehen.
Und sein Vater, der alte Diakon Weber, würde noch einen Wutanfall bekommen.
Der Mund seines Vaters verzog sich jedesmal, als habe er in eine saure Zitrone gebissen, wenn Moses in seinen neuen Sachen mit all den verbotenen Knöpfen, den aufgesetzten Taschen und Ziernähten aus dem Haus ging. Aber Moses verstieß damit nicht gegen die Regeln, wenn er sich so weltlich kleidete, denn er war ja noch nicht getauft und in die Gemeinde als Erwachsener aufgenommen. Sobald er jedoch sein Gelübde abgelegt und gelobt hatte, den geraden und schmalen Weg zu gehen, der in den Himmel führte, war es mit solchen weltlichen Dingen vorüber. Dann mußte er sich für den Rest seines Lebens wie die anderen anziehen, sich einen Bart – keinen Schnurrbart – wachsen lassen und durfte auch die Haare nicht mehr scheiteln. Aus seiner Sicht bestand kein Grund, das alles bereits vor der Zeit zu tun.
Moses hängte den neuen Rock vorsichtig an den niedrigen Ast einer Gelbkiefer und fuhr mit dem Finger über den Kragen mit dem Satinbesatz. Man hatte ihm seit Kindesbeinen eingeschärft, die Welt und die weltlichen Dinge zu meiden. Er seufzte. Wie auch immer, diesen Gehrock fand er einfach hinreißend. Jedesmal, wenn er ihn anzog, ja, wenn er ihn nur ansah, erfaßte ihn ein verbotenes Hochgefühl. Es glich dem Gefühl, das er hatte, wenn er einen Kopfsprung in den Teich machte. Zuerst kam dieser plötzliche, aufregende Schock, wenn sein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach. Dann verwandelte sich die Erregung in Angst, während er tiefer hinunter in die kalten schwarzen Tiefen tauchte. Und wenn die Angst ihn gerade zu überwältigen drohte, berührte er den Grund, tauchte schnell wieder auf und glitt zurück in die Wärme und zum Licht.
Er dachte über die aufregenden und beängstigenden Verlockungen der Welt nach, als er das dicke Stück einer Zeder auf den Hackklotz stellte. Er hob die Axt über den Kopf, ließ sie hinuntersausen und spaltete das Holz mit einem dumpfen Ton. Holzsplitter fielen in den Schlamm, und dann verbreitete sich der würzige Zedernduft in der Luft.
Sein Körper überließ sich dem Rhythmus der schwingenden Axt – die Arme hoben sich über den Kopf, die Schultern beugten sich vor, wenn die Axt fiel, und ein Beben durchlief den ganzen Körper, wenn das Blatt der Axt sich in das Holz fraß. Feuerholz spalten war schwere Arbeit. Moses fand Vergnügen daran. Es half ihm, den Tumult seiner Gefühle etwas zu besänftigen, die den ganzen Winter über in ihm getobt hatten.
»Die Arbeit treibt dem Jungen alle Flausen am besten aus«, erklärte Diakon Weber. »Harte Arbeit ist die Antwort auf die dummen Fragen. Schweiß reinigt den Körper von allen schlechten Gedanken und gefährlichen Gefühlen.« Das stimmt nicht, dachte Moses, das stimmt leider nicht.
Die Axt steckte in einem Astknoten fest, und Moses zog am Stiel. Er stöhnte, denn durch die Bewegung spürte er aufs neue die Striemen und blauen Flecken auf seinem Rücken. Er war immer noch ganz wund von den Schlägen, die ihm sein Vater wegen seines Ausflugs nach Miawa-City am vergangenen Samstag verpaßt hatte. Moses fand, er sei inzwischen zu groß für Prügel, doch er war noch nicht groß genug, um seinen Vater daran zu hindern, ihn auf diese Weise zu bestrafen.
Es gab natürlich einen Weg, um das alles zu beenden. Er konnte der sündigen Welt entsagen, Gracie heiraten und fortan ein Leben nach den Regeln der rechtgläubigen Siedler führen. Wenn er das tat, würde zwischen seinem Vater und ihm alles wieder gut werden. Doch jedesmal, wenn er daran dachte, glaubte er zu ersticken, so als läge er lebendig in einem zugenagelten Sarg.
