Читать книгу Paul McCartney - Die Biografie - Peter Ames Carlin - Страница 10

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Kapitel 3

Er hatte damals noch durchaus etwas Weiches an sich. Jedenfalls wirkte er ein wenig rundlich – Paul war, als er ins Teenageralter kam, noch immer ein wenig Babyspeck geblieben, was teilweise auch den Kuchen und Süßigkeiten zu verdanken war, mit denen die mutterlosen McCartney-Jungen von den besorgten Tanten verwöhnt wurden. Diese kleine Schwäche nutzte Mike gern aus, der schnell begriffen hatte, dass er seinen großen Bruder sofort zur Weißglut bringen konnte, wenn er ihn als „Fatty“ verspottete. Aber unter Pauls runden Wangen und den sanften braunen Augen verbarg sich ein stählerner Wille und eine Selbstsicherheit, die für einen Jugendlichen seines Alters verblüffend waren.

„Er war ein geborener Anführer – er liebte die Gesellschaft anderer und war sehr beliebt“38, sagte Jack Sweeney, der moderne Sprachen unterrichtete. „Und trotzdem hatte er eine gewisse Zähigkeit an sich. Er konnte die Klasse wirklich fesseln.“ Vor allem aber glaubte Paul, wie Sweeney sich erinnerte, ganz überzeugt an sich selbst. „Er hatte dieses außergewöhnliche Vertrauen in seine eigenen Qualitäten.“

Pauls Selbstsicherheit zeigte sich auch in jener Woche, die er mit Mike und ein paar Dutzend Mitschülern vom Liverpool Institute kurz nach dem Kirchenfest in Woolton in einem Pfadfinderlager verbrachte. Die Tage vergingen ohne weitere Vorkommnisse – abgesehen davon, dass Paul eines Tages eine gefährliche Kletterpartie anregte, bei der sich Mike den Arm brach und ins Krankenhaus nach Sheffield gebracht werden musste. Abgesehen von diesem Unfall staunte der Pfadfinderleiter Arthur Evans vor allem über Pauls Bereitschaft, etwas vorzutragen, wenn sie nachts am Lagerfeuer saßen. Paul hatte natürlich seine Gitarre mitgebracht, und sobald sich die Pfadfinder um die Flammen scharten, verwandelten sich die Abende in kleine McCartney-Konzerte voller witziger Überleitungen zwischen den damals beliebten Rocksongs und einigen McCartney-Eigenkompositionen, wie sich Evans erinnerte. „Er hatte kein Problem damit, das ganze Lager zu unterhalten, und das waren dreißig oder vierzig Jungen.“39

Die Gitarre reiste auch in den Familienurlaub mit, als Vater Jim mit seinen Söhnen ins Feriencamp Butlins nach Nord-Wales fuhr. Die Butlins-Camps waren komplett ausgestattete Freizeit-Anlagen, die den Urlaubern aus der Arbeiterklasse von morgens bis abends alle möglichen Aktivitäten boten. Ganze Scharen rot uniformierter Angestellter standen bereit, um kleine Vergnügungen zu organisieren, von Krocket-Turnieren über Kunstkurse bis zum Camp-eigenen Radiosender. Zwei Verwandte der McCartneys, Bett und ihr Ehemann Mike Robbins, arbeiteten dort als Animateure. Der ruppige, schnurrbärtige Mike organisierte und leitete auch die Abendunterhaltung im Camp sowie die Talentshow am Wochenende. Paul meldete sich sofort dafür an und verbrachte Stunden damit, seine Version von Little Richards „Long Tall Sally“ gründlich aufzupolieren. Da er allerdings erkannte, dass ein Vortrag von zwei Brüdern mit viel Harmoniegesang wesentlich mehr zu Herzen gehen würde, bat er Mike, ihn bei der Fassung des Everly Brothers-Hits „Bye Bye Love“ zu unterstützen. Sie hatten das Lied zu Hause im Wohnzimmer doch oft genug gesungen, also hatten sie es auch drauf. Das konnte doch wohl nicht so schwer sein?!

„Kommt nicht infrage“40, erwiderte Mike jedoch. Er trug schließlich immer noch den Arm in einer Schlinge. Ihm ging es nicht gut. Vor allem aber hatte er nicht die geringste Absicht, auf eine Bühne zu gehen und vor tausend fremden Leuten zu singen.

Paul suchte Unterstützung bei Jim, und der frühere Bandleader stellte sich gleich auf die Seite seines rampenlichtverrückten Sohnes. „Es ist doch nur ein bisschen Spaß. Was hast du schon zu verlieren?“

Paul lächelte. „Du machst doch mit, oder?“

Mike willigte zögernd ein, und die McCartney-Brüder gaben ihren ersten und auch letzten Auftritt als Duo. Paul beendete seine Nummer mit einer Soloeinlage des ausgiebig geübten „Long Tall Sally“, und obwohl sie zu jung waren, um sich um den Hauptpreis von 5000 Pfund zu bewerben, gewannen sie ihren ersten Fan – ein Mädchen namens Angela, das ihnen nach dem Urlaubsflirt eine Reihe schwärmerischer Liebesbriefe schickte. Sie waren allesamt an Mike adressiert, der sie allerdings jahrelang nicht zu Gesicht bekam. Sein eifersüchtiger großer Bruder hatte die Post sorgsam aus dem Briefkasten genommen, gelesen und dann ordentlich weggepackt.

