Читать книгу Paul McCartney - Die Biografie - Peter Ames Carlin - Страница 12

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Kapitel 5

Etwas anderes kam gar nicht infrage. Die Gitarre, mit der Paul sich so eng verbunden hatte, als er vierzehn war, die Rockmusik, die im gleichen Rhythmus pulsierte wie das Herz in seiner Brust, das war nun der Mittelpunkt seiner ganzen Existenz. Daraus war das enge Band zu seinen besten Freunden geschmiedet, das war der Magnet, der die Aufmerksamkeit anderer auf ihn zog, nach der er sich so sehnte, und das kraftvollste Instrument zum Ausdruck all seiner Gefühle – Verlassenheit, Trauer, Liebe, Angst –, die er so schwer in Worte fassen konnte. Nichts konnte wichtiger sein, nicht einmal nur annähernd. Eine feste Arbeitsstelle war ebenso wenig eine echte Option wie das Lehrerkolleg.

Und wenn auch nur, weil für etwas anderes auch gar keine Zeit blieb. In den ersten drei Monaten des Jahres 1961 gaben die Beatles beinahe jeden Tag in Liverpool und Umgebung ein Konzert. Mona Best fungierte spontan als ihre Konzert-Agentin, und oft stand die Gruppe vor der Aufgabe, an einem Tag gleich mehrere Auftritte zu bewältigen. Am 28. Februar begann ihr Arbeitstag beispielsweise mit einer Mittags-Session im Cavern Club in der Matthew Street, also mitten im Stadtzentrum. Dann packten sie ihre Sachen für einen Auftritt am frühen Abend im abgelegenen Casanova Club, räumten dann wieder alles ein und fuhren mit ihrer Ausrüstung zur Litherland Town Hall, wo sie spätabends auf der Bühne standen. Bis zum 1. April absolvierten sie ähnlich vollgestopfte Terminpläne; dann reisten sie nach Hamburg, wo erneut drei Monate durchgespielter Nächte auf sie warteten, diesmal im größeren, attraktiveren Top Ten Club.

Während dieses Hamburg-Besuchs betraten die Beatles erstmals ein professionelles Aufnahmestudio. Sie fungierten als Begleitband von Tony Sheridan, einem sehr angesagten Gitarristen aus England, der wegen seiner launenhaften Persönlichkeit berühmt-berüchtigt war. Mit ihm nahmen sie verschiedene Songs auf, darunter auch Sheridans Rock-Version des Traditionals „My Bonnie“, produziert von Bert Kaempfert. Die Beatles bekamen dabei Gelegenheit, bei ein paar Titeln selbst in die erste Reihe zu treten – John sang beispielsweise in gewohnt rauer Manier „Ain’t She Sweet“. Paul spielte bei der Session Bass und verstärkte damit noch die Spannung, die sich zwischen Johns beiden engsten Freunden inzwischen aufgebaut hatte.

Dass Johns Kunsthochschulkumpel Stu Sutcliffe in der Band mitspielte, hatte Paul von Anfang an mit gemischten Gefühlen betrachtet. Zunächst hatten sie einfach einen Bassisten gebraucht, und obwohl Stu nie zuvor ein solches Instrument gespielt hatte, hatte allein seine Anwesenheit in der Band dafür gesorgt, dass John bei der Sache blieb – davon abgesehen, dass Stu allmählich auch Gefallen an den Auftritten fand. Aber die harten Anforderungen der Auftritte in Hamburg und die starken Bande, die dieser Aufenthalt zwischen den Bandmitgliedern knüpfte, hatten Paul zu der Überzeugung gebracht, dass für Stu eigentlich kein Platz in der Band war. Das sprach er zwar nicht direkt aus, ließ seine Meinung aber in jedem Wort, das er sagte, mitschwingen. „Manchmal flippte Paul aus und sagte: ‚Du musst mehr üben! Du hast da einen falschen Ton gespielt‘“82, berichtet Astrid Kirchherr, die inzwischen mit Stu verlobt war. „John meinte: ‚Ist doch egal! Er sieht gut aus!‘ Aber Paul war natürlich stocksauer. Stu hat sich nie die Mühe gemacht, zu proben.“

Andere wiederum hatten durchaus das Gefühl, dass der Konflikt über die musikalische Ebene hinausging. Bill Harry, ein ehemaliger Freund und Kommilitone von John und Stu, der wenig später eine lokale Musikzeitschrift mit dem Titel Mersey Beat gründete, ist der Meinung, dass die anderen Beatles von den Fortschritten ihres bisher ungelernten Bassisten sehr beeindruckt waren. „Ich habe Postkarten, auf denen Paul davon schreibt, wie gut Stu als Bassist war“83, sagt Harry. Tony Sanders, der Schlagzeuger von Billy Kramer And The Coasters, betont, dass die meisten Titel im Repertoire der Beatles ziemlich schlichte Rocksongs waren – drei Akkorde, ein guter Beat und jede Menge Energie. Aber selbst, wenn sie sich Songs mit komplizierteren Strukturen heraussuchten – „Three Cool Cats“ oder „Your Feet’s Too Big“ –, konnte der Bassist, wie Sanders sagt, stets mithalten. „Ich kann mich nicht erinnern, dass Stu irgendwelche Probleme gehabt hätte.“84