Moses warf ein Holzscheit auf den Haufen und griff gerade nach dem nächsten Stück Zeder, als ein Stein an seinem Kopf vorbeizischte und den knorrigen Stamm der Kiefer traf, an der sein Gehrock hing.
»He!« rief er und drehte sich empört um.
Benjo kam mit seinem Schäferhund angelaufen. Der Junge und der Hund mußten geradewegs vom Bach kommen. McDuff schüttelte sich und versprühte Wassertropfen nach allen Seiten. Die Hose des Jungen war von unten bis zu den Knien naß, und die Weste hing voller Disteln und Kletten. Von Benjos linker Hand hing seine Schleuder mit der geflochtenen Lederschlinge.
Moses stemmte die Arme in die Hüfte und wies mit dem Kinn auf die Schlinge. »Du hältst dich mit diesem Ding wohl für David, der den Riesen Goliath erschlagen kann.«
»Ich ha ... ha ... habe eine Bisamratte erwischt!« Benjo hob den Arm, um zu zeigen, was er in der rechten Hand hielt. Er hob die Ratte an den Hinterbeinen hoch. Moses sah die Schwimmhäute. Der lange flache Schwanz lag eingerollt um das glänzende braune Fell. Der zerschmetterte Kopf war blutig.
Moses zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wenn du einen Grizzly erlegt hättest, wäre ich vielleicht beeindruckt.«
Benjos glückliches Lächeln erstarb, und er ließ den Kopf sinken. Moses wollte den Jungen nicht verletzen. Daß ihn sein eigenes Leben so wütend machte, war kein Grund, die schlechte Laune an dem armen Benjo auszulassen. »He!« sagte er lachend. »Gibt es die Bisamratte zum Abendessen?«
Benjo kicherte verlegen, holte aus und warf die nasse tote Ratte in einem hohen Bogen durch die Luft. Sie landete laut klatschend im Schlamm. MacDuff rannte bellend hinterher, wurde aber von einem Kaninchen abgelenkt, das aus dem Gestrüpp hervorkam. Mit dem Hund auf den Fersen verschwand es hinter der Scheune.
»Wie kommt es, daß du Bisamratten schießt, anstatt in der Schule zu sein?« fragte Moses.
»Bei den Anderen ist heu-heute ein F-f-eiertag.«
»Die haben heute keinen Feiertag. Aber ich wette, deine Mutter weiß nichts davon.«
Der arme Benjo gehörte zu den wenigen Kindern, die in die englische Schule geschickt wurden. Die meisten Siedler hielten nicht viel vom sogenannten Buchwissen. Bei einem Jungen, der später doch nur ein Farmer werden würde, sah man darin reine Zeitverschwendung. Die Bibel verbot die Schulbildung allerdings nicht ausdrücklich.
Das ist eines der wenigen Dinge, die nicht verboten sind, dachte Moses bitter.
Sobald die Schule zur Sprache kam, wurde Benjo plötzlich taub. Er beschäftigte sich damit, seine Schleuder zusammenzurollen und in das Hosenband zu stecken. Moses legte ein riesiges Stück Zedernholz auf den Hackklotz. Er wischte den Holzstaub von der Axt, spuckte in die Handflächen, packte den Stiel und spannte die Schultermuskeln. Er hob den Kopf und sah gerade noch, wie Benjo einen Blick auf das Haus warf. »Wie ist er denn?«
Der Junge zuckte zusammen. Moses hatte nicht sagen müssen, wer mit er gemeint war. Seit drei Tagen redete das ganze Tal nur von ihm.
»Mama sagt, ich soll mich von ihm f-f-fernhalten«, erwiderte Benjo. »Er ist ner-ner-nervös.«
»Ach ja?« Moses grinste. »Ich nehme an, wohl kaum nervöser als du.«
Benjo reckte das Kinn. »Ich habe k-k-keine Angst vor ihm.«
Es lag Moses auf der Zunge, den Jungen zu fragen, wie er sich denn mit einer Schleuder an den Schießkünsten des Desperados messen wolle. Aber diesmal ließ er sich nicht zu einer Bosheit hinreißen. Weil Benjo Yoder klein war und stotterte, hielten ihn viele Leute, besonders Fremde, für einen Schwächling und vielleicht auch für dumm und machten sich über ihn lustig. Manchmal war auch Moses nicht besonders nett zu dem kleinen Benjo, obwohl es ihm hinterher immer leid tat.