* * *

Pauls erste Probe mit den Quarrymen fand an einem Samstagnachmittag im Spätsommer statt. Die Band traf sich normalerweise zu Hause bei Eric Griffiths, weil dessen Vater im Krieg gefallen war und seine Mutter arbeitete und deshalb meist nicht da war. Damit hatten die Jungs jede Menge Platz; nicht nur für ihre Instrumente und ihre Musik, sondern auch für Freunde, die vorbeikamen, um zuzuhören und zu applaudieren. Ob das besagte Treffen nun bei Griffiths, bei Colin Hanton oder bei John stattfand, darüber gehen die Erinnerungen auseinander. Auf alle Fälle herrschte zunächst Unklarheit darüber, ob Paul gekommen war, um zuzuhören oder um mitzumachen. „John hatte mir gesagt, er sei ein Kumpel von Ivan und wollte uns beim Proben zusehen“41, berichtet Rod Davis. Aber Paul hatte diesmal seine eigene Gitarre dabei, und kaum dass er sie in Händen hielt, brannte er darauf zu spielen und den anderen, vor allem John, zu zeigen, wie viele Songs er draufhatte.

„Er war sehr nett, sehr höflich. Auch sehr sauber und immer sehr gut angezogen“42, erinnert sich Colin, der die Szene vom Schlagzeug aus beobachtete. „Er zeigte John und Eric, wie man Akkorde griff und wie sie ihre Gitarren richtig stimmen konnten. Er brachte beiden bei, wie man spielt, da bin ich mir ziemlich sicher.“ Nach einer Weile übten sie auch im Wohnzimmer der McCartneys in der Forthlin Road, wobei Jim McCartney oft neben dem Klavier saß und darauf achtete, dass der kleine Mike nicht unter die Räder kam, aber auch die Hand hob, wenn er glaubte, dass das Stampfen und Dröhnen die Nachbarn im Nebenhaus stören könnte.

Bei den Proben in der Forthlin Road hatte Paul zudem Gelegenheit, seinen neuen Bandkollegen zu zeigen, dass er auch das Klavier beherrschte, um seinen Status als musikalisches Wunderkind weiter zu festigen. Sein Sachverstand beschränkte sich allerdings nicht allein auf seine eigenen Instrumente, wie Colin bald feststellen musste. „Paul sagte oft auch mir, wie ich spielen sollte“43, berichtet er; Paul nahm dann neben seinem Schlagzeug Aufstellung und schlug mit den Fingern gegen die Snaredrum, um den Rhythmus anzudeuten, der seiner Meinung nach der richtige war. Eine Angewohnheit, die dem Drummer schon bald ziemlich gegen den Strich ging. „Das kam bei mir nicht so gut an.“

Wenn sie in solchen Fällen sich rückversichernd ihren Bandleader ansahen, dann nickte John jedoch zustimmend: Macht, was er sagt. Das war für die anderen etwas nervtötend, zum einen, weil der noch ziemlich junge Paul so selbstbewusst auf seine Fähigkeiten vertraute, zum anderen, weil John zuvor stets Wert darauf gelegt hatte, dass die Quarrymen seine Band waren. Er suchte die Mitstreiter aus, er wies jedem seinen Part zu, er sang die Songs. Jeder, der ihn herausforderte, bereute das ziemlich schnell. „John konnte wirklich gemein sein,“44, gesteht Rod Davis. „Er war brillant und witzig, aber er konnte ziemlich unangenehm werden.“

Mit Paul wehte in der Band plötzlich ein anderer Wind. „Wenn John ihn nicht gemocht hätte, hätte er ihn niemals ans Mikrofon gelassen“45, sagt Colin Hanton. „Aber als Paul zu uns stieß, war John schnell bereit, ihm Raum zu geben und Paul seine Songs singen zu lassen. Sie hatten viel Respekt voreinander. Man konnte sehen, dass sich zwischen ihnen eine Freundschaft entwickelte. Und sie passten vom ersten Tag an gut zusammen.“

Und das war ein glücklicher Zufall, denn Paul hatte so viele Ideen – welche Kleidung die Band auf der Bühne tragen sollte, wie die Gitarristen vorn am Bühnenrand Aufstellung nehmen sollten, während die anderen Musiker zurücktraten, und wie sie sich als geleckte, professionelle Truppe präsentieren konnten. „Von der verlausten Skiffle-Gruppe wurden wir zu einer ziemlich gestylten Rockband“, meint Colin.

Pauls erster Auftritt mit den Quarrymen fand am 18. Oktober in einem Saal im Liverpooler Mittelklasse-Vorort Norris Green bei einer Tanzveranstaltung des Conservative Club statt. Paul hatte für das Konzert wie ein Wilder geübt, vor allem das Solo, das im Mittelpunkt des „Guitar Boogie“ stand. Die stundenlangen Proben machten sich bezahlt, denn als der große Tag gekommen war, beherrschte Paul das Stück perfekt und konnte das Gitarrensolo Note für Note nachspielen. Er sorgte dafür, dass die Musiker in gleichfarbigen Hemden und mit schmalen Krawatten auf der Bühne erschienen, und die beiden Frontmänner, Lennon und McCartney, hoben sich mit ihren cremefarbenen Jacketts zusätzlich von den anderen ab. Sie spielten ihre ersten Songs, bei denen John den Leadgesang übernahm, und alles ging glatt. Aber als John das neueste Bandmitglied vorstellte und Paul nach vorn trat, um das große Solo von „Guitar Boogie“ zu spielen, versagten dem Fünfzehnjährigen die Nerven, und er verpasste nicht nur seinen Einsatz, sondern versuchte dann auch noch, durch besonders schnelles Spiel die verlorene Zeit wieder aufzuholen, was dann lediglich dazu führte, dass er die meisten Töne verhunzte. Für Paul war das so erniedrigend („John brüllte vor Lachen“, erinnert sich Hanton), dass er vergaß, seinen großen Soloauftritt bei „Twenty Flight Rock“ einzufordern. Dennoch war der Veranstalter des Konzerts von dem neuen, melodischeren Sound der Band beeindruckt. So sehr, dass er den Quarrymen vorschlug, von jetzt an regelmäßig an den samstäglichen Tanzabenden aufzuspielen, die er in diesem Herbst in den örtlichen Sälen in der Umgebung ­organisierte.