Der eigentliche Kampf spielte sich zwischen Stu und Paul ab, und es ging dabei um John. „Er und ich waren tödliche Rivalen“, gab Paul Jahre später zu. Tatsächlich gelang es Stuart besser als allen anderen, sich Johns Aufmerksamkeit zu sichern. Er war ein brillanter Künstler und besaß eine gewisse Kultiviertheit, die Paul, wie er selbst sehr wohl wusste, nie erreichen würde, gepaart mit einem Stilbewusstsein und einem künstlerischen Flair, das gleichzeitig völlig mühelos und aufregend wirkte. „Stu trug eine dunkle Sonnenbrille, und auf der Bühne hängte er sich einen Gabardinemantel wie ein Cape um, so wie Zorro“85, berichtet Sanders. „Ich mochte ihn sofort. Er hatte dieselbe Aura um sich wie die anderen.“ Vielleicht war es das, was Paul am meisten zu schaffen machte. Denn nun machte die Band zwar Fortschritte, und John interessierte sich wieder für Musik, aber wie konnten Paul und John sich auf ihre musikalische Zusammenarbeit konzentrieren, wenn Stuart dauernd im Weg stand? „Ich war immer praktisch orientiert und dachte, dass unsere Band noch ganz groß werden könnte“86, sagte Paul. „Aber mit ihm am Bass war da immer etwas, das uns bremste.“

Also betrachtete Paul den Beatles-Bassisten ständig mit kritischem Blick, verfolgte seine Fortschritte, wenn es sie denn gab, und kommentierte es sofort laut, wenn Stu einen Einsatz verpasste oder einen falschen Ton spielte. Die anderen grinsten über Pauls Spielchen – John spürte stets ein unwillkürliches Bedürfnis, Menschen, die er liebte, zu beleidigen –, und daher wunderte sich niemand, als Paul eines Abends auch auf der Bühne des Top Ten ein paar hässliche Bemerkungen ins Stus Richtung machte. Paul war ans Klavier verbannt worden, das an der Seite des Podests stand, und schließlich ließ er seinen aufgestauten Ärger an dem Bassisten aus, der nur ein paar Meter entfernt stand. Stu, der kleiner und gutmütiger war als die anderen, ignorierte das zunächst. Aber als Pauls Kommentare immer lauter und gemeiner wurden, bekam er langsam einen roten Kopf. Schließlich sagte Paul noch etwas über Astrid, und nun wurden Stus Wangen weiß. Er nahm den Bass ab, sprang Paul mit der ganzen Kraft seiner zierlichen Statur an und versetzte ihm einen so harten Schlag ins Gesicht, dass sie beide auf die Bühne purzelten. Dort fielen sie mit erschreckender Heftigkeit übereinander her, tauschten harte Schläge und Tritte und hörten erst auf, als der Song zu Ende ging und sich John, George und Pete die Zeit nahmen, ihre beiden Bandkollegen voneinander zu trennen.

Stu warf sich wieder den Gurt seines Basses um und spielte weiter. Aber die hässliche Auseinandersetzung hatte Folgen, wohl auch, weil John keine Anstalten machte, Paul dafür zu maßregeln, dass er angefangen hatte. Stu erkannte, dass er die Band verlassen musste. Er teilte den anderen seinen Entschluss nur wenige Tage später mit und erklärte, dass er mit Astrid zusammenziehen wolle, um sich dann wieder auf die Malerei zu konzentrieren. Um zu beweisen, dass er nicht nachtragend war, überreichte er Paul seinen Höfner-Bass und bot ihm an, er solle das Instrument behalten, solange er es brauche. Nicht, dass Paul sich darum riss, die Rolle des Bassisten zu übernehmen. Aber George war nun einmal der Leadgitarrist, und John hatte weder Lust noch die Geduld, auf ein anderes Instrument umzusatteln. Also tat Paul, was er tun musste, damit es mit den Beatles weiterging.

* * *

In Liverpool hatte sich die Rockszene derweil zu einer Art regionaler Jugendbewegung entwickelt. Aus den Kindern der Nachkriegsjahre waren Teenager geworden, und nun, da die britische Regierung die allgemeine Wehrpflicht für junge Männer abgeschafft hatte, wimmelte es in der Stadt und den Vororten überall von Rockbands, die Konzerte gaben – wie die Veteranen der Szene berichten, sollen es zeitweise bis zu 350 gewesen sein. Durch die große Zahl von Musikern und vor allem auch Fans, die bereit waren, für ihr Hobby Geld auszugeben, schossen überall Konzerthallen und Clubs wie Pilze aus dem Boden. Stadthallen, Gewerkschaftssäle, Pubs, Nachtclubs, selbst der einst so strikt nur dem Jazz offenstehende Cavern Club, sie alle öffneten nun ihre Türen für die Rock ’n’ Roll-Fans. Plattenläden hatten Hochkonjunktur. Und in der Liverpooler Innenstadt gab es inzwischen zwei gut ausgestattete Musikgeschäfte, in deren Fenstern elektrische Gitarren, Bässe, Verstärker und Schlagzeuge funkelten.

Interessant dabei ist, dass die Liverpooler Rockszene buchstäblich eine Untergrundbewegung war: Viele der zentralen Orte – angefangen mit dem Casbah oder der Bühne im Jacaranda bis zur Schallplattenabteilung des NEMS-Ladens in der Whitechapel Street – und zahlreiche andere Schaltstellen lagen tatsächlich allesamt in Kellern. Nirgendwo spürte man das jedoch so sehr wie im Cavern, einem Club, der ein paar Straßen von NEMS entfernt in der Matthew Street 10 lag und innen an eine Krypta erinnerte. Er befand sich in der Mitte eines schmalen Durchgangs zwischen einigen Lagerhäusern; die Tür öffnete sich auf unebenes Kopfsteinpflaster, auf dem verwelkte Salatblätter und verdorbene Früchte lagen, die von den LKW-Fahrern und Gemüseverkäufern beiseitegeworfen waren. Eine nackte Glühbirne erhellte die achtzehn Stufen, die in den Keller hinunterführten, der von zwei Reihen steinerner Säulen in drei Tunnelgewölbe unterteilt wurde und hundert Jahre zuvor als Lagerraum für Fässer mit Rum und Melasse gebaut worden war. Die Betreiber hatten zunächst einen ausgesuchten Jazzclub nach der Art des Le Caveau in Paris daraus machen wollen, aber der Cavern war schließlich ein Jugendclub geworden, und die Bar verkaufte Limonade und Hotdogs an ein junges Publikum, das durch seine große Zahl und das wilde Tanzen in den Seitenschiffen des Clubs eine atemberaubende Hitze und Feuchtigkeit entstehen ließ. Der Cavern besaß keine Lüftung, und wenn, wie so oft, die zugelassene Zahl von sechshundert Besuchern erreicht war, wurde es dort durchaus um die dreißig Grad warm, und das Schwitzwasser lief von den Wänden.