»M-m-Moses?«
Moses blickte auf und wartete, während sich Benjos Halsmuskeln spannten und sich die Lippen verzogen. »Bi-bi-bi-bist du ...«
Moses schnaubte ungeduldig. »Ja, was ist denn? Spuck es schon aus oder vergiß es.«
Benjo spitzte die Lippen und blähte die Backen. Dann schoß, o Wunder, das widerborstige Wort zusammen mit einem Speichelschauer aus seinem Mund hervor. »B-bist du letzten S-s-s-amstag wirklich in den ›G-g-goldenen Kähg‹ gegangen und hast ein G-g-glas von dem Teufelszeug getrunken?«
Moses wurde rot und blickte sich schuldbewußt um, als rechne er damit, daß sein Vater hier auftauchen und ihn noch einmal verprügeln werde. »Und wenn schon?« sagte er.
»Du ha-ha-hast es also w-w-wirklich getrunken, das T-teufelszeug?«
»Das habe ich doch gesagt.« Moses hieb die Axt in den Hackklotz und fuhr sich mit dem Ärmel über den Mund, um sein Lächeln zu verbergen, als ihn Benjo aufgeregt mit zahllosen »wie« und »was«, »wieso« und »warum« bestürmte und dabei kaum einmal stotterte. Um die Wahrheit zu sagen, Moses genoß die Gelegenheit, jemandem von seinem Abenteuer im Saloon von Miawa-City zu erzählen. Sein Vater und Tante Fanny hatten natürlich nichts davon hören wollen.
Als er jetzt Benjo die Geschichte erzählte, wurde alles wieder lebendig. Zuerst hatte ihn Panik erfaßt, und er hatte einen trockenen Mund bekommen, als er die Tür des »Goldenen Käfigs« aufgestoßen hatte. Der dichte Zigarrenrauch trieb ihm die Tränen in die Augen, und er mußte blinzeln. Es stank nach Kautabak, vergossenem Bier und schmutziger Wäsche, die seit Wochen, möglicherweise sogar überhaupt noch nie gewaschen worden war.
Auf dem Fußboden lag eine dicke Schicht Sägemehl. In der plötzlichen Stille, die sein Eintreten begleitete, knarrten die Dielen unter den Sohlen der neuen Stiefel, als Moses zur Bar ging. Verlegen hob er den Blick nicht von den Stiefeln, sondern beobachtete wie gebannt die tiefen Furchen, die seine Stiefelspitzen im Sägemehl hinterließen. Als er schließlich aufblickte, erschrak er über sein Spiegelbild in einem großen goldgerahmten Spiegel. Er fand sich toll in seinem neuen Anzug aus dem Katalog und mit dem neuen Hut. Bestimmt würde niemand ahnen, daß er zu den Siedlern gehörte. Aber dann hörte er jemanden spöttisch lachen.
Im Spiegel sah Moses ein halbes Dutzend Tische, an denen Stühle mit gedrechselten Rückenlehnen standen. Hirschgeweihe und der mottenzerfressene Kopf eines Elchs schmückten die Wände. Ein Mann hämmerte gelangweilt auf die vergilbten Tasten eines Klaviers. Eine Frau mit hellroten Haaren beugte sich über die Schulter des Klavierspielers. Beim Anblick der vielen nackten Haut, die sie ungezwungen zeigte, blieb ihm der Mund offenstehen. Vier Männer saßen lässig vor einem bauchigen Ofen. Sie musterten Moses so erstaunt, als sei ihm plötzlich ein Geweih aus dem Kopf gesprossen.
Er starrte nicht länger auf den Spiegel, sondern ließ den Blick über die Regale mit Karaffen, Zigarrenkisten und Gläsern mit Brandyfrüchten gleiten. Dann erst bemerkte er einen Mann, der mit einem feuchten Tuch die Theke abwischte.