Sie waren auf dem Weg.

* * *

Die zwei Jugendlichen waren in vieler Hinsicht wie ein Spiegelbild füreinander. Wenn John und Paul sich gegenübersaßen, deuteten die Hälse ihrer Gitarren – des Rechtshänders und des Linkshänders – in dieselbe Richtung, während ihre Finger im Gleichklang über das Griffbrett huschten. Ihre Charaktere ergänzten sich; die Hitzköpfigkeit und oft auch Unbeherrschtheit des Älteren federte sein jüngerer Partner mit seiner lächelnden, einschmeichelnden Art ab. Aber auch, wenn ihre Freundschaft unpassend anmuten mochte, spürten John und Paul vermutlich, wie gut sie die Schwächen des jeweils anderen ausglichen. John bewunderte Pauls lockere Entertainerqualitäten, sowohl auf als auch abseits der Bühne, während Paul sich in Johns bissiger Intelligenz sonnte und es genoss, dass sein Freund all die brutalen Dinge, die er, Paul, insgeheim dachte, aber nie zu äußern wagte, ohne Probleme – ja, sogar offensichtlich mit Genuss – auszusprechen wagte.

Sie beide begriffen zudem, als sie über ihr Leben sprachen und einander ihre Geheimnisse anvertrauten, dass ihre so unterschiedlichen Persönlichkeiten von demselben unaussprechlichen Verlust geprägt worden waren. Denn während Pauls Mutter gestorben war, hatten sich Johns Eltern scheiden lassen, als er noch klein war, und sich dann mehr oder weniger aus seinem Leben zurückgezogen. Das hatte John verletzt, er fühlte sich im Stich gelassen. John war aber dennoch in recht geordneten Verhältnissen aufgewachsen, bei seiner strengen, aber liebevollen Tante Mimi im grünen Vorort Woolton. Die Trennung von seinen Eltern und ein überbordendes Gefühl des Zurückgewiesenseins machten John aber offensichtlich immer noch zu schaffen.

„John war bissig und witzig aus Notwendigkeit, und darunter verbarg sich ein sehr warmherziger Charakter, wenn man ihn näher kannte“46, erklärte Paul. „Ich war das genaue Gegenteil, locker, freundlich, hatte keinen Grund, jemanden zu verletzen oder mich bitter zu zeigen, aber wenn es nötig war, konnte ich knallhart sein.“

John war die eiserne Entschlossenheit hinter Pauls freundlichem Äußeren sicherlich ebenso aufgefallen. Aber vor allem faszinierten John die musikalischem Fähigkeiten seines neuen Freundes – sein frappierendes Geschick, mit dem er die Akkorde und Melodien der Songs knackte, die sie auf dem Plattenspieler im Wohnzimmer oder knisternd und knackend über Mittelwelle auf Radio Luxemburg hörten. Dass Paul tatsächlich eigene Songs geschrieben hatte, „I Lost My Little Girl“ und noch ein paar andere, machte ihn noch interessanter, ebenso wie umgekehrt Johns Fähigkeit, seine anarchistische Energie in Rocksongs einzubringen, indem er manchmal an den Stellen, an denen er den richtigen Text noch nicht hatte herausfinden können, eigene absurde Textbruchstücke sang und damit Pauls Phantasie enorm befeuerte.

Sie erkannten intuitiv die Stärken des anderen ebenso wie die überbordende Sehnsucht, die ihnen beiden eigen war und den Rock ’n’ Roll zum Mittelpunkt ihres Lebens werden ließ. Es war wie ein körperlicher Impuls, ein Trieb, der sich aus demselben inneren Feuer speiste wie die sexuelle Begierde, die damals beinahe, wenn auch nicht ganz, ihrer Gier nach Musik gleichkam. In Pauls Erinnerung waren die frühen Tage bei den Quarrymen eng verbunden mit der Entdeckung der Sexualität, manchmal zusammen mit John und anderen Bandkollegen. Sie träumten von Mädchen und masturbierten dann, erinnerte sich Paul; eine Gruppe von Jungen, die in Sesseln saßen und in ihrer Phantasie die geheimnisvollen Welten zukünftiger Vergnügungen erkundeten. „Dann sagte irgendjemand, meistens John, sowas wie ‚Winston Churchill!‘“47, berichtete Paul. „Und damit war es mit der Konzentration der anderen vorbei.“

Wenn es jedoch darum ging, in die Geheimnisse der Musik einzutauchen, hielt sich John mit seinen Störmanövern zurück. Als Colin Hanton von einem Typ hörte, der irgendwo auf der anderen Seite der Stadt wohnte und den Dominantseptakkord H7 beherrschte – Grundelement jedes Blues-Zwölftakters, der in der Tonart E gespielt wird –, schnappten sich John und Paul ihre Gitarren und unternahmen eine vierzigminütige Busfahrt, um den besagten Gitarristen aufzusuchen. Die Fahrt dauerte sogar noch länger, weil sie nicht nur einmal, sondern zweimal umsteigen mussten, um auf dem Weg ein Exemplar der Coasters-Single „Searchin’“ aufzuspüren (sprich: zu entwenden). Das war eben jene Entschlossenheit, erkannte Paul später, durch die sich die Beatles von anderen Bands unterschieden. Ebenso, wie John und Paul von allen anderen Quarrymen.