Anfang Februar 1961 hatten die Beatles ihre erste Mittagssession dort gespielt, und als sie Anfang Juli aus Hamburg zurückkehrten, waren sie mit ihrer ständig wachsenden und begeisterten Fangemeinde eine Weile eine der ständigen Hauptattraktionen des Clubs. „Man konnte sie gar nicht übersehen“87, erinnert sich Mike Byrne, einer der Stammgäste, der ganz in der Nähe im Hutgeschäft seines Vaters in der North John Street arbeitete. Er war selbst in einer Band – Mike And The Thunderbirds – und deshalb besonders von den technischen Fähigkeiten fasziniert, die die Beatles bei ihren monatelangen Engagements in Deutschland erworben hatten. „Sie kasperten auf der Bühne immer noch herum, aber das musikalische Gerüst war unglaublich straff. Die Backing-Vocals waren perfekt. Und die Harmonien, kombiniert mit dem harten Rocksound … es war einfach großartig.“ Die Band hatte zudem eine Menge weiblicher Fans, und Paul wurde durch seine engelsgleichen Züge und seine fröhliche Art schnell zu einem ihrer Lieblinge. Egal, wo man ihm begegnete – ob in der Matthew Street mit dem Gitarrenkoffer unter dem Arm, in der Plattenabteilung bei NEMS oder am Hotdog-Stand hinten im Cavern –, Paul begrüßte seine Bewunderer mit einem Lächeln und einem lockeren Spruch, vor allem, wenn es sich dabei um Mädchen handelte. „Ich glaube, er hatte mehr Verehrerinnen als die anderen Beatles“, sagt Byrne. „Er sah gut aus und war richtig süß, und er liebte es, vor anderen Menschen aufzutreten. Außerdem war er von Anfang an stets sehr imagebewusst.“

So sehr sogar, dass kaum jemand wusste, dass er schon seit zwei Jahren eine feste Freundin hatte. Sie hieß Dorothy Rhone und war eine junge Bankangestellte, die er während der Quarrymen-Auftritte im Casbah im Spätsommer 1959 kennengelernt hatte. Rhone, die allgemein Dot genannt wurde, war eine zierliche Blondine, die ähnlich wie Johns Freundin Cynthia Powell ein wenig wie Brigitte Bardot aussah, jene französische Schauspielerin, die in den erotischen Phantasien beider junger Musiker eine große Rolle spielte. Dot kam aus zerrütteten Familienverhältnissen – ihr Vater war Alkoholiker, die Mutter höchst gefühlskalt – und teilte daher das Gefühl des Verletztseins, das Paul seit dem Tod seiner Mutter in sich trug. Sie genoss zudem die Wärme und Stabilität, die sie in der Forthlin Road fand. Jim McCartney hieß sie im größeren Familienkreis willkommen, und sie verbrachte viele Abende im Wohnzimmer der McCartneys, wenn ihr Freund mit Bruder und Vater zusammensaß. „Sie sangen ‚Baby Face‘ und ‚Peg Of My Heart‘ und spielten Jazz im Dixieland-Stil“88, erinnert sie sich. Paul konnte zudem äußerst liebenswert und fürsorglich sein, vor allem, wenn Dot sich über ihre familiären Probleme aussprechen musste. Es dauerte einige Monate, bis sich zwischen den beiden eine Liebesbeziehung entwickelte, aber als sie einander so nahegekommen waren, begann Paul auch über den Tod seiner Mutter zu sprechen. Er berichtete ihr unter anderem, er sei damals von der Nachricht so schockiert gewesen, dass er unkontrolliert zu lachen begonnen habe. Dennoch war nicht zu übersehen, wie stark die Liebe zu seiner Mutter war. Dot erinnert sich, dass sie einmal gemeinsam ein Religionsbuch betrachteten. Paul sah sich lange ein Bild an und deutete schließlich auf ein Porträt von Jesus. „Er sagte, er sehe aus wie seine Mutter.“89

Davon abgesehen war Paul allerdings auch sehr eigensinnig und hatte eine ganz klare Vorstellung davon, welche Kleidung seine Freundin tragen und wie sie sich frisieren und schminken sollte. Er wies Dot an, sich nicht mehr mit ihren Freundinnen zu treffen, und verbot ihr die Zigaretten, obwohl sie damals eine starke Raucherin war. Dot räumt heute ein, sie sei jung und unsicher genug gewesen, um sich solchen Direktiven zu fügen. Richtig durcheinander geriet sie schließlich, als sie nach zwei Jahren Beziehung eines Tages merkte, dass sie schwanger war. Sie sagte es Paul, der Rat bei seinem Vater suchte. Was sollte er tun? Für Jim war die Sache klar. Es kam nicht infrage, dass sein Enkel zur Adoption freigegeben würde. Im Gegenteil, Paul sollte sich seiner Verantwortung stellen, Dot heiraten und wie ein echter Mann für seine Familie sorgen. Paul stimmte zu, nahm Dot an die Hand und schlug ihr vor, dass sie beide ganz schlicht auf dem Liverpooler Standesamt die Ehe eingingen.