Der Mann warf ihm mit zusammengekniffenen Augen kurz einen prüfenden Blick zu, dann spuckte er braunen Tabaksaft in einem hohen Bogen auf den Boden. Er traf gekonnt einen Spucknapf aus Messing.
»Na, was ist, mein Junge?« fragte der Mann. Er hatte dicke, bläuliche Lippen, Hängebacken und dünnes weißes Haar. »Wer hat dich denn aus deiner Betstube herausgelassen?«
»Ich hätte gern ein Glas von Ihrem besten Whisky.«
Der Mann hinter der Bar lachte, hustete und spuckte noch einmal Tabaksaft. »Ein Glas von meinem besten Whisky«, wiederholte er spöttisch und ahmte dabei die Aussprache von Moses nach. Aber dann verzog er die dicken Lippen zu einem langen dünnen Strich, der sich an einem Ende wie ein Angelhaken nach oben bog. Moses hoffte, daß das ein Lächeln sein sollte. »Hast du auch das nötige Kleingeld?«
Moses stellte mutig den Fuß auf die Messingstange der Bar und suchte in der Uhrentasche seiner neuen Weste nach einer blitzenden Fünfundzwanzigcentmünze.
Der Mann stellte eine Flasche und ein Glas vor Moses auf die Theke und sah ihn spöttisch an. »Das hier ist der beste Saft. Er kommt geradewegs aus der Hölle. Ein Schluck heilt dich von allen Krankheiten«, sagte er und füllte das Glas randvoll. Moses erinnerte das Zeug in der Farbe an Sumpfwasser. Er holte tief Luft und führte das Glas vorsichtig an die Lippen. Jetzt würde er den Teufel zum ersten Mal wirklich kennenlernen.
Das Zeug brannte wie Feuer in seiner Kehle. Er hustete, verschluckte sich und begann zu zittern. Beim zweiten Schluck ging es schon besser, aber Tränen traten ihm in die Augen. Der Mann hinter der Bar kümmerte sich nicht um ihn, sondern wischte ungerührt die Theke sauber.
Auch die Männer um den Ofen achteten nicht weiter auf ihn. Sie rauchten, kauten Tabak und schienen nichts anderes zu tun, als zu spucken und zu fluchen. Moses dachte gerade, das sündige Leben sei überhaupt nicht so aufregend, wie er sich das vorgestellt hatte, als die halbnackte Frau sich neben ihn stellte und ihn zum Tanzen aufforderte.
»Das ist so, Benjo«, erklärt Moses. »Du bezahlst an der Bar fünfundzwanzig Cents, und der Mann gibt dir ein rotes Stück Blech, eine Marke, wie man dazu sagt. Du gibst die Marke der Frau, und sie steckt sie in ihren ... äh, sie steckt sie weg, und dann tanzt du mit ihr.«
In Wirklichkeit hatte Moses weniger getanzt, sondern war über das Sägemehl gestolpert und hatte krampfhaft versucht, ihr nicht auf die Füße zu treten. Aber das war nicht weiter wichtig. Sie hatte sich in seinen Armen so weich und sanft angefühlt wie ein Daunenkissen.
»Verstehst du, diese Art Frauen sind leichte Mädchen«, sagte er augenzwinkernd. »Sie sind so leicht wie Fahnen im Wind.« Er zweifelte allerdings daran, daß Benjo bereits wußte, was man unter einem leichten Mädchen verstand. Moses war sich selbst nicht so ganz sicher.
Benjo sah ihn mit großen staunenden Augen an, und Moses sonnte sich in der Bewunderung. »Aber wie hast du überhaupt erfahren, daß ich im ›Goldenen Käfig‹ gewesen bin?« »Ich ... ich h-h-habe gehört, wie dein Vater mit meiner Mutter darüber geredet hat. Er hat gesagt, du b-b-brichst ihm noch das Herz.«
Das Hochgefühl verschwand wie die Sonne, vor die sich dicke Wolken schieben. Ich breche ihm das Herz. So gesehen, schien es plötzlich nicht mehr zu genügen, daß er sein großartiges Abenteuer mit einem Rücken voller Striemen und blauer Flecken bezahlt hatte.