Schon bald war ihr Leben ganz eng mit dem des anderen verbunden, teilweise willentlich, aber auch zufällig. John begann gerade sein Studium an der Kunstakademie, ein Umstand, der ihm normalerweise ganz andere Kreise geöffnet hätte, zu denen ein bloßer Oberschüler keinen Zugang hatte. Aber die Akademie, das Liverpool Art College, lag nicht nur an der Mount Street, sondern tatsächlich genau neben dem Liverpool Institute. Das erleichterte es den beiden Bandkollegen, sich entweder nach der Schule oder im Laufe der Zeit auch mitten am Tag zu treffen und gemeinsam zu schwänzen, um Platten zu hören und Kaffee zu trinken oder aber zu Paul nach Hause zu fahren, um Gitarre zu spielen und sich daran zu versuchen, eigene Songs zu schreiben. Als Energiequelle dienten Spiegeleier, Toast und Tee (den sie gelegentlich, wenn sie keine Zigaretten schnorren konnten, in Jims Pfeife rauchten). Dann saßen sie nebeneinander auf dem Sofa im Wohnzimmer neben dem Plattenspieler und quälten ihre Gitarren, bis sich aus einem Melodiefetzen eine Akkordfolge herausschälte. Als Nächstes kam der Text, der meistens an einen Song von Buddy Holly oder Elvis angelehnt war, der sie gerade inspiriert hatte. Wenn ihnen eine Idee gekommen war, die es wert schien, festgehalten zu werden, klappte Paul ein liniertes Schulheft auf, überschrieb die Seite mit Ein neuer Originalsong von Lennon-McCartney und hielt dann in seiner sauberen Schülerhandschrift alle Ideen fest. Die ersten Songs waren allenfalls rudimentär zu nennen: „Too Bad About Sorrows“, „In Spite Of All The Danger“ und eine ziemlich unerhörte Teenie-Liebesballade mit dem Titel „Just Fun“. „Like Dreamers Do“ entwickelte sich, als Paul am Klavier saß und spielte. Der Song hatte eine ähnlich aufsteigende Akkordfolge wie „Stairway To Paradise“. Die knackige Rocknummer „One After 909“ zeichnete sich durch einen stampfenden Rhythmus und einen cleveren Text aus, der einen klagenden Blues mit einer verrückten Geschichte aus falsch gelesenen Anweisungen verband.

„Wir sahen uns schon so ziemlich als das nächste große Songwriterteam“48, sagte Paul viele Jahre später. „Und lustigerweise wurden wir das dann auch.“ Dennoch, damals versuchten sie lediglich, ihre Energie zu kanalisieren und ihren eigenen Weg zu finden, um sich auszudrücken. Einmal machten sie sich sogar daran, ein Theaterstück zu schreiben, und skizzierten eine modernistische Fabel über eine Jesusgestalt namens Pilchard, der möglicherweise der Messias ist, vielleicht aber auch nicht. Seine Jünger finden es nie heraus, weil er den Raum im Obergeschoss, in dem er lebt, niemals verlässt. Die genaue Handlung lässt sich nicht mehr rekonstruieren, aber schon allein Pauls Beschreibungen erinnern stark an Samuel Becketts Warten auf Godot. Lennon und McCartney sollten jedenfalls niemals in den Ruf eines großen Dramatikers gelangen.

Musik war alles, was sie interessierte, alles andere nahmen sie kaum wahr. Die Quarrymen hatten einmal als Hobby angefangen – „als Spaß“, um mit Rod Davis zu sprechen –, und die Auswahl der Bandbesetzung hatte mehr mit Freundschaft als mit Musikbegeisterung zu tun gehabt, von der Beherrschung eines Instruments ganz zu schweigen. Aber nun, da John von Paul inspiriert und dessen Einfluss immer stärker wurde, entwickelten sich die Quarrymen zu einer ganz anderen Band. Der Sound ging weg vom Skiffle und näherte sich mehr dem klassischen amerikanischen Rock ’n’ Roll. Deshalb wurde es unumgänglich, dass sich irgendjemand eine elektrische Bassgitarre anschaffte. Eric Griffiths war dafür der offensichtliche Kandidat, denn nun, da John und Paul beide vorn standen und Gitarre spielten, war er als dritter Gitarrist überflüssig. Griffiths wollte das jedoch nicht, also war er raus. Nicht, dass man ihm das irgendwann mitgeteilt hätte; man verlegte einfach eine Probe und erzählte Griffiths nichts davon. Andere Mitglieder verließen die Band aus persönlichen Gründen. Der Teekistenbassist, Len Garry, fing sich eine beinahe tödliche Hirnhautentzündung ein und lag monatelang im Krankenhaus. Nigel Walley, der manchmal mitgespielt, manchmal auch als Manager fungiert hatte, landete ebenfalls in der Klinik und verpasste so den Anschluss. Banjospieler und Gitarrist Rod Davis stieg aus eigenem Antrieb aus, angeblich, um sich mehr auf die Schule zu konzentrieren, wobei es wohl eine größere Rolle spielte, dass er Rock ’n’ Roll und vor allem Elvis Presley ätzend fand („Ich hielt den Kerl für einen totalen Idioten“49, erklärt er). Als der Abschied von Waschbrettspieler Pete Shotton anstand, schlug John seinem alten Freund schlicht das besagte Instrument über den Kopf. Das führte zu einem plötzlichen hysterischen Lachanfall. Shotton nahm es philosophisch: „Für mich war dieses Leben nichts“50, sagte er dem Beatles-Biografen Hunter Davies 1967. „Ich stand nicht gern oben auf der Bühne, das war mir zu ­peinlich.“