Doch das Schicksal wollte es anders. Dot erlitt eine Fehlgeburt, und damit war das Thema Ehe schnell wieder vom Tisch. Während ihrer gemeinsamen Zeit, in der sie und Cynthia auch einmal nach Hamburg gereist waren, um ihre Freunde zu besuchen, hatte Paul keinerlei Verpflichtung gefühlt, ihr treu zu bleiben. Im Gegenteil, er lebte sich auf der Reeperbahn ganz und gar aus („Für uns war die Zeit in sexueller Hinsicht ein echtes Erwachen“, erklärte er seinem Freund und Biografen Barry Miles Anfang der Neunziger), und in Liverpool traf er sich immer mal wieder mit Iris Caldwell, der jüngeren Schwester von Rory Storm, die als professionelle Tänzerin arbeitete. Iris hatte jedoch für Pauls Kontrollbedürfnis kaum Verständnis. „Ich bin eher ein Freigeist“90, erklärt sie.

Iris hatte Paul schon vor einigen Jahren kennengelernt, als Rory noch seine Partys im The Morgue veranstaltete, dem halblegalen Club, den er zu jener Zeit betrieb, als John endlich eingewilligt hatte, den noch so fürchterlich jungen George Harrison bei den Quarrymen mitspielen zu lassen. Iris und Paul waren zunächst nur Freunde, und als schließlich mehr daraus wurde, flößte sein Status als bekannter Musiker ihr deshalb keinerlei Ehrfurcht oder Scheu ein. Zwar war sie durchaus bereit, sich einigen Anweisungen ihres Freundes zu fügen („Als Frau meiner Generation zog man sich eben für denjenigen an, mit dem man ausging“91), aber Iris hielt selten still, wenn er ihr auf die Nerven ging. „Wir hatten ganz herrliche Auseinandersetzungen“, erinnert sie sich. Als sie eines Abends mit Freunden in einem Café saßen, regte sie sich so sehr über Pauls lautstarke Nachahmung von Quasimodo, dem „Glöckner von Notre-Dame“, auf (die sicher von Johns üblichen Witzen über Behinderte beeinflusst war), dass sie ihm ein ganzes Schälchen Zucker über den Kopf kippte. Um Pauls Zorn zu entgehen, flitzte sie sofort zur Tür hinaus, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie mehr oder weniger davon überzeugt, dass ihre Romanze damit ein plötzliches, aber denkwürdiges Ende gefunden hatte. Aber Paul erschien wie vereinbart zu ihrer nächsten Verabredung am Abend, was Iris so sehr überraschte, dass sie erst noch heimlich im Nebenzimmer telefonieren musste, um dem Jungen abzusagen, mit dem sie sich als Ersatz verabredet hatte – und bei dem es sich zufällig um einen anderen Beatle handelte, nämlich um George Harrison.

Der rächte sich wenig später an seinem Bandkollegen bei einem der regelmäßigen Treffen Liverpooler Musiker, die bei den Caldwells zu Hause stattfanden. Jemand zog das spiritistische Ouija-Hexenbrett der Familie hervor, machte das Licht aus, und dann kamen alle zusammen, um zu sehen, ob man einen Geist aus dem Jenseits beschwören konnte. Als der Zeiger begann, eine Botschaft der verstorbenen Mary McCartney auszugeben, saß ihr Sohn kerzengerade aufgerichtet auf seinem Stuhl. Bis George plötzlich zu lachen anfing – er hatte den Zeiger heimlich mit den Fingern manipuliert. „Paul fiel richtig über ihn her“, sagt Iris. „Er fand das ganz und gar nicht witzig.“

Iris hatte längst erkannt, welche Spuren Marys Tod bei Paul hinterlassen hatte. „Er war deswegen sehr verschlossen. Er sprach überhaupt nicht von ihr und hatte einen richtigen Schutzschild um sich errichtet.“92 Stattdessen, sagt sie, redete er am liebsten über Musik – über die Beatles, welche Ziele die Band hatte und was er tun wollte, um sie zu erreichen. „Er suchte stets nach der nächsten Gelegenheit, der nächsten großen Chance, und achtete aufmerksam auf jede Möglichkeit, die sich ihm bot. Für meinen Bruder war es nur ein Spiel, aber für die Beatles war es etwas anderes.“

Es war, wie sich herausstellte, Pauls ganzer Lebensinhalt. Er beendete die Beziehung mit Dot bald nach ihrer Fehlgeburt. Die Freundschaft mit Iris hielt ein wenig länger, schlief aber auch irgendwann ein. Sie hatte es bereits kommen sehen. „Er wusste, dass Musik sein Leben war und dass es auch so bleiben würde. Er wusste, dass er extrem viel Talent hatte. Und er wusste, was er tat und wie er alles zusammenhalten konnte.“

Die Beatles sorgten bei allem, was sie taten, dafür, dass sie sich von anderen abhoben. Sie zogen sich anders an als andere Bands, kombinierten ihre Lederklamotten mit schwarzen Polohemden, die mehr an die Mode der deutschen Kunststudenten erinnerten als an Marlon Brando. John war zwar schon längst nicht mehr an der Kunstakademie, trug aber noch den dazugehörigen Schal, und das brachte schließlich andere Musiker dazu, ebenfalls Kunstakademie-Schals zu tragen, obwohl sie nie ein Seminar dort besucht hatten oder überhaupt auch nur wussten, wo das Institut lag. Die vier Beatles reisten meist gemeinsam und blieben auch nach der Ankunft weiter zusammen. Tony Sanders von der Band Billy Kramer And The Coasters erinnert sich daran, wie beide Bands eine Garderobe von der Größe eines Wandschranks miteinander teilten, und dabei sei es so still gewesen, dass er das Gefühl hatte, in einen Stummfilm geraten zu sein. „Es war, als hätten sie das geprobt, diese Distanz und Kühle, um vielleicht gerade diese Aura heraufzubeschwören“93, sagt er.