»Ach, der alte Diakon Weber hat nur Angst, daß ich eines Tages in eine Kneipe gehe und als Englischer wieder herauskomme.« Er schnaubte, als sei so etwas überhaupt nicht denkbar, doch er hatte insgeheim gewisse Zweifel. Der eine kurze Ausflug in den »Goldenen Käfig« hatte ihm gezeigt, daß bestimmte Dinge, sobald man sie sah, einen dazu brachten, etwas zu wollen, was man vielleicht nicht wollen sollte.
»U-u-und w-w-wie schmeckt es?«
»Was? Der Whisky?« Moses runzelte die Stirn. »Es ist, als ob man Feuer schluckt. Wenn er unten ankommt, fängt es im Bauch an zu brennen.«
»U-u-und wie riecht es?«
»Was? Ich weiß nicht. Wie Whisky eben riecht.«
Benjo nickte ernst, und Moses unterdrückte ein Lächeln.
»Was ist mit dem l-l-leichten M-m-m-ädchen, ich meine, mit der Frau, mit der d-d-du getanzt hast? W-w-wie hat sie gerochen?«
»Du meine Güte!« Moses drehte den Kopf nach allen Seiten, als wolle er sicher sein, daß niemand sie hörte. Er stützte sich auf den Axtstiel, so daß sein Gesicht auf gleicher Höhe wie das des Jungen war, und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Diese Frage solltest du nicht stellen.«
»W-w-warum nicht?«
Weil die Frau nach altem Schweiß und süßlichem Körperpuder gerochen hatte. Moses wollte seinem Abenteuer nicht dadurch den Glanz nehmen, daß er sein Erlebnis zu sehr dem nüchternen Licht der Wahrheit aussetzte. »Weil du ein neugieriger Junge bist, der noch nicht trocken hinter den Ohren ist, deshalb.«
»Ach ja? Al-al-also dein Vater hat meiner Mutter gesagt, du hast deine Nase an ihren Busen gedrückt, und der war na-na-nackt.«
»Du meine Güte!« Moses packte die Axt so heftig am Griff, daß Benjo einen Satz rückwärts machte. »Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt mit dir abgebe. Wenn du mich noch länger von der Arbeit abhältst, habe ich das Holz im Sommer noch nicht gespalten.«
»Ich wo-wo-wollte do-do-doch nur wissen, wie sie ge-ge-gero-chen hat.« Benjo stotterte so sehr, daß Moses ihn kaum verstand. Aber er hatte ohnehin beschlossen, den Jungen nicht mehr zu beachten.
Benjo zog seine Schlinge hervor und suchte mit der Schuhspitze einen Stein auf dem Boden. Er warf Moses einen Blick zu, aber Moses ignorierte ihn. Er legte den Stein in das Leder der Schlinge, hielt mit der linken Hand die Enden der beiden Riemen fest und ließ die Schleuder über seinem Kopf kreisen. Dann ließ er plötzlich einen Riemen los, der Stein schoß durch die Luft und traf einen Astknoten am Stamm der Kiefer. Aber Moses reagierte auch darauf nicht.
Benjo seufzte leise, drehte sich um und lief davon. Moses wartete, bis der Junge beinahe das Haus erreicht hatte, bevor er den Kopf hob. Er dachte, Benjo werfe vielleicht einen Blick zurück, um festzustellen, ob er ihn beobachtete. Aber Benjo tat ihm nicht den Gefallen.
Moses nahm den Hut ab und fuhr sich durch die Haare. »Verflucht noch mal, Moses Weber, du hast wirklich nur Stroh im Kopf!« Er war so beschäftigt damit gewesen, Benjos Fragen zu beantworten, daß er die Gelegenheit nicht genutzt hatte, selbst ein paar Fragen zu stellen. Benjo wußte vermutlich alle möglichen interessanten Dinge über den Fremden.
War er wirklich so gefährlich? Wurde er von der Polizei gesucht? Wie sah dieser Desperado eigentlich aus? War er ein Frauenheld?