Musik zu machen, das bedeutete für John und Paul, sich über das peinliche Gefühl hinwegzusetzen: Es war eine Art, Gefühle auszudrücken, die man in einem Gespräch nie äußern konnte. Schon bald war die Verbindung, die sich über das Gitarrenspiegelbild zwischen ihnen entwickelt hatte, so stark, dass der eine wusste, was der andere dachte, ohne dass ein Wort fiel. Ende des Winters waren sie so mit den Gedanken und Gefühlen des jeweils anderen verbunden, dass sie, wie ein Freund berichtete, oft gegenseitig ihre Sätze vervollständigten.

Musik war auch das verbindende Element in der Freundschaft, die Paul zu einem anderen Schüler des Liverpool Institute pflegte, der aus Speke kam und etwas jünger war als er. Er hieß George Harrison und war Sohn eines Busfahrers. Sie waren sich bereits einige Jahre zuvor begegnet, als die McCartneys noch in unmittelbarer Nähe des Hauses der Harrisons in Upton Green wohnten. Damals war Paul allerdings nur einer von den vielen Jungs gewesen, die draußen Verstecken spielten oder in den Bombenkratern und verlassenen Grundstücken der Gegend herumrannten und so taten, als seien sie Cowboys oder Piraten. Offiziell lernten sich Paul und George im Bus der Linie 86 kennen, die sie aus den südlichen Vororten ins Stadtzentrum zur Schule brachte, und obwohl sich George – der sein Haar höher aufgetürmt hatte und der engere Hosen trug, als Paul sich je getraut hätte – als richtiger Teddyboy präsentierte, war er ein echter Rock ’n’ Roll-Fan, der dieselben obskuren Rhythm & Blues-Songs mochte wie Paul und John. Und er hatte auch eine Gitarre. Vor allem aber konnte er dieses Instrument so flüssig und geschickt spielen, wie Paul es bei keinem seiner eher etwas unbeholfenen Kumpels je zuvor gesehen hatte. George war in der Jahrgangsstufe unter Paul, und daher hatten sie keinen gemeinsamen Unterricht. Aber sie trafen sich auf dem Schulhof (George war regelmäßig in der Raucherecke anzutreffen, einem versteckten, betonierten Platz hinter einem Nebengebäude, wo die ungezogenen Jungs sich unentdeckt von den Lehrern eine Zigarette anstecken konnten) und im Bus, und dort unterhielten sie sich und tauschten sich im Fachjargon echter Fans über Akkorde und Soli aus.

Paul wusste, dass George eine perfekte Ergänzung für die Quarrymen sein würde, vor allem, seit ihm selbst beim „Guitar Boogie“ diese peinliche Panne passiert war, aber da George mit seinen vierzehn Jahren sogar noch jünger war als Paul, zögerte John. Es ging einfach nicht, dass ein siebzehnjähriger Kunststudent mit so einem Bubi in einer Band spielte. Aber Paul war von George überzeugt und ging davon aus, dass John dessen Qualitäten auch erkennen werde, wenn er dem Jungen erst einmal zugehört habe. Also plante Paul sorgsam ein Treffen, das dann scheinbar spontan im oberen Sitzbereich eines Doppeldeckerbusses stattfand; er stellte George vor, und der hatte schnell seine Gitarre hervorgezogen und zeigte sein Können – wie Paul versprochen hatte, beherrschte er eine notengetreue Version von Bill Justis’ Cowboy-Instrumentalrocker „Raunchy“. John war überwältigt, aber immer noch nicht überzeugt. Dennoch ließ Paul nicht locker, und ein paar Wochen später richtete er es so ein, dass George dazustieß, als die Quarrymen bei einer Party im Morgue auftauchten, einem inoffiziellen Club, der in einem ehemaligen Leichenschauhaus untergebracht war und von einem Liverpooler Musiker namens Rory Storm betrieben wurde.

„Es war eine fürchterliche Absteige“51, erinnert sich Colin Hanton. „Das Gebäude sollte abgerissen werden, und um Strom zu haben, hatte man draußen eine Straßenlaterne angezapft. In der Ecke eines Raumes befand sich eine ganz kleine Bühne. Dann kam dieser winzige Kerl mit seiner großen Gitarre an, und irgendjemand sagte: ‚Das ist George.‘ Dieser kleine Bursche mit seiner Riesengitarre stellte sich dann hin und spielte ‚Raunchy‘, und er war ziemlich gut.“ Vielleicht merkte John, wie beeindruckt seine Bandkollegen von der Vorstellung des kleinen George gewesen waren. Als Hanton drei Tage später zufällig Nigel Walley traf, erfuhr er jedenfalls, dass John beschlossen hatte, George in die Band aufzunehmen.

Paul dachte dabei bereits an einen weiteren Neuzugang. Auf der Schule hatte er den Musikunterricht mit einem Jungen namens John Lowe zusammen über sich ergehen lassen, und obwohl sie während des Schuljahrs nur selten miteinander gesprochen hatten, änderte sich das eines Tages, als der Lehrer für kurze Zeit einmal den Klassenraum verließ und sich Duff, wie Lowe genannt wurde, ans Klavier setzte. Er hatte schon jahrelang Unterricht gehabt, sich selbst aber auch beigebracht, Boogie-Woogie zu spielen. Als er ein paar Takte einer Jerry Lewis-Nummer anspielte, bekam Paul große Augen. Sie kamen ins Gespräch, und ein paar Wochen später holte Paul seinen neuen Freund ebenfalls zu den Quarrymen. „Paul gab mir eine Liste mit den Songs, die sie spielten, und schrieb dazu, in welcher Tonart sie waren. ‚Boney Maroney‘ zählte dazu, und ich glaube, auch ein paar Titel der Everly Brothers. Außerdem ‚That’ll Be The Day‘, ‚Twenty Flight Rock‘, ‚Mean Woman Blues‘. Insgesamt so um die zwölf Songs.“52 Wenig später erschien Duff an einem Sonntagnachmittag zu seiner ersten Probe mit den Quarrymen. Man stellte sich kurz einander vor, dann legten sie los und ließen es mit „That’ll Be The Day“ richtig krachen, während Jim McCartney angespannt neben dem Klavier saß und mit flehentlichen Handbewegungen versuchte, die Jungs dazu zu bewegen, dass sie leiser spielten. Ein oder zwei Wochen später gab Duff sein Konzertdebüt, als die Gruppe in der Pause zwischen anderen, größeren Bands ein paar Titel präsentieren durfte. Die Quarrymen hatten keine große Fangemeinde, aber als sie eines Abends im Winter ein Engagement im Cavern Club bekamen, verwandelten sie den feuchten, kleinen Kellerraum in einen echten Hexenkessel.

„Die Mädchen saßen normalerweise auf den Plätzen vor der Bühne, und an den Seiten war Platz zum Tanzen“53, erinnert sich Colin Hanton. „Und eines Abends spielten wir dort und rockten richtig ab. Aber die Leute standen dauernd auf. John war völlig fertig, weil er glaubte, dass alle gingen.“ Sie konnten natürlich nicht sehen, dass es hinter den steinernen Säulen, die den Keller in drei Bereiche unterteilten, ganz heiß herging. „Aber später kamen Pete und Nigel zu uns und sagten: ‚Das war super! Alle haben getanzt! Sie sind alle aufgestanden und haben abgehottet!‘ Und das war’s. Das war wohl ein wegweisender Auftritt, oder?“

Nun, da die Besetzung aus John, Paul und George an der Gitarre, dem flinkfingerigen Duff am Klavier und dem verlässlichen Colin am Schlagzeug bestand, waren die Quarrymen also in der Lage, die desinteressierten Jugendlichen, wie man sie bei den frühen Gigs im Cavern Club Anfang 1958 antraf, von den Sitzen zu reißen und begeistert zum Tanzen zu bringen. Vielleicht lag es nicht unbedingt am Sound – die drei Gitarristen spielten noch immer einfache, billige Akustikgitarren, wie sie viele Teenager besaßen, die den Ehrgeiz entwickelt hatten, irgendwann endlich den G-Akkord greifen zu können. Und sie waren auf ihren Instrumenten auch nicht besonders sicher. „Ehrlich gesagt, sie konnten kaum richtig spielen“, meint Duff. Aber in den vielen Stunden, die sie zusammen gespielt und gesungen hatten, hatten John und Paul gelernt, wie durch Telepathie miteinander zu kommunizieren. Egal, was sie spielten, es machte den Anschein, als ob sie die nächste Aktion des anderen vorausahnten, noch bevor der selbst wusste, was er tun wollte. Wenn sie sangen, verbanden sich ihre Stimmen ganz natürlich miteinander; John übernahm mit seiner tieferen und raueren Stimme die Melodie, und Pauls heller Gesang legte sich auf harmonische Weise weicher darüber.

Aber dennoch bekamen sie immer wieder zu spüren, dass die Quarrymen noch lange nicht den Sprung ins Profilager geschafft hatten. Bei einem Vorspieltermin in einem Arbeiterclub in der Nähe des Liverpooler Fußballstadions hatten die Quarrymen mit ihrer Mischung aus Rock ’n’ Roll-Hits und ein paar Skifflesongs das Nachsehen gegenüber einem seltsamen Kerl mittleren Alters, dessen Show darin bestand, Gläser zu essen und sich dann Zeitungspapier in den Mund zu stopfen, um die Blutungen zu stillen. Bei einer Tanzveranstaltung in einer Schule ein paar Wochen später stand das Klavier, das die Veranstalter für Duffy bereitgestellt hatten, nicht auf der Bühne, es war nicht einmal im Saal. „Die anderen standen oben auf dem Podest“54, erinnert sich Duff. „Und ich spielte draußen im Flur.“

In der Hoffnung, dass eine selbstproduzierte Platte ihre Talente vielleicht eher ins rechte Licht rücken würde, verbrachte die Band ein paar Wochen damit, Buddy Hollys „That’ll Be The Day“ perfekt einzustudieren und außerdem Pauls lebhafte, wenn auch stark von verschiedenen Rhythm & Blues-Mustern abgekupferte Nummer „In Spite Of All The Danger“ als B-Seite vorzubereiten. Sie buchten sich eine Session in einem halbprofessionellen Studio, das im Nebenraum des Elektrogeschäfts eines gewissen Percy Phillips untergebracht war, und hauten beide Titel in einem einzigen Durchgang raus. Eine Stunde später hielt die Band mit der frischgepressten Schellackplatte eine greifbare Verkörperung ihrer kühnsten Träume in Händen. Sie einfach nur festzuhalten, war schon aufregend. Dass man sie dann noch auf den eigenen Plattenteller legen konnte und die eigene Stimme und die eigenen Instrumente aus einem Lautsprecher hörte, aus dem sonst Elvis und Buddy und all ihre anderen Helden schallten – das war sogar noch besser. „Wir einigten uns darauf, sie immer die Runde machen zu lassen“, erinnert sich Duff. „Aber irgendwie blieb die Platte am Ende in meinem Besitz. Es dauerte Jahre, bis ich mir mal eine andere Beatles-Platte kaufte.“

Duff verließ die Quarrymen wenige Wochen später. Er hatte eine neue Freundin, und das einzige Mal, als er sie zu einer Probe in die Forthlin Road mitnahm, brach sie angesichts dessen, was sie da hörte, nicht gerade in Begeisterungsrufe aus. „Es war ein schrecklicher Lärm in diesem kleinen Raum“, sagte Duff. „Sie wollte lieber ein bisschen spazieren gehen. Also ging ich nicht mehr hin, so einfach war das.“55

Vielleicht war es sogar noch einfacher. Als Duff sich verabschiedete, um lieber Spaziergänge mit seiner Freundin zu machen, nur wenige Wochen nach ihrem ehrgeizigen Besuch in Percy Phillips Aufnahmestudio, gab es die Quarrymen nicht mehr.

* * *

Es brach alles am Abend des 15. Juli zusammen, einen Tag, nachdem sie beinahe den großen Sprung in die Welt der Schallplattenstars geschafft hatten. John war zu seiner Mutter gefahren und wartete mit ihrem Freund, mit dem sie die Wohnung teilte, und ihren gemeinsamen Töchtern darauf, dass Julia nach Hause kam. In den letzten Wochen waren sich Mutter und Sohn recht nahegekommen und hatten eine enge Verbindung zu einander aufgebaut, wenn auch vielleicht keine typische Mutter -Sohn-Beziehung. Julia unterhielt sich und alberte mit ihrem Sohn herum, als seien sie enge Freunde, die ein wenig flirten. Ihre Beziehung linderte ein wenig die Verletzungen, die John seit seiner Kindheit erlitten hatte, und so besuchte er sie oft und gern und war durchaus bereit, ein wenig auf sie zu warten.

Wie sich später herausstellte, war Julia währenddessen bei ihm zu Hause und besuchte ihre ältere Schwester Mimi. Gegen neun Uhr abends verabschiedete sie sich, unterhielt sich noch kurz mit Nigel Walley, der auf der Suche nach John war, und schickte sich an, die Straße zu überqueren, um dort auf den nächsten Bus zu warten. Julia schaffte es nicht mehr über die Menlove Avenue. Als sie hinter der Hecke hervortrat, die am Rand des begrünten Mittelstreifens der breiten Straße wuchs, wurde sie von einem heranrasenden Auto erfasst. Ihr Körper wurde dreißig Meter weit geschleudert. Walley, der Zeuge des Unfalls wurde, rannte sofort zu ihr. Als er sie erreicht hatte, wusste er, dass sie tot war, noch bevor er sie berührt hatte.

John, der immer noch darunter litt, dass seine Mutter ihn als kleines Kind verlassen hatte, war am Boden zerstört. Er war so mitgenommen, dass er nicht einmal mit Paul über diese Tragödie sprach, obwohl er natürlich wusste, dass Paul vor zwei Jahren denselben Verlust erlitten hatte. Stattdessen zog er sich in sein Zimmer zurück und schloss die Tür. Wenn er das Haus verließ, dann nur, um in einem Pub genug zu trinken, bis er aus seinem Schmerz eine Waffe schmieden konnte. Er war gehässig zu seinen Freunden und provozierte Streit und Schlägereien mit Fremden. „Die Komplexe, die ich schon als Kind gehabt hatte, wurden damals riesengroß“, sagte John der Zeitschrift Playboy viele Jahre später.

Johns Gitarre – das Symbol seiner Verbindung zu Julia – stand in einer Zimmerecke und setzte Staub an. Bandproben kamen überhaupt nicht infrage. Es dauerte Wochen, bis Paul ihn dazu bewegen konnte, ihm überhaupt die Tür zu öffnen, und noch länger, bis John sich wieder mit ihm zusammensetzen wollte, um ein oder zwei Songs zu schreiben. Als er schließlich wieder dazu bereit war, organisierte Paul einige Proben, die nun bei John zu Hause stattfanden, um es dem Bandboss, der noch immer eine sture Gleichgültigkeit zeigte, möglichst einfach zu machen. Paul hielt auch im Herbst weiter daran fest, als er und John wieder zum Unterricht an den jeweiligen Schulen gingen. Johns Freunde an der Kunstakademie waren entsetzt, als sie erfuhren, was ihrem Klassenkameraden im Sommer widerfahren war. John trauerte den ganzen Herbst und Winter um Julia und flüchtete sich in ein immer ausschweifenderes, feindseligeres Verhalten. Um seinen Zorn auf die ganze Welt irgendwie herauszulassen, griff er Fremde ebenso an wie Freunde.

Bill Harry, ein aufstrebender Autor, der sich mit John in dessen erstem Jahr auf der Kunstakademie angefreundet hatte, erinnert sich: „Viele Leute verloren die Geduld mit John.“56 Im Krieg oder durch Krankheiten hatten so viele junge Menschen ihre Eltern verloren, dass es vielen ähnlich ging wie ihm. Und kaum jemand reagierte deswegen so aggressiv wie er. „Niemand von uns hatte eine so extreme Selbstmitleidsphase durchgemacht. Man dachte allgemein, Augen zu und durch.“

Aber Paul schien endlose Geduld mit John zu haben. Er schwänzte den Unterricht, um mit seinem Freund im Jacaranda Coffehouse Kaffee zu trinken, oder verbrachte die Nachmittage damit, sich an einem einsamen Bier festzuhalten und auf der Jukebox im Ye Cracke Pub Rock ’n’ Roll-Songs zu hören. Natürlich hatte Paul sowieso mehr Lust, Zeit mit John zu verbringen, als sich durch die Lektionen und Aufgaben zu arbeiten, die auf seinem Pult im Liverpool Institute auf ihn warteten. Aber die Stunden, die sie miteinander verbrachten, waren auch emotional bedeutsam. Selbst wenn sie selten über den Schmerz sprachen, den der Tod ihrer Mütter in ihnen ausgelöst hatte, sorgte das gemeinsame Empfinden und Johns große, noch offene Wunde für eine Verbindung, die ebenso kraftvoll war, wie sie unausgesprochen blieb. Paul sprach später von einem „ganz besonderen Band, etwas, das uns gehörte, etwas Besonderem“57. Selbst wenn man nur schweigend dasaß und mit dem Kopf im Takt von Elvis’ „All Shook Up“ oder Gene Vincents „Blue Jean Bop“ nickte – wenn man dann den anderen ansah, war es, als erhascht man einen Blick auf die Seele eines Menschen, der ebenfalls genau wusste, dass diese Songs auch das allerschlimmste Schweigen füllen konnten. „Wir sahen einander an“, sagte Paul, „und wussten Bescheid.“

Paul begann, seine Mittagspause größtenteils in der Cafeteria der Kunsthochschule zu verbringen, mit John und seinen älteren Freunden zu essen und zu rauchen. Schließlich begleitete ihn auch George dorthin, und wenn jemand eine Gitarre dabei hatte (und das war bei Paul und George meistens der Fall), dann packten sie das Instrument aus und sangen gemeinsam ein paar Songs. Wenn es auch den Studenten zunächst komisch vorkam, dass ihre Cafeteria von Jugendlichen in Schuluniformen gestürmt wurde, über die Musik beschwerte sich niemand. Irgendwann gehörte Lennon mit seinen Bubi-Kumpels einfach zum Gesamtbild. „Sie waren so oft dort, dass ich sie immer nur die College-Band nannte“58, sagt Harry.

Ein Bandmitglied, das bei diesen Mittagssessions nie auftauchte, war Schlagzeuger Colin Hanton, der die Schule verlassen hatte, um eine Lehre als Polsterer zu machen. Er hatte außerdem eine Freundin und war Anfang 1959 zu dem Schluss gekommen, dass die Sache mit den Quarrymen ihr natürliches Ende gefunden hatte. „Ich hatte nie das Gefühl, dass es für uns irgendwohin ging. Jedenfalls hatte ich in der Hinsicht auch gar keinen Ehrgeiz. Ich war nur aus Spaß und wegen des Guinness mit dabei“59, sagt er. Aber als es Paul gelungen war, einen Gig in einem Arbeiterclub zu organisieren, packte Hanton dann doch wieder sein Schlagzeug zusammen und war bereit mitzuspielen. Das erste Set der Band lief so gut, dass der Clubbesitzer sie zur Bar führte und ihnen in der Pause Bier auf Kosten des Hauses anbot. Leider blieb es nicht bei einem. „Als das zweite Set begann, waren John, Paul und ich ziemlich besoffen. Und das ganze Programm verkam zu einer betrunkenen Katastrophe.“

Es kam jedoch noch schlimmer. Ein Manager, der zu der Vorstellung gekommen war, um herauszufinden, ob die Quarrymen die richtige Band zur Pausenunterhaltung in einer Bingohalle waren, erschien nach dem Konzert in der Garderobe und erläuterte ihnen genüsslich, weswegen er ihnen kein Engagement anbot. Strikt zurückgewiesen und immer noch betrunken, stolperten die Musiker zur nächsten Bushaltestelle und fuhren nach Hause. Paul begann, mit der typisch betonungsfreien Art eines Gehörlosen zu sprechen. Es war ihre neueste Masche, eine bösartige Imitation, von der er wusste, dass sie John aufheitern würde, der stets einen perversen Spaß daran hatte, sich über Behinderte lustig zu machen. Beide wussten jedoch nicht, dass Hanton auf der Arbeit einen Freund hatte, der taub war und genauso sprach. Nach diesem beschämenden Abend, vielleicht aber auch wegen der Tatsache, dass Paul ihn schon seit Monaten ständig verbessert hatte, explodierte Hanton endlich.

„Ich baute mich vor Paul auf und sagte ihm, er sollte verdammt noch mal die Klappe halten“, sagte Hanton60. „Er wirkte schockiert. Das hatte er wohl nicht erwartet. Ich wusste, dass er niemand Besonderen nachmachte, es war einfach diese Stimme. Aber das und die Sache mit dem Kerl von der Bingohalle gaben mir den Rest. Ich packte mein Schlagzeug oben auf meinen Kleiderschrank, und das war das letzte Mal, dass ich den Jungs begegnet war.“

Paul McCartney - Die Biografie

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