Der Look der Band wandelte sich erneut im Oktober 1961, als John und Paul nach Paris trampten, um Johns einundzwanzigsten Geburtstag zu feiern. Dabei trafen sie einen Freund aus Deutschland, Jürgen Vollmer, und ihnen fiel sein Haarschnitt auf. Viele Studenten auf dem Kontinent hatten damit aufgehört, die Haare mit Pomade zu fixieren, und ließen sie vielmehr natürlich über Stirn und Ohren fallen. Nachdem sie sich so lange Jahre das Haar zurückgekämmt hatten, trauten sich die britischen Musiker erst nicht so recht, sich von ihrem harten Image zu verabschieden. Aber kurz bevor er aus der Band ausstieg, hatte Stu bereits mit einem neuen Stil experimentiert, und je länger sie sich Vollmer nun ansahen – seine kubanischen Stiefel, die kragenlose Pierre Cardin-Jacke und die lockeren Ponyfransen –, desto mehr gefiel ihnen sein Avantgarde-Schick. Sie wuschen sich die Haare und ließen sich von Vollmer einen leicht veränderten Haarschnitt verpassen, um ein paar Tage später mit einem Beatles-Look nach Liverpool zurückzukehren, der sich noch mehr vom Aussehen anderer Bands unterschied. George, der ewige kleine Bruder, machte es ihnen binnen weniger Tage nach. Pete bevorzugte es, die Haare weiterhin zurückgekämmt und zur Tolle aufgetürmt zu tragen, eine individuelle Regung, die sich für ihn nicht auszahlen sollte.

John und Paul waren außerdem recht geschickt darin, die Medien für den Aufbau des eigenen Images einzuspannen. Die verlässlichste Waffe bei dieser Offensive war Mersey Beat, jene Zeitschrift, die Bill Harry jüngst ins Leben gerufen hatte. Harry hatte sich schon während ihrer gemeinsamen Zeit auf der Kunstakademie mit John angefreundet. Gern bereit, seinen Kumpels bei der Selbstinszenierung zu helfen und nebenbei die Seiten seiner Zeitschrift zu füllen, überließ Harry einen beträchtlichen Teil der Titelseite der ersten Ausgabe einem Text, den John „Ein kurzer Ausflug zu den zweifelhaften Ursprüngen der Beatles“ genannt hatte. Es handelte sich um eine absurde Autobiografie, in der unter anderem die Geschichte zu lesen war, dass ein Mann, der auf einer brennenden Torte an ihnen vorüberflog, den Namen Beatles erfunden hatte. In späteren Ausgaben fanden sich regelmäßig weitere Texte aus Johns Feder (der dafür das Pseudonym Beatcomber benutzte), und auch von Paul bereitgestellte Bandfotos (von denen viele von Astrid stammten) sowie handgeschriebene Presseveröffentlichungen, in denen die jüngsten Engagements und Leistungen der Gruppe beschrieben wurden. Wegen dieser Bilder und auch aufgrund einer hartnäckigen Gefolgschaft von Fans, die auf der Suche nach der in Hamburg mit Tony Sheridan eingespielten Single „My Bonnie“ waren, wurde ein Liverpooler Plattenverkäufer auf die Beatles aufmerksam, der Brian Epstein hieß.

Die Epsteins betrieben die NEMS-Musikgeschäfte in Liverpool; der 27-jährige Sprössling galt als sehr kultiviert und äußerst strukturiert. Rock ’n’ Roll interessierte ihn nur insoweit, als er in seinem Geschäft über die Platten Bescheid wissen musste, die er verkaufte. Nach Feierabend hörte Brian lieber die Shownummern und Popstandards seiner Jugend. Als Homosexueller in einer aggressiv schwulenfeindlichen Gesellschaft verbarg Brian seine Neigung und war ständig hin- und hergerissen zwischen Verlangen, Angst und Selbsthass. Er war eine empfindsame, schillernde Persönlichkeit mit einem höchst komplexen Innenleben. Als Ästhet, der sich unwiderstehlich zu ungehobelten Männern hingezogen fühlte, war Brian sicherlich schon vorher über die Bilder der ledergekleideten Beatles gestolpert, die im Mersey Beat zu sehen waren, zumal er für das Blatt regelmäßig eine Kolumne schrieb. Vielleicht hatte Brian die Musiker auch wiedererkannt, denn sie verbrachten nach ihren Auftritten im Cavern oft Stunden in seinem Geschäft, blätterten durch die Importschallplatten und hörten sie sich kostenlos in den Kabinen hinten im Laden an. Brian gab sich alle Mühe, die deutsche Single der Band aufzutreiben, was schließlich etwas einfacher wurde, als er herausbekam, dass die Plattenfirma die Gruppe auf der Hülle als Beat Brothers führte, um zu vermeiden, dass man den englischen Namen Beatles mit dem ähnlich klingenden, norddeutschen Ausdruck Piedel (für Penis) in Verbindung brachte. Offenbar angezogen von dem Hauch von Gefahr, der die Band umwehte, nahm der gelangweilte junge Geschäftsleiter seinen ganzen Mut zusammen, marschierte an den verfaulenden Früchten auf der Matthew Street vorbei und besuchte eine der Mittagsvorstellungen der Band im Cavern.

Was Brian dort sah, warf ihn beinahe um. Es war nicht nur die Hitze und der Mangel an frischer Luft, der ihm das Blut in die Wangen trieb, als er da ganz allein an der Softdrinks-Bar hinten im Saal stand. Brian hatte eine Weile an der Royal Academy Of Dramatic Arts Schauspiel studiert und dabei sein Gespür für einen guten Auftritt zusätzlich geschärft. Die Leidenschaft in den Stimmen der Beatles, die Intensität ihres Spiels überwältigte ihn ebenso wie das Aussehen der Band. All das, kombiniert mit ihrem Witz und ihrer Intelligenz, die schließlich im Gespräch mit den vier Jungs zutage trat, machte die Sache klar. Er musste diese Band zu einem Teil seines Lebens machen.

„Er kam zu mir und sagte mir, dass er sie managen wollte“94, berichtet Peter Brown, ein enger Freund, der für Brian eine der NEMS-Filialen führte. Brown kannte Paul und John bereits, weil sie häufig in der Schallplattenabteilung seines Geschäfts herumlungerten, und er hatte dabei nicht gerade den Eindruck bekommen, dass sie etwas Besonderes waren. „John war ein interessanter Typ“, erinnert er sich achselzuckend. „Und Paul war so ein ganz Netter. Aber sonst?“ Als er erfuhr, dass sein Freund und Boss mit dem Quartett Geschäfte machen wollte, war er ziemlich erstaunt. „Ich dachte, du bist ja total verrückt.“

Brians Freunde und Kollegen dachten überwiegend dasselbe. „Nun ja, ich hatte schon einige von Brians Marotten miterlebt“95, meint Rex Makin, ein bekannter Liverpooler Anwalt, der die Familie Epstein öfter bei ihren geschäftlichen Unternehmungen beriet. „Die waren meist eher kurzlebig. Ich ging davon aus, dass es wieder so eine Spinnerei von ihm war.“ Aber Brian blieb hartnäckig, besuchte weitere Konzerte im Cavern und drängte sich schließlich durch die Menge in die enge Garderobe, um mit der Band zu sprechen. Die Musiker waren zunächst recht skeptisch, wie meist gegenüber Außenstehenden. Aber sie waren von Brian auch beeindruckt, der ihnen gegenüber jene Upper-Class-Eleganz an den Tag legte, die sie in den düsteren Kellerräumen des Cavern sicherlich niemals zu sehen erwartet hätten. Als er sie fragte, ob sie daran interessiert seien, dass er sich um ihre Angelegenheiten kümmere, kam die Band überein, über sein Angebot nachzudenken. Seit Alan Williams ihnen die Engagements in Hamburg verschafft hatte, gab es niemanden mehr, der für sie arbeitete. Mona Best organisierte gelegentlich ein paar Auftritte für sie, aber sie war kaum als echte Managerin zu bezeichnen. Jim McCartney äußerte Bedenken, dass Brian die Band vielleicht irgendwie ausnutzen wolle, doch das störte die Beatles ebenso wenig wie die Erkenntnis, dass Brian schwul war. Sie interessierte es vielmehr, dass er Geld und gute Verbindungen hatte und dass er ihnen dabei helfen wollte, berühmt zu werden.

Schließlich erklärten sie sich bereit, einen Vertrag mit Brian zu unterschreiben (ein vorgefertigtes Dokument, das Brian auf Makins Vorschlag hin in einem Schreibwarenladen gekauft hatte), und vereinbarten einen Termin nach einer ihrer Mittagssessions im Cavern. Sie alle erschienen pünktlich, nur Paul fehlte. Die Minuten vergingen. Brian wurde langsam nervös. Schließlich röteten sich seine Wangen. Wo blieb Paul? Ein Telefonanruf klärte es: Er war nach Hause gefahren, um zu baden.

„Er wird viel zu spät kommen!“, regte sich Brian auf.

George zuckte die Achseln. „Aber dann sehr sauber.“

Es erscheint seltsam, dass Paul den ganzen Weg zur Forthlin Road gemacht haben soll, die weit außerhalb des Stadtzentrums lag, um dann wenig später die achtzehn Kilometer zurückzufahren. Tony Barrow, der bald die Presseabteilung von NEMS übernahm, hält Pauls Verspätung für reine Strategie. „Er wollte sich einen dramatischen Auftritt verschaffen und nach Divenart als Letzter hereinrauschen.“96 Pauls Motive offenbarten sich in einer geflüsterten Unterhaltung, von der Brian Epstein Barrow wenig später berichtete (und die Brians Assistent Alistair Taylor, der bei dem Treffen ebenfalls zugegen war, ihm bei anderer Gelegenheit ebenfalls schilderte). „Paul nahm Brian beiseite und sagte ihm: ‚Ob diese Band es schaffen wird oder nicht, ich werde jedenfalls ein großer Star‘“, berichtet Barrow. „Er sagte: ‚Die Band ist toll, und wenn wir es alle zusammen schaffen, dann ist das super. Aber wenn nicht, dann werde ich trotzdem ein Star. Nicht wahr, Brian?‘ Und er bekam Brian mehr oder weniger dazu, dass er ihm zustimmte.“

Epstein ging an die Arbeit und nutzte seinen Einfluss als größter Schallplattenhändler der Region, um der Gruppe einen Vorspieltermin bei Decca Records in den Londoner Studios des Unternehmens zu organisieren. Die Session wurde für den 1. Januar 1962 frühmorgens angesetzt, und die Beatles waren überglücklich. Aber dieser entscheidende Schritt nach vorn war von einer Reihe neuer Direktiven ihres Managers begleitet. Sie sollten auf der Bühne nicht rauchen, nicht trinken, nicht essen und kein Kaugummi kauen. Und sie sollten auch nicht mehr in ungewaschenen Lederklamotten und in schwarzen T-Shirts erscheinen. Es war an der Zeit, dass die Bandmitglieder etwas Geld in Anzüge und Krawatten investierten, wie es sich für professionelle Musiker gehörte. Vor den Auftritten mussten sie Setlisten schreiben und sich dann auch daran halten. Und wenn ein Song zu Ende war, hatten sie den Applaus des Publikums mit einer tiefen, wohleinstudierten Verbeugung entgegenzunehmen. „Und wir haben es gemacht“97, erinnerte sich Paul. „So war nun mal das Showgeschäft. Wir hielten nun Einzug in das ganze magische Reich.“

Brian half ihnen auch dabei, die Songs auszuwählen, die sie für die allmächtigen Decca-Manager der Abteilung Artist & Repertoire spielen sollten, und er steuerte dabei weg von den harten Rocktiteln und hin zu den Shownummern und Cabaretsongs, die bisher zwar nicht von entscheidender Bedeutung gewesen waren, aber stets ihre Vielseitigkeit unter Beweis gestellt hatten – „September In The Rain“, „Till There Was You“ und dergleichen. Sie spielten auch drei Lennon-McCartney-Kompositionen, wählten aber solche („Love Of The Loved“, „Hello, Little Girl“ und „Like Dreamers Do“), die kaum erahnen ließen, welche Kreativität in ihnen schlummerte.

Der Vorspieltermin lief nicht besonders gut. Die Band war verkatert, da die Musiker in London ausgiebig bis in die frühen Morgenstunden Silvester gefeiert hatten. Sie klangen schleppend, und ihre seltsame Song­auswahl („The Sheik Of Araby“ – war das wirklich eine gute Idee?) machte das Ganze noch schlimmer. Dennoch schloss der leitende Toningenieur Mike Smith die Session mit einem Lächeln und reckte den Daumen in die Höhe, bevor er erklärte, er sehe keinen Grund, weshalb sie nicht schon bald Aufnahmen für das Label machen sollten. Leider war sein Boss Dick Rowe ganz anderer Meinung, und unterbrochen von vielen Ähs und Öhs teilte er Brian dies auch schließlich mit. Die Beatles würden keinen Vertrag bei Decca bekommen. Brian schwor, es dennoch weiter zu versuchen, und um zu beweisen, wie überzeugt er von der Band war, versüßte er den Jungs die Anreise zum nächsten zweimonatigen Engagement in Hamburg, indem er ihnen ein Flugticket spendierte.

Die Band und ihr Manager waren für zwei verschiedene Flüge von Liverpool nach Hamburg gebucht, und John, Paul und Pete kamen ein wenig früher an als George und Brian. Nach der Ankunft in Hamburg blieben sie am Flughafen und warteten auf den nächsten Flieger aus der Heimat. Als sie wieder zum Gate zurückkehrten, sahen sie, dass Astrid dort wartete. Sie freuten sich riesig, ihre alte Freundin wiederzusehen, und liefen ihr entgegen. Woher hatte sie gewusst, dass sie kommen würden? Wo war Stuart? Astrid sagte zuerst nichts. Als sie endlich einen Satz herausbekam, warfen ihre Worte die drei Musiker beinahe um.

„John fing hysterisch an zu lachen. Pete weinte und konnte gar nicht aufhören. Und Paul saß einfach nur da, verbarg das Gesicht in den Händen und sagte kein Wort.“98 Die Szene steht Astrid auch fünfzig Jahre später noch lebhaft vor Augen. „Es ist schrecklich für junge Leute, für die der Tod noch so weit entfernt ist, wenn sie plötzlich hören, dass einer ihrer Freunde nicht mehr da ist.“

Stu, sagte Astrid, war tot.

Im Rückblick schien sich alles wie ein Mosaik zusammenzufügen. Stu hatte schon jahrelang an Kopfschmerzen gelitten und oft so heftige Anfälle gehabt, dass er sich hinlegen musste. Dies hatte sich in den letzten Monaten verschlimmert, und zusätzlich litt er an Stimmungsschwankungen und wurde plötzlich aggressiv. Aber die Ärzte konnten auch bei Röntgenuntersuchungen nicht feststellen, woran Stu litt. Versuchen Sie sich zu entspannen, sagte man ihm. Dabei übersahen sie jedoch, dass sich ein kleiner, aber bösartiger Tumor in seinem Gehirn eingenistet hatte. Die Schmerzen belasteten sein Leben weiterhin schwer, bis er am 10. April in dem Zimmer, das er mit Astrid im Haus ihrer Mutter teilte, zusammenbrach. Als der Krankenwagen kam, konnte man nichts mehr für ihn tun. Der erste Bassist der Beatles starb auf dem Weg ins Krankenhaus, nur wenige Stunden, bevor seine früheren Band-Kumpel am Flughafen ankamen. Astrid war gekommen, um Stuarts trauernde Mutter Millie Sutcliffe abzuholen. Als seine Familie wieder nach Hause gefahren war, wachte Astrid morgens allein auf und musste sich mit dem neuen, leeren Leben arrangieren, das nun vor ihr lag. In den nächsten Wochen merkte sie, dass sie auf Stus alte Freunde zählen konnte, die ihr dabei zu helfen versuchten, über Stus Tod hinwegzukommen. „Sie kümmerten sich wirklich sehr um mich, wir redeten viel über Stu und weinten zusammen“99, sagt Astrid. „Es war für sie alle sehr schwer, vor allem für John. Man konnte den Zorn richtig spüren, der in ihm brodelte.“

Die Wochen in Hamburg vergingen in dem schon vertrauten verschwommenen Nebel aus Lärm, Alkohol und Amphetaminen, und die Beatles kehrten gerade rechtzeitig nach Hause zurück, um einen neuen Vorspieltermin wahrzunehmen, dieses Mal bei Parlophone Records, einem wenig renommierten Tochterunternehmen des großen Schallplattenkonzerns EMI. Der A&R-Chef der Parlophone, George Martin, hatte es ursprünglich dem Toningenieur Ron Richards überlassen, sich die Gruppe anzuhören, doch der war so fasziniert, dass er seinen Boss hinzuholte. Martin war insgesamt vom Spiel der Gruppe recht beeindruckt. Vor allem aber mochte er die Beatles auf der persönlichen Ebene – jedenfalls die drei von ihnen, die etwas sagten. Pete saß meist still da, war zwar nett, machte aber einen etwas zurückhaltenden Eindruck. Das passte dazu, dass auch sein Schlagzeugspiel nach George Martins Ansicht nicht den Schwung und die Energie hatte, die sich der Produzent vorstellte. Als er Brian wenige Tage später telefonisch ein Angebot unterbreitete, machte er auch keinen Hehl aus diesem Umstand. Die Gitarristen waren in Ordnung, aber Parlophone würde einen Session-Schlagzeuger anheuern, der die Beatles bei ihrer ersten Aufnahmesession unterstützte. Deswegen brauche man sich allerdings keine Sorgen zu machen, fügte er gleich hinzu. Viele Gruppen arbeiteten auf diese Weise. Deswegen konnte Pete durchaus weiterhin die Konzerte bestreiten.

Da waren sich die anderen Beatles allerdings nicht so sicher.

War Paul eifersüchtig, weil Pete so einen Schlag bei den weiblichen Fans hatte? Hing es John einfach zum Hals heraus, dass dem Schlagzeuger Stil und Witz abgingen? Hatte George einfach den zähen Beat und den mangelnden Swing in Petes Spiel über? Oder war es vielleicht Brian? Schließlich war es nicht zu übersehen, dass er es überhaupt nicht schätzte, wenn ihm Mona in herrischem Ton „Vorschläge“ dazu unterbreitete, wie er die Karriere ihres Sohnes vorantreiben solle. Die ganze Sache entwickelte sich zu einem spannenden Krimi in Agatha Christie-Manier. Jeder hatte ein Motiv, Pete Best bei den Beatles hinauszuwerfen. Aber selbst Jahrzehnte später ist der wahre Grund nicht ans Licht gekommen. Vermutlich lautet die Antwort: Jeder trug dazu bei. Pete war in Ordnung. Er war ein netter Typ, ein passabler Drummer, ein anständiger Mensch. Er war nur irgendwie nicht so wie sie. Die Beatles hatten sich weiterentwickelt, und er hatte den Anschluss verpasst.

Petes drei Freunde, mit denen er gespielt, gelitten, triumphiert und an deren Seite er weiter vorangekommen war, als er je zu hoffen gewagt hatte, machten es sich leicht. Sie wiesen Brian an, Pete in seinem Büro darüber zu informieren, wie die Sache stand, während sie weit weg waren. Keiner von ihnen hat je wieder mit ihm gesprochen.

Ein paar Tage später waren die Beatles vom Liverpooler Promoter Sam Leach für einen Auftritt im Tower von New Brighton auf der anderen Merseyseite gebucht worden. Der Besetzungswechsel hatte sich als einigermaßen unproblematisch erwiesen – einige Fans skandierten zwischen den Songs „Pete für immer!“, und jemand schlug George in dem Zusammenhang ein blaues Auge, das eine Woche lang sichtbar blieb. Aber beim Auftritt im Tower saß bereits Rory Storms Drummer Richard Starkey, der sich Ringo Starr nannte, hinter John, Paul und George am Schlagzeug. Pete hingegen war zu Lee Curtis And The All-Stars gegangen. Als die Beatles erfuhren, dass Curtis’ Band ebenfalls an jenem Abend im Tower auftrat, wurde Paul ziemlich nervös. Die Beatles würden direkt nach den All-Stars auf die Bühne kommen, was bedeutete, dass man sich zwangsläufig am Bühnenausgang begegnen würde, und wer wusste schon, was dann passieren würde? Der besorgte Paul wandte sich daraufhin an Leach und bat ihn um einen Gefallen. „Er sagte: ‚Würdest du John und mich auf die Bühne begleiten, wenn wir dran sind?‘ Ich fragte, warum, und er sagte: ‚Vielleicht haut Pete uns eine rein.‘“100 Wie jeder Promoter, der weiß, dass er ein echtes Zugpferd verpflichtet hat, tat Leach ihnen den Gefallen und führte die beiden Beatles-Frontmänner vor ihrem Auftritt auf Armeslänge entfernt an ihrem Ex-Drummer vorüber.

„Ich wusste, dass Pete nichts machen würde, er ist ein eher sanfter Typ. Als sie im Flur an ihm vorüberkamen, senkte Pete den Kopf. Und ich fühlte mich einfach nur mies.“

Für die Beatles ging es immer weiter voran. Sie hatten schon viel zu viel Geschwindigkeit aufgenommen, um noch zurückblicken zu wollen – und die Fahrt hatte gerade erst begonnen.

Paul McCartney - Die Biografie

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