Читать книгу Paul McCartney - Die Biografie - Peter Ames Carlin - Страница 8

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Kapitel 1

Paul McCartney ist fast zu Hause.

Er ist in Liverpool, jener Stadt, in der er geboren wurde und seine Kindheit und Jugend verbrachte. Mehr noch, er ist in Anfield, jenem Stadtteil, in dem sein Vater aufwuchs, in dem Ende des 19. Jahrhunderts sein Großvater lebte, arbeitete und seine Familie ernährte. Kein Wunder, dass Paul so strahlt. In wenigen Wochen wird er seinen 66. Geburtstag feiern, und in diesem Augenblick ist er ganz nahe an seinen Wurzeln. Umgeben von seiner Familie. Unter Freunden. Auf einer großen Feier. Großvater Joe McCartney hätte es damals, kaum eineinhalb Kilometer entfernt, genauso krachen lassen. Und Vater Jim McCartney ebenfalls. Jetzt, im neuen Jahrtausend, macht sein Sohn dasselbe.

Seine Wangen glühen. Seine Augen funkeln. Er öffnet den Mund, legt den Kopf in den Nacken und stößt ein helles Freudengeheul aus. Ahhhhhhhh!

Zehntausend Stimmen antworten ihm.

Paul trägt einen schwarzen Anzug mit hochgestelltem Kragen und darunter ein lockeres, weißes Hemd. Sein Haar ist übernatürlich braun, und er sieht deswegen, wenn auch auf leicht surreale Weise, jünger aus. Vor allem aber hat er seinen Höfner-Bass umhängen, und das allein genügt, um ihn so alterslos erscheinen zu lassen, wie er sich wahrscheinlich fühlt. Er weiß, wenn man sich Paul McCartney mit geschlossenen Augen vorstellt, dann unwillkürlich immer mit diesem Instrument. Der Höfner-Bass mit dem geigenförmigen Korpus zählt zu den ausdrucksstärksten Symbolen der Rockmusik. Er ist sein Wahrzeichen, sein Excalibur. Dabei ist das Instrument nicht unbedingt der Schlüssel zu seiner Vergangenheit. Aber die Tatsache, dass er es noch hat und noch so häufig in der Öffentlichkeit spielt, ist durchaus bedeutsam.

Der Höfner liegt ihm wie immer leicht in der Hand und schwingt locker vor seinen Hüften, als er sich zur Band umdreht und ein paar Töne anschlägt. Hinter ihm tupft der Schlagzeuger zart auf die Becken des Hi-Hats und baut einen Rhythmus auf. Paul wirbelt auf dem Absatz herum, tritt ans Mikrofon und brüllt den zigtausend Gesichtern, die sich vor ihm im Stadion aufreihen, eine Begrüßung entgegen:

For goodness sake – I got that hippy hippy shake …

Eine Explosion aus Schlagzeug, Gitarren und Keyboards prallt gegen den Lärm, der vom Publikum gegen die Bühne brandet, und es ist dieser Augenblick, an dem Paul wirklich nach Hause kommt. Er hat diesen Song nicht geschrieben, aber er hat ihn sich vor beinahe fünfzig Jahren angeeignet und damals zusammen mit ein paar Freunden in einem feuchten Keller vor Jugendlichen aus der Nachbarschaft immer wieder gespielt. Damals sprach noch niemand von Geschichte, und niemand dachte an Symbole oder Legenden. Aber was hätte das damals auch bedeutet? Sie hatten drei Akkorde, ein Schlagzeug und irgendeinen Schwachsinnstext über den Hippy Shake-Shake, für den man mal nach links und mal nach rechts schütteln musste. Und mehr brauchten sie nicht, das war alles, worauf es ankam.

So fing es an für Paul und seine Freunde. Und dann ging es richtig los. Erst kam ein größerer Keller, dann ein nach Bier stinkender Club in Hamburg. Ein Tanzsaal, eine kleine Halle und schließlich größere Hallen. Sie reisten nach London, nach Paris, nach New York. Und irgendwann um die ganze Welt. Bis die anderen drei verschwunden waren und nur er und Linda zurückblieben. Nun sorgte Paul dafür, dass sie mit ihm kam, auf die Bühne, um sich wie er von dieser Welle der Energie tragen zu lassen. Und natürlich gab es auch noch den Alltag. Das Haus und die Kinder und all das, aber die Scheinwerfer und die Kameras und die Musik in den Studios gingen nie aus. Und immer war da diese elektrisierende Druckwelle von Gitarren und Schlagzeug und Keyboards, zusammen mit seiner sanften, klaren, durchdringenden Stimme.

Nun steht er dort oben, wie eine Sprungfeder angespannt, seine Finger tanzen über das Griffbrett des Höfner-Basses, seine Stimme dröhnt, denn er will seine Geschichte erzählen. Nicht unbedingt mit Worten. Sicher, Paul spricht gern über sich selbst und schiebt die Fakten und Ideen hin und her, bis sie seiner sich stets wandelnden Vorstellung von Realität entsprechen. Aber das Herz dieses Mannes liegt in seiner Musik. Daher findet man nur dort die echte Wahrheit. Man kann sie hören. Jetzt ist „Hippy Hippy Shake“ vorbei, und vieles andere wird noch kommen. Sein ganzes Leben breitet er dort oben auf der Bühne aus und lässt es vor den Augen seines Publikums vorbeiziehen.

Es folgt „Jet“ – Paul und Linda zu ihren besten Zeiten. Jung, verliebt, von Kindern und Hunden umgeben und komplett und glücklich zugekifft. Mit einem Ruck geht die Zeitreise mit „Drive My Car“ ein paar Jahre zurück, John und Paul drängen sich um ein Klavier und verweben eine kleine Idee und ein bisschen Überheblichkeit zu einem herrlich geschmeidigen Rocksong über Lust, Geld und Macht. I got no car and it’s breaking my heart / But I found a driver, and that’s a start! Wie lange hat es gedauert, bis der Song fertig war – zwei Stunden? Inklusive Teepause? Wieder dreißig Jahre weiter nach vorn, nun kommt „Flaming Pie“, und darin geht es um dieselbe schicksalsträchtige Partnerschaft. Paul ärgert sich ein wenig über jene, die ihn für den Juniorpartner in diesem Songwriterteam gehalten haben: Ich bin der Kerl auf der brennenden Torte! Und um zu beweisen, dass er es immer noch draufhat, folgt nun seine neue Single „Dance Tonight“, die vielleicht düsterste Einladung zum Boogie, die es je gab.

Nun ein Augenblick des Gedenkens an George, mit einer Fassung von „Something“, bei der eine Ukulele den Ton angibt. Es ist rührend und gleichermaßen seltsam: Eine Ukulele? Bei seinen eigenen Klassikern „Penny Lane“ und „Hey Jude“ geht Paul wesentlich ernsthafter zu Werke. Und noch ernster wird es bei „Yesterday“, diesem Geschenk des eigenen Unterbewusstseins, dessen Melancholie von jenem tief empfundenen Verlust der Mutter gespeist wurde, der ihn als Teenager traf und dazu brachte, sich an seine Gitarre zu klammern und sie nie wieder loszulassen. „Let It Be“ erzählt eine andere Version derselben Geschichte. Mother Mary erscheint hier höchstpersönlich. Dann noch einmal eine Verbeugung vor John Lennon, die viel komplexer gelagert ist – angesichts all dessen, was geschah und was nicht geschah, angesichts der Stelle, an der er heute steht und singt, und angesichts der Tatsache, dass Yoko Ono im Publikum sitzt, wie er weiß, und jede seiner Bewegungen genau beobachtet.

I read the news today, oh boy …

Das hat er noch nie versucht, eine Liveversion von „A Day In The Life“, dem vielleicht kompliziertesten Song, den die Beatles je aufgenommen haben. In vielerlei Hinsicht ist es der Höhepunkt und das Herzstück seiner Zusammenarbeit mit John Lennon, die übergangslose Verquickung der existenziellen Düsternis des einen mit der surrealen Spaßeslust des anderen. Die Kameras haben Yoko in der Menge ausgemacht; ein schwarzer Zylinderhut thront elegant auf ihrem rabenschwarzen Haar, und sie lächelt und nickt, als die Livemusik auf der Bühne ausgeblendet wird und eine Aufnahme des berühmten Orchesterlärms ertönt, das über die überforderten Lautsprechertürme im Stadion zu einem nicht ganz überzeugenden Crescendo anschwillt. Eine kleine Drehung, und die Band setzt wieder ein, mit dem hymnischen Refrain von „Give Peace A Chance“. All we are saying … Nun strahlt Yoko und klatscht mit, und Paul macht auffordernde Handbewegungen, damit die Menge noch lauter mitsingt. Die Liverpooler sind nun außer sich vor Begeisterung, sie brüllen und winken zu Ehren eines gefallenen Helden, eines Heiligen, eines Märtyrers, der für die gute Sache eintrat. Und genau das wollte Paul auch, selbst wenn ihn diese Verehrung gleichzeitig ein wenig ärgerte.

Jetzt rasch die Tränen trocknen und die Nase geputzt, denn wir blenden zurück in die Kellerlokale seiner Jugend. Wieder zurück zu den verschwitzten Jungs, voller Leben und Begeisterung und noch so völlig ahnungslos, was die Zukunft bringen wird.

A-one, two, three, four!

Das Konzert geht zu Ende, und so kehren wir zum Anfang zurück, zu den vier Arbeiterkindern, die nichts hatten außer ein paar Akkorden, billigen Instrumenten und dem unbändigen Wunsch