Читать книгу Paul McCartney - Die Biografie - Peter Ames Carlin - Страница 9

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Kapitel 2

Das Liverpool Institute liegt auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Stadtzentrums und ist ein imposantes Gebäude, dessen Säulenfassade, dem griechischem Stil nachempfunden, einen hübschen Kontrast zur eher schlichten protestantischen Liverpooler Backstein-Kathedrale bildet, die ganz in der Nähe an der Hope Street steht. Der Schultag folgte damals, Mitte der 1950er-Jahre einem straffen Plan, bei dem die Betonung auf strikter Disziplin und intensivem Lernen lag. Der Morgen begann mit der Versammlung aller Schüler in der Kapelle, wo der kahl werdende, an einen Raubvogel erinnernde Direktor J. R. Edwards Gebete sprach und dem Musiklehrer Les „Squinty“ Morgan den Einsatz gab, der die Schulhymne auf der großen Orgel spielte. Anschließend stiegen die Jungen die Wendeltreppen zu den Klassenräumen empor und bekamen Unterricht in Englisch, Mathematik, Geschichte, Musik und Fremdsprachen.

Von dem Augenblick an, als Paul McCartney im Herbst 1953 zum ersten Mal die Schule durch die Seitentür betrat (der majestätische Haupteingang war den Schülern der obersten Klasse vorbehalten), machte er auf seine Lehrer und Mitschüler großen Eindruck. Der Deutschlehrer Arthur Evans bezeichnete ihn als „ausgesprochen liebenswert“, als einen Jungen, der „stets einen flotten Spruch auf den Lippen hatte, aber dabei niemals unverschämt wirkte“11. Von seinen Mitschülern zum Klassensprecher gewählt, musste Paul zu Anfang der Stunden eine Anwesenheitsliste führen und als eine Art Vermittler zwischen Schülern und Lehrern fungieren. „Er war dafür verantwortlich, dass es in der Klasse lief“, erinnerte sich Alan „Dusty“ Durband, der englische Literatur unterrichtete. „Aber er hat sich nie bei irgendjemandem angebiedert, er war einfach ein guter Organisator.“12

Er war so gut, dass seine Lehrer den stetigen Strom lustiger Bemerkungen in der Regel überhörten, die er seinen Sitznachbarn im Unterricht zuflüsterte. Wenn er jedoch die Stimme erhob, dann konnte sich der stets gut gelaunte Junge so elegant aus einer Klemme herausmanövrieren, dass viele Lehrer gar nicht merkten, wie sie manipuliert wurden. Wenn es in der Geschichtsstunde langweilig wurde, hob Paul die Hand und fragte den Lehrer Cliff Edge irgendetwas nach dessen geplanter Urlaubsreise. Wo wollte er noch einmal hinfahren, hatte er gesagt? Das reichte meist für eine unterhaltsame Viertelstunde. Wenn die Jungen im Deutschunterricht einzuschlafen drohten, machte Paul wie nebenbei eine Bemerkung über einen interessanten Bus, den er am Morgen die Mather Avenue hatte entlangfahren sehen, und dann vergaß Norman Forbes in der Regel, dass er eigentlich Verben hatte konjugieren lassen wollen. Wenn Paul dann die Sprache auf die Kampagne des Deutschlehrers brachte, der bei der Stadt Liverpool mehr Rechte für Fußgänger durchsetzen wollte, war die Stunde meist so gut wie gelaufen. Für Evans, der Paul im Unterricht, aber auch im einwöchigen Pfadfinderlager während der Sommerferien erlebte, war der charismatische Junge ein lebender Widerspruch. Er war, so Evans, „ein konformistischer Rebell“13, ein Bilderstürmer, dessen sanfter Spott teilweise überdecken sollte, dass er im Grunde fest an die althergebrachte Ordnung glaubte. Zumindest insoweit, als sie ihm nicht in die Quere kam.

„Viele Leute mochten die Schule nicht“14, erinnerte sich Paul in den frühen Neunzigern. „Ich war ebenfalls nicht besonders begeistert, aber ich fand sie auch nicht gerade schrecklich. Ein paar Sachen gefielen mir sogar sehr gut. Was mir jedoch nicht gefiel, war, dass man mir ständig sagte, was ich tun sollte.“

Meistens lief aber alles so, wie Paul es sich dachte. 1955 zogen Jim und Mary mit ihren Jungs in ein Haus der neu errichteten Arbeitersiedlung an der Forthlin Road in Allerton, einem Vorort nordwestlich von Speke, der wieder näher zur Liverpooler Innenstadt gelegen war. Die Häuser gehörten der Gemeinde, und die subventionierte Miete belief sich auf 1 Pfund 6 Schilling die Woche – äußerst günstig für ein ordentliches Reihenhaus mit Ziegelfassade, das drei Schlafzimmer, ein sonniges Wohnzimmer mit Fenstern nach Osten und eine moderne Küche besaß, in der sogar genug Platz für eine Waschmaschine war. Der größte Luxus befand sich jedoch im Obergeschoss: eine Toilette im Haus, direkt gegenüber dem Badezimmer. Jim pflanzte Lavendelbüsche in den Vorgarten (er trocknete die Blüten, und Mary tat sie in kleine Säckchen, die sie überall im Haus versteckte, damit die Wohnung gut roch), und die Abendsonne ruhte auf der Rasenfläche des Gartens, in dem zwei Liegestühle zum Ausruhen einluden. Die Familie zog zu Beginn des Sommers dort ein, als sie gerade die Nachricht erhalten hatten, dass auch Mike beim 11-Plus-Examen unerwartet gute Ergebnisse erreicht hatte. Nun würden beide McCartney-Jungen das Liverpool Institute absolvieren.

Die McCartneys hätten sich wirklich vom Schicksal begünstigt fühlen können. Sie waren zwar immer noch eine Arbeiterklasse-Familie – die Baumwollindustrie erstarkte nie wieder so, dass Jim die Karriere, die er einst so sicher geglaubt hatte, hätte fortsetzen können. Aber Mary verdiente gut, sie hatten ein schönes Zuhause und zwei Söhne, die Anstalten machten, gesellschaftlich aufzusteigen. Dennoch hatte Mary schon fast zehn Jahre lang eine lastende Dunkelheit heraufziehen gefühlt, und im Sommer 1956 spürte sie, dass der Schmerz erneut in ihr aufstieg.

Sie fühlte ihn nun tief in ihrem Körper, so heftig, dass sie sich zusammenkrümmen musste, die Hände gegen die schmerzende Brust gelegt. Eines Nachmittags, kurz nachdem er am Liverpool Institute angefangen hatte, lief Mike die Treppe zu seinem Zimmer empor und sah seine Mutter weinend auf dem Bett sitzen, in einer Hand ein Kruzifix, im anderen das Porträt eines Verwandten, der katholischer Priester geworden war.

„Was ist los, Mum?“, fragte er.

Mary hob schnell den Kopf und wischte sich die Tränen weg. „Nichts, mein Liebling.“15

Bei der nächsten Untersuchung in der Klinik zeigten die Röntgenaufnahmen, dass der Krebs sich ausgebreitet und andere lebenswichtige Organe befallen hatte. Man konnte nichts mehr tun, außer, das Unvermeidliche noch ein wenig hinauszuzögern. Eine Brustamputation würde die Krankheit vielleicht eine Weile zum Stillstand bringen – für Wochen, vielleicht auch für Monate. Würde sie den nächsten Frühling noch erleben? Vielleicht, aber nur, wenn sie die Operation sofort durchführen ließ.

Der Eingriff fand am 30. Oktober statt. Mary blieb ein Tag Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Sie machte den Jungen Frühstück und putzte danach von oben bis unten das Haus. Sie wusch ab, fegte alle Böden, machte die Betten der Jungen, wusch und bügelte die Schulkleidung für den nächsten Morgen, bevor sie die Sachen wie immer ans Fußende der Betten legte. Ihre Schwester Dill brachte sie am Nachmittag ins Krankenhaus und schüttelte den Kopf, als sie sah, dass Mary so geschuftet hatte, obwohl die Ärzte sie angewiesen hatten, sich vor der Operation auszuruhen. Mary zuckte nur die Achseln. Es musste alles in Ordnung sein, sagte sie, „für den Fall, dass ich nicht wiederkomme.“16

Am Abend wurde Mary in den Operationssaal gebracht. Der Eingriff dauerte mehrere Stunden, bevor die Ärzte schließlich erklärten, dass alles gut gegangen sei. Aber die Krankheit hatte ihren Körper bereits zu sehr geschwächt, und sie hatte nicht mehr die Kraft zur Genesung. Mary erwachte am Morgen, aber die dunklen Ringe um die Augen sprachen eine deutliche Sprache. Am nächsten Tag fiel ihr Blutdruck, und die Ärzte wussten, dass es mit ihr zu Ende ging.

Beide Familien, die McCartneys und die Mohins, versammelten sich an ihrem Bett. Jim fuhr zurück in die Forthlin Road und sagte seinen Söhnen, sie könnten ihre Mutter besuchen, müssten sich aber erst Hände und Gesicht waschen und ihre Schuluniform anziehen. Er war sich darüber im Klaren, was ihnen bevorstand, und es kostete ihn große Mühe, sich auf dem Weg zurück ins Krankenhaus zusammenzureißen. Dort angekommen, nahm er seine Schwägerin Dill Mohin beiseite und bat sie nachzuschauen, ob Fingernägel und Ohren der Jungen wirklich sauber waren. Anschließend wurden Paul und Mike den Flur entlang in Marys Krankenzimmer geführt. Sie stützte sich auf einen Ellenbogen, um sie zu begrüßen.

Mike sprang auf ihr Bett, um sie zu umarmen, und sie versuchte zu lächeln. Beide küssten ihr Gesicht, und sie griff nach ihren Händen. Aber Paul entdeckte einen beängstigenden roten Fleck auf den weißen Laken, und ihm dämmerte allmählich die grauenhafte Wahrheit. „Es war schrecklich“, erinnerte er sich.17

Mary versuchte nicht zu weinen. Sie sprachen einige Minuten mitein­ander. Noch mehr Küsse und ein schneller Abschied. Paul und Mike berührten ein letztes Mal das Gesicht ihrer Mutter mit ihren Lippen und wurden dann wieder nach Hause gebracht. Eine Stunde später legte ihr der Priester, der das Krankenhaus geleitet hatte, in dem sie gearbeitet hatte, einen Rosenkranz ums Handgelenk und gab ihr die Letzte Ölung. Mary wandte sich zu ihrer Schwester und flüsterte: „Ich hätte die Jungen so gern erwachsen werden sehen.“18

Pauls lebhafteste Erinnerung an diesen Tag war, dass er im schlimmsten Moment etwas völlig Unpassendes sagte. Die Worte kamen einfach aus seinem Mund, und er konnte sie nicht wieder zurücknehmen. Sie hingen in der Luft und schwelten wie die Trauer in der Tiefe seiner Magengrube.

Er hatte es nicht so gemeint. Er hatte nicht gewusst, was er hatte sagen sollen. Was konnte man denn auch sagen? Alles andere war wie verschwommen: seine Onkel und Tanten blass und verweint, sein Vater, der so erschüttert war, dass er seinen Söhnen nicht einmal gegenübertreten konnte.

Eure Mutter … die Ärzte haben getan, was in ihrer Macht stand … ich muss euch leider sagen, dass sie letzte Nacht gestorben ist. Sie ist nun im Himmel bei Gott …

Keiner der Jungen weinte oder schrie auf. Sie blinzelten vielleicht und nickten. Sie verstanden. Sie würden ein paar Tage bei Onkel Joe und Tante Joan bleiben, weil ihr Vater etwas Zeit brauchte, um allein zu sein. Wollten sie heute noch in die Schule? Ja, das wollten sie, das war ihnen recht. Was hatte ihnen ihr Vater immer gesagt, wenn das Leben hart zuschlug: Weitermarschieren. Und genau das taten sie. Sie stopften sich das Hemd in die Hose und machten sich bereit zum Aufbruch. Und plötzlich fand Paul dann doch einige Worte.

Was tun wir jetzt bloß ohne ihr Geld?19

Hatte das jemand gehört? War es jemandem aufgefallen? Wahrscheinlich nicht. Der Einzige, der sich überhaupt daran erinnerte, diese Worte gehört zu haben, war Mike. Der Schock der Ereignisse hatte den jüngsten McCartney so sehr mitgenommen, dass er jahrelang dachte, er selbst hätte es gesagt. „Es war ein blöder Witz“, erinnerte er sich zehn Jahre danach. „Wir haben es beide monatelang bereut.“20

Es gab so viel zu bedauern. So vieles, das sie vermissten. Marys Abwesenheit ließ das kleine Haus in der Forthlin Road plötzlich riesengroß erscheinen. Der verlockende Duft ihrer Hefebrötchen stieg nicht mehr in die Morgenluft. Das vertraute Klappern des Geschirrs im Spülstein, der Geruch ihres Tees und ihrer Zigaretten, der Klang ihrer Stimme, wenn sie die Treppe hinaufrief, all das fehlte. Es war verschwunden, zusammen mit den Umarmungen, den kleinen, heimlich zugesteckten Leckereien, der sanften Kraft ihrer Arme, wenn sie die Jungen an sich zog.

Die Tragödie erschütterte die Grundfesten all dessen, was sie einmal für selbstverständlich erachtet hatten. Ihr Vater, einst der Inbegriff bodenständiger Kraft, brach nun sichtbar zusammen. „Das war für mich das Schlimmste“, sagte Paul. „Man erwartet, Frauen weinen zu sehen … aber wenn plötzlich dein Vater weint, dann weißt du, dass irgendetwas wirklich nicht stimmt, und es erschüttert deinen Glauben an alles.“21

Das Schlimmste war, dass Paul selbst so dringend glauben wollte. Auch wenn er manchmal frech gewesen war, er hatte im Unterricht immer aufgepasst und die Erwachsenen respektiert. Er erinnerte sich an das, was sie ihm gesagt hatten, und nahm es sich zu Herzen. Ebenso wie Mike weinte Paul nur in der Dunkelheit seines Zimmers, wenn er im Bett lag und fühlte, wie die Leere um ihn herum nach ihm griff. Zunächst versuchte er es mit Gebeten, er faltete die Hände und flehte Gott an, doch wieder alles zu richten; er schwor, dass er alles tun, dass er immer ein guter Junge sein würde, wenn Er sie nur wieder zu ihnen zurückschickte. Alles. Alles! Als Erwachsener erinnerte er sich mit einem gewissen Zynismus daran. „Wie man sieht, haben die Gebete nicht geholfen!“, bemerkte er gallig. „Obwohl ich das damals so sehr gebraucht hätte.“22

Am nächsten Morgen ging Paul wieder ganz normal zur Schule, marschierte geradewegs in das Klassenzimmer 32, in dem Alan „Dusty“ Durband englische Literatur unterrichtete, und nahm seinen üblichen Platz am Fenster ein. Dennoch sackten Pauls Leistungen in der Schule in den folgenden Wochen merklich ab. Zuerst machte es den Anschein, als ob der Vierzehnjährige stets mit den Gedanken woanders sei und aus dem Fenster guckte. Im November zeigte sich dann, dass er nicht mehr wie früher seine Aufgaben erledigte und die Noten der Klassenarbeiten schlechter wurden. Seine Witze wurden bitterer, sein Ton schärfer. „Er machte eine ziemlich harte Zeit durch“, erinnerte sich Durband. „Ich glaube, das hat ihm wirklich einen harten Schlag versetzt.“23 Dennoch gab Paul sich Mühe, so zu tun, als sei nichts geschehen. Als der erste Schock allmählich verebbte, merkte er, dass er sich durch den Verlust älter und härter fühlte. „Ich war entschlossen, es nicht an mich herankommen zu lassen“24, sagte er über den Tod seiner Mutter. „Ich lernte, mich mit einer harten Schale zu umgeben.“

Er lernte auch, dass er den Mantel anbehalten musste, wenn er und Mike am Nachmittag in das leere Haus zurückkehrten. Das waren die schwersten Stunden, wenn sie ein Heim betraten, das einmal so voller Leben und Wärme gewesen und nun so kalt und dunkel und leer geworden war. Es gab sofort etwas zu tun. Paul musste die Asche aus dem Ofen kehren, ein neues Feuer aufschichten und anzünden. Mike hatte dann schon den Kessel aufgesetzt, und wenn der pfiff, setzten sich Paul und Mike zum Essen an den kleinen Küchentisch der Familie und wärmten sich die Finger an den dampfenden Tassen. Erfrischt stapelten sie dann die leeren Teller auf der Spüle, nahmen die Hausaufgaben in Angriff und wandten sich dann ihren Comicheften zu. Vielleicht schalteten sie auch den Fernseher ein und guckten Abenteuerserien oder die Children’s Hour, die täglich um fünf Uhr nachmittags auf BBC lief.

Die Monate vergingen, und bei den McCartneys kehrte langsam eine andere Normalität ein. Jim kam am späten Nachmittag von der Baumwollbörse nach Hause, und dann setzten sich die drei zusammen, der Geruch von Würstchen mit Kartoffelbrei zog durchs Haus und vermischte sich mit dem Gläserklappern und dem unermüdlichen Witz und positiven Lebensgeist der McCartneys, der sich einfach nicht unterkriegen ließ. Wenn jemand einen schlechten Witz erzählte, winkte Jim ab und versprach in alter Vaudeville-Manier: Das klappt in der zweiten Vorstellung besser.25 Ein beliebter Witz, der gern so vorgetragen wurde, dass ein Hauch vorgetäuschten Selbstbewusstseins mit einem Hauch vorgetäuschter Panik kollidierte, lautete: Hier sind wir also … wo sind wir denn? Immer noch zu Hause, trotz allem, was geschehen war. „Ich hatte eine sehr liebevolle, warmherzige Familie“, sagte Paul. „Ich empfand dort enorm viel Sicherheit.“26

* * *

Obwohl er sauber gekämmt und in gebügelten Sachen in der Schule erschien, fühlte sich Paul dennoch sehr zu den eher unkonventionellen Schülern hingezogen. Die bedeutsamste Freundschaft dieser Art war wohl die zu Ivan Vaughan, einem Klassenkameraden, der in Woolton wohnte, einem grünen Stadtteil mit Einfamilien- und Doppelhäusern, gar nicht weit entfernt von der bezuschussten Reihenhaussiedlung der McCartneys. Ivan war von eher durchschnittlichem Aussehen, hatte jedoch abstehende Ohren und lockiges, dunkles Haar, das er auf dem Kopf dick und buschig wachsen ließ, während er sich die Seiten sehr kurz geschnitten hatte. Das Auffälligste an seiner Erscheinung war das Funkeln in seinen Augen und das schiefe Lächeln, das sein Gesicht erhellte, wenn ihn etwas amüsierte. Und das war oft der Fall, denn Ivan plante meist irgendwelche schrägen Dinge. Er wohnte mit seiner Mutter in einer ruhigen Straße, nur wenige Meter von der Mauer entfernt, die das Heilsarmee-Gelände von Strawberry Field umfasste. Das Haus der Vaughans war recht groß und gemütlich, aber das hielt Ivan nicht davon ab, seinen Namen in riesigen Buchstaben über die Fenster seines Zimmers zu malen. Bei einer anderen Gelegenheit tauchte er in der Schule zwar mit den schwarzen Schuhen auf, die zur Uniform gehörten, allerdings hatte er sie quittegelb angemalt. „Ivan fiel immer auf“, erzählte 1997 ein weiterer Klassenkamerad, der später in Großbritannien als Nachrichtensprecher sehr bekannte Peter Sissons, dem Sunday Mirror27. „Der war ein echtes Original.“

Für den autoritätsgläubigen Paul war Ivan eine Offenbarung. Sie hatten sich schon zu Anfang ihrer Schulzeit am Liverpool Institute kennengelernt und festgestellt, dass sie beide am 18. Juni 1942 geboren waren. Sie wurden Freunde und teilten ihre Begeisterung für Gedichte und Humor – vor allem für die Fernseh-Comedy The Goon Show – sowie später für Rock ’n’ Roll.

Wann hatte Paul zuerst mit dieser neuen Musik Bekanntschaft gemacht? Im Winter 1957 hatte sich der neue, raue Sound aus Amerika schon seit einigen Monaten in seinem Bewusstsein festgesetzt. Dafür war vor allem der Schotte Lonnie Donegan verantwortlich, dessen Interpretation des amerikanischen Standards „Rock Island Line“ Anfang 1956 erstmals den Skiffle in die britischen Hitparaden brachte, eine dynamische Mischung aus Rock, Folk und Jazz. Dieser heimische Sound war zwar allenfalls ein Echo seiner Vorbilder, aber die Originalmusik war äußerst schwer aufzuspüren und wurde im Radio so gut wie gar nicht gespielt. Rock ’n’ Roll. Schon allein dieser Begriff konnte einem wohlige Schauer über den Rücken rinnen lassen. Rock ’n’ Roll! Selbst wenn man den sexuellen Beiklang dieses Begriffes einmal beiseite ließ (der Ausdruck stammte aus einem Rhythm & Blues-Song von Trixie Smith aus dem Jahr 1922 mit dem Titel „My Man Rocks Me With One Steady Roll“; ein Song, der mit Sicherheit verboten worden wäre, wenn ihn irgendjemand, der etwas zu sagen hatte, je gehört hätte), so klang diese Wortschöpfung für sich schon ungemein verlockend. Man musste gar nicht wissen, welche sexuelle Anspielung sich dahinter verbarg, um instinktiv zu begreifen, was damit gesagt werden sollte.

Kein Wunder, dass diese Musik in dem vierzehnjährigen Paul ein kleines Feuer entzündete. Schon allein der Sound. Die unterschwellige Hysterie von „Tutti Frutti“ oder „Long Tall Sally“. Das Kneipenklavier von „Whole Lotta Shakin’ Goin’ On“. Der Rhythmus von „Twenty Flight Rock“. Paul war mit Musik aufgewachsen, mit den Jazz- und Ragtime-Platten seines Vaters und dessen begeistertem Klavierspiel. Aber das hier war etwas ganz anderes. Das hier war reiner Spaß. Mehr als das, es war jung und voller Energie. Rock ’n’ Roll klang nach Mädchen, Partys, nach Leben. Diese Musik war wild und gefährlich, wie Elvis Presley, der nicht nur wie eine sexuell aufgeladene Revolte klang, sondern auch noch so aussah. Paul und Mike guckten sich seine Fotos auf den Plattenhüllen an, staunten über die Motorradkleidung aus Leder, das hochgekämmte Haar und dieses verächtliche Lächeln mit leicht offenem Mund. Wenn seine Platten aufgelegt wurden, dann sah man Jugendliche tanzen und kreischen, Hemden rutschten aus den Hosen, und die Schulkrawatten flogen. Es war einfach unglaublich. Auch für Paul, der endlich etwas gefunden hatte, woran er glauben konnte. „Er ist es! Er ist es!“, dachte er. „Der Messias ist gekommen!“28

Die BBC gab sich allerdings keinerlei Mühe, die neue Gottheit und sein Gefolge gebührend anzuerkennen. Es war den Verantwortlichen ohnehin nicht gestattet, allzu viel Musik aus der Konserve, also von Schallplatten, zu spielen, und deshalb hielt sich Großbritanniens einzige Sendeanstalt an Big Bands und Jazzcombos mit leichtem Programm. Falls man in den heiligen Hallen der BBC überhaupt schon etwas von Rock ’n’ Roll gehört hatte, dann beabsichtigten die ältlichen Programmchefs ganz sicher nicht, irgendetwas davon in die ruhigen Wohnzimmer des Britischen Empires zu übertragen.

Und so mussten alle Rock-Interessierten selbst herausfinden, wie sie an ihre Musik herankommen konnten. Vielleicht war schon das der halbe Spaß – Rock ’n’ Roll war nicht nur mitreißend, er war auch schwer zu fassen. Die richtig entschlossenen Fans nahmen die Mühe auf sich, nach Einbruch der Nacht den Mittelwellenempfänger ihres Radios auf das 208 Meter-Band einzustellen, bis endlich das knisternde Signal von Radio Luxemburg zu hören war. Die auf Englisch moderierten Sendungen, in denen populäre Musik gespielt wurde, gab es nur nachts, und die Übertragung hing vom Wetter und den Unwägbarkeiten der Radiowellen ab. Dennoch waren Paul und Mike bald besessen von den späten Sendungen, und oft blieben sie auf, nachdem Jim sie schon längst aufgefordert hatte, ins Bett zu gehen, und drängten sich beide um das Radio. Schließlich bastelte Vater McCartney seinen Jungs zwei provisorische Kopfhörer mit Kabeln, die lang genug waren, dass sie bis in die Kinderzimmer reichten, sodass die beiden das Programm im Bett verfolgen konnten, und der schwach aus dem Äther dringende Sound aus jaulenden Gitarren, treibendem Schlagzeug und heulenden Gesängen wurde zur Brücke zwischen ihrem Alltag und ihren Träumen. „Ich liebte Musik“, erinnerte sich Paul einmal an diese frühen, von Elvis-Begeisterung durchdrungenen Tage. „Wenn es uns dreckig ging, dann gingen wir nach Hause und hörten ‚Don’t Be Cruel‘, und dann ging’s uns wieder gut. Das konnte jede miese Stimmung vertreiben.“29

Aber Paul hörte nicht nur zu. Er wollte diese Musik in Händen halten, diesen Sound selbst produzieren und ihn selber fühlen. Da kam ihm die kleine Akustikgitarre, die er im Sommer zuvor zum Geburtstag bekommen hatte, gerade recht. Es war eine billige Massenproduktion namens Zenith, mit hohem Steg und einem Hals, der stets so aussah, als würde er jeden Augenblick durch die Saitenspannung abbrechen. Zunächst fand Paul es beinahe unmöglich, das Instrument zu spielen; die Finger seiner linken Hand irrten über das Griffbrett und weigerten sich, die Geschicklichkeit zu entwickeln, die auch nur für die einfachsten Griffe nötig war. Er wusste nicht, wie er etwas daran ändern sollte, bis er in einer Zeitschrift ein Foto des Country­musikers Slim Whitman sah, der seine Gitarre andersherum hielt als alle anderen Instrumentalisten auf der Bühne. Natürlich! Er war auch Linkshänder! Paul erkannte, dass er alles umbauen musste – die Saiten andersherum aufziehen und die Gitarre drehen, damit er mit der rechten Hand greifen konnte. Von diesem Augenblick an wurde die Zenith das Zentrum, um das sich sein ganzes Leben drehte. Stundenlang hielt er die Gitarre im Arm, den Kopf über den geschwungenen Korpus gebeugt, während seine Fingerspitzen über die Saiten huschten, Töne fanden und sie zu den richtigen Griffen zusammensetzten. Er sang leise vor sich hin, Songs, die er im Radio gehört hatte, und versuchte, sich in dem Spielraum zwischen dem, was in seinem Kopf herumspukte, und dem Geräusch, das von den Saiten der Zenith drang, zurechtzufinden. Damit konnte er Stunden zubringen, und nichts anderes war ihm mehr wichtig. Seine Hausaufgaben blieben unerledigt. Seine Comics fasste er nicht mehr an. „Er war ganz darin versunken“, erinnerte sich Mike. „Er vergaß sogar zu essen und dachte an nichts anderes mehr.“30

Wenn man Paul suchte, fand man unweigerlich auch die Zenith. Sie lag auf seinem Schoß, wenn er im Wohnzimmer fernsah. Oder über seiner Brust, wenn man ihn in seinem Zimmer aufsuchte. Sie erschallte aus dem Klo und aus dem Badezimmer, und die Akkorde wurden dabei allmählich klarer, die Melodiebögen länger und sicherer. Schließlich kam das, was man sonst vom Plattenspieler hörte, nun auch aus Pauls Gitarre, begleitet von seiner eigenen klaren und immer kräftiger werdenden Stimme. Well, I’ve got a girl with a record machine, when it come’s to rockin’ she’s the queen … Das war wie Zauberei! Eine Platte zu hören, das war eine Sache, aber ein Lied mit den eigenen Fingern heraufzubeschwören, das war, als spränge man in die Musik hinein und würde selbst zu diesem Lied. Die ganze Freude und Erregung, die der Sound vermittelte, eignete man sich ebenfalls an. Wenn Pauls eigene Gefühle übermächtig wurden, konnte er immer die Gitarre zur Hand nehmen und die Musik einsetzen, um sie entweder aus seinem Kopf zu verbannen oder aber sie durch seine Hände fließen zu lassen, in den Rhythmus und dann aus ihm heraus.

Eines Nachmittags saß er über die Gitarre gebeugt da und spielte immer wieder dieselben Akkorde. G, G7, C. Nichts Besonderes, eine ganz schlichte Akkordfolge. Als er sie mit dem Rhythmus eines Country-Shuffle versah, erinnerte es ihn an etwas, das Buddy Holly hätte schreiben können – eine lebhafte Melodie über ein ganz normales Mädchen, dessen gewinnendes Lächeln einem unvermittelt das Herz brechen kann. Daraus konnte man doch einen Song machen, einfach so! Also blieb er dran, schlug die Akkorde, sang den Text, der ihm schon eingefallen war, und summte an den Stellen, wo ihm noch die Worte fehlten. „Irgendetwas brachte mich dazu, ob ich nun wusste, wie es ging, oder nicht.“31

I woke up this morning, my head was in a whirl …

Paul spielte es immer wieder und wieder, sang die Strophe zunächst mit einer aufsteigenden Melodie, dann mit einer absteigenden. Was hörte sich besser an? Er konnte sich nicht entscheiden, daher nahm er die erste Variante für die erste Strophe und die andere für die zweite. Was konnte er sonst noch hinzufügen? Paul dachte an seine Lieblingsplatten. Der abrupte Rhythmus von „Twenty Flight Rock“, Buddy Hollys wortlose, abgehackte Seufzer. Auch die brachte er in den Song ein, und obwohl er nie dazu kam, einen kompletten Refrain zu schreiben (die Strophen erreichen ihren Höhepunkt, indem die Titelzeile wiederholt wird, und dann folgt ein langer Seufzer von vier Taktschlägen) – er wusste doch, dass er etwas geschaffen hatte, als er fertig war. Nicht viel vielleicht. Aber immerhin etwas.

„Es ist ein komischer, platter kleiner Song“, sagte Paul viele Jahre später32. Aber er vergaß ihn nie, und selbst Jahrzehnte später spielte er ihn gern neben seinen vielen Klassikern, wenn er auf einer der Bühnen irgendwo auf der Welt auftrat. Es war natürlich eine nostalgische Geste, und er legte stets Wert darauf, selbst eine gewisse ironische Distanz zu seinem unreifen, jungen Ich zu schaffen. „Her hair wouldn’t curl – Ihr Haar wollte sich nicht locken?“, sagte er kopfschüttelnd. Aber das Spielen seiner allerersten Komposition brachte ihn wieder zu seinen eigenen Wurzeln zurück, zu jenen Augenblicken, als der trauernde Teenager zuerst versuchte, seine Gefühle in Musik zu fassen. Ganz gleich, wie substanzlos der Song sein mag, die Bedeutung des traurigen Titels ist nicht zu übersehen: „I Lost My Little Girl“.

Wie bei so vielen großen Dingen begann auch hier alles mit einer kleinen, spontan geäußerten Idee. Ivan Vaughan schlug vor, dass Paul zu einer Party mitkommen sollte, um sich dort die Band seines Freundes anzuhören. Es war nicht weit, die steinernen Mauern der Gemeindekirche St. Peter’s Parish Church erhoben sich auf dem Hügel ganz in der Nähe von Ivans Haus in Woolton. Er ging schon seit Jahren zu den samstäglichen Gartenfesten dort, machte bei den Karnevalsspielen mit, sah der Parade zu und kaufte sich Süßigkeiten und Limonade, die auf dem Kirchhof angeboten wurden. Aber für die älteren Jungen war dieses Fest auch aus anderen Gründen interessant. Es würden Mädchen da sein, ganze Schwärme von Mädchen, und es gab auch Musik. Es spielte zum Beispiel, fügte Ivan hinzu, auch die Skiffleband von seinem Nachbar John Lennon. Kannte Paul ihn vielleicht schon? Die Band hieß The Quarrymen, nach der Quarry Bank Grammar School, jener Oberschule, die der Großteil der Bandmitglieder besuchte. Ivan spielte gelegentlich auch mit, wenn Len Garry, der normalerweise den Bass übernahm, keine Zeit hatte. (Auf den Riemen seiner Bassgitarre hatte er geschrieben: Jive with Ive – Jive mit Ive. The Ace on the Bass – Das Ass am Bass.) Also, wie wäre das?

Paul hatte immer Lust auf Partys – auch das war eine Eigenschaft, die er vom Gründer der Jim Mac’s Band geerbt hatte – umso mehr noch, wenn dort viele Mädchen sein würden. Die Aussicht, ein paar andere aufstrebende Musiker zu treffen, machte die Sache noch spannender. Die Quarrymen hatten ihren ersten Auftritt um viertel nach vier, also machte sich Paul am frühen Nachmittag langsam fertig, schlüpfte in die besonders engen, schwarzen Röhrenjeans und zog seine weiße Sportjacke an, deren Taschen mit modischen Klappen versehen waren und deren Stoff aus reflektierenden, fast silbernen Fäden bestand, die im Licht schimmerten. Da es ziemlich warm war, fixierte Paul seine Haare mit einer zusätzlichen Portion Pomade und fuhr dann mit seinem Dreigang-Fahrrad der Marke Raleigh die Forthlin Road hinunter zur Mather Avenue, vorbei an Calderstones Park und dann den kleinen Hügel zur St.-Peter’s-Kirche hinauf. Er kam ein bisschen zu spät – die Quarrymen spielten schon auf der draußen errichteten Bühne, der Ladefläche eines Lastwagens. Als er sich unter die Zuschauer mischte, war er weniger beeindruckt von der Band, deren Mitglieder nicht gerade versierte Musiker waren, als von dem Charisma des Jugendlichen, der vorn in der Mitte stand und das einzige Mikrofon der Bühne für sich beanspruchte.

Das also war John Lennon! Paul erkannte ihn, obwohl sie sich zuvor nie wirklich begegnet waren. Er war jener ältere Typ mit der großen Klappe, den er in Allerton und Woolton schon öfter gesehen hatte, wie er im Bus mit einem Freund lachte oder großspurig die Mather Avenue entlangstolzierte – einer von genau jenen großmäuligen, aufsässigen Halbstarken, von denen er während seiner Schulzeit in Speke sich fernzuhalten gelernt hatte. Und das war kein Wunder: John sah aus wie ein Teddyboy. So nannte man damals die harten Jungs, die sich ein wenig nach der edwardianischen Mode kleideten und die man gelegentlich sah, wie sie lässig an eine Wand gelehnt dastanden und jeden anpöbelten, der des Weges kam. Allerdings war er ein Freund von Ivan, und das bedeutete, dass er nicht ganz verkehrt sein konnte. John stand da, trug ein kariertes Hemd und dunkle Hosen, und eine widerspenstige Locke seines kastanienbraunen Haars fiel ihm in die feuchte Stirn, während er seine Akustikgitarre spielte und in das Mikrofon sang.

Die anderen Quarrymen – ein weiterer Gitarrist, ein Teekistenbassist, ein Waschbrettspieler, ein Schlagzeuger und ein Typ mit einem Banjo – folgten dem, was er vorgab. Sie waren allesamt ganz ordentliche Musiker, aber Lennon war der Kerl, der alle Blicke auf sich zog. Er war kein großartiger Gitarrist, das konnte man nicht sagen. Seine Art zu spielen war sogar ziemlich seltsam: Sein Fingerpicking war daneben, und er spielte mit drei Fingern Akkorde, die Paul überhaupt nicht kannte. Die Worte, die er sang, hielten sich nicht an das Original. In Johns Version von „Come Go With Me“ lud der Erzähler seine große Liebe in eine Vollzugsanstalt ein. In einem anderen Song baute John die Zeile ein, dass eine gewisse Mimi gerade den Weg entlangkam, und offenbar war das an die streng wirkende, ältere Frau am Rand der Menge gerichtet, die er breit angrinste. Aber egal, was er mit seiner rauen, kraftvollen Stimme sang – „Puttin’ On The Style“, „Maggie Mae“, „Railroad Bill“, „Be-Bop-A-Lula“ – Lennon vermittelte eine anarchistische, zu allerlei Streichen aufgelegte Freude.

Die Band spielte eine Weile, vielleicht eine halbe Stunde, dann packten die Musiker hastig ihre Sachen zusammen und machten die Bühne frei. Eine Bekanntmachung über die Tanzveranstaltung im Gemeindehaus am Abend, bei dem die Quarrymen zwei Mal auftreten sollten, hallte über den Platz. Paul ging nun zu Ivan hinüber, der ihm auf den Rücken klopfte und auf die kleine, hölzerne Pfadfinderhütte deutete, in denen die Quarrymen, wie auch alle anderen Musiker an jenem Tag, ihre Sachen zwischen den einzelnen Shows aufbewahrten. Sagen wir doch einfach mal Hallo. Ivan führte Paul auf direktem Weg zu der Hütte, und als sie sich unter dem Türrahmen hindurchgeduckt hatten, sahen sie die Gruppe in einer Ecke stehen; offenbar wollten die Musiker etwas Abstand von den Pfadfinderjungen halten, die gerade in ihre Trompeten bliesen. Der Schlagzeuger der Quarrymen, Colin Hanton, sah von seinen Trommeln auf und nickte ihnen zu. „Ich sah, wie Ivan mit diesem anderen Jungen reinkam“33, erinnerte er sich. „Dieser Typ, den wir alle nicht kannten. Und dann redeten sie mit John.“

Zuerst zeigte der oberste Quarryman eine relativ verächtliche Haltung. Er zuckte die Achseln, sagte nicht viel, machte eine Bemerkung dazu, dass Paul so jung aussah – das letzte bisschen Babyspeck ließ ihn tatsächlich jünger wirken als fünfzehn. Paul erinnerte sich später, John sei betrunken gewesen (wobei er zugab, selbst auch ein bisschen „angeheitert“34 gewesen zu sein). Aber Rod Davis, der Banjospieler der Quarrymen, tut das als eine „sehr blumige“ Ausschmückung der Geschichte ab. „[Pastor] Pryce-Jones hätte uns nie auf sein Fest gelassen, wenn wir nach Bier gerochen hätten oder sogar betrunken gewesen wären.“35 Und woher hätten sie das Bier auch haben sollen? Keiner von ihnen hatte Geld genug, in einem Pub ein paar Runden zu schmeißen. Und welcher Pub in Woolton hätte eine Gruppe Jugendlicher aus der Nachbarschaft überhaupt bedient? „Die kannten uns doch alle, das war unmöglich. [Waschbrettspieler] Pete Shotton und ich könnten uns höchstens vorstellen, dass irgendjemand John eine Flasche Bier gegeben hatte.“

Ivan redete weiter und erzählte John, was Paul für ein toller Gitarrist war und wie viele Songs er aus dem Gedächtnis spielen konnte. Sie unterhielten sich über Gitarren, und John sagte, dass er für sein Instrument eine offene G-Stimmung bevorzugte, so wie beim Banjo. Seine Mutter hatte ihm das so beigebracht, und er hatte nie gelernt, wie man eine Gitarre eigentlich richtig stimmte. Sie redeten über Songs, verglichen, welche sie kannten und welche sie immer noch zu knacken hofften. Als Paul Eddie Cochrans „Twenty Flight Rock“ erwähnte, flackerte Interesse in Johns Augen auf – beherrschte er den wirklich? Akkorde, Text und alles? Paul strahlte. Na klar! Er deutete auf Johns Gitarre. Darf ich mal? John zuckte die Achseln. Paul nahm die Gitarre, griff nach den Knebeln und brachte das Instrument schnell in die normale Stimmung. Dann drehte er es um, suchte nach dem G-Akkord, was nicht so einfach war, weil die Saiten nun in der umgekehrten Reihenfolge waren, und begann mit der ersten Strophe: Oh well, I gotta girl wih a record machine …

Die Quarrymen waren überwältigt. „Es war der Wahnsinn“36, sagte Eric Griffiths, der andere Gitarrist. „Er hatte so ein Selbstbewusstsein, er legte einen richtigen Auftritt hin.“

Ivan strahlte. Selbst John schien beeindruckt. Paul, der begeistert war, endlich einmal Publikum zu haben, machte weiter. Er versuchte sich an „Be-Bop-A-Lula“ – eine sehr selbstbewusste Wahl, da die Quarrymen den Titel gerade selbst erst gespielt hatten – und dann an einer Reihe von Little-Richard-Hits: „Tutti Frutti“, „Long Tall Sally“, „Good Golly Miss Molly“. Paul hatte sich in die wogenden Basslinien Little Richards und in seinen energiegeladenen, überschlagenden Gesang verliebt und Stunden damit zugebracht, jedes A-wop-bop-a-loo-bop und alle durchdringenden Falsett-Schreie einzustudieren.

„Er konnte auf eine Art und Weise spielen und singen, die keiner von uns beherrschte, auch John nicht“, berichtete Griffiths. „Wir konnten nicht genug davon bekommen.“ John war ganz offensichtlich begeistert, er lachte und klatschte mit. Als Paul schließlich aufhörte, dachte John durchaus darüber nach, den Neuen in seine Band zu holen, aber er bremste sich. „Bis dahin war ich der Boss gewesen“37, erklärte er Hunter Davies 1967. „Wenn ich ihn jetzt hereinnehme, so überlegte ich, was passiert dann? Ich muss ihn in Schach halten, wenn ich ihn reinlasse. Aber er war gut. Es lohnte sich, ihn zu holen.“ Sie trennten sich an jenem Abend, ohne sich zu einem weiteren Treffen verabredet zu haben. Aber John diskutierte die Idee mit seinem besten Freund und Bandkollegen Pete Shotton, als sie am Abend nach Hause gingen, und Pete war sofort seiner Meinung: Paul würde eine hervorragende Ergänzung für die Band sein. Als Pete ein paar Tage später zufällig sah, dass Paul auf seinem Raleigh-Fahrrad zu Ivan fuhr, winkte er ihn zu sich heran und fragte ihn, ob er nicht Lust hätte, den Quarrymen beizutreten. Paul zuckte die Achseln, nickte. Ja, klar, warum nicht. Wäre bestimmt lustig. Also, drängte ihn Shotton weiter, könnte er dann vielleicht zur Probe fürs nächste Konzert kommen, in der Innenstadt im Cavern Jazz Club am 8. August? Paul verzog das Gesicht. Hm, na ja, da würde er gerade in Urlaub sein. Aber er käme nicht lange danach wieder zurück, wäre das dann auch in Ordnung? Shotton nickte, und als er anschließend in die Menlove Avenue einbog, fuhr Paul wieder mit seinem Fahrrad davon. „Von diesem Augenblick an ging alles in eine ganz neue Richtung für mich“, sagte er Davies. „Nachdem ich John kennengelernt hatte, wurde alles anders.“

Paul McCartney - Die Biografie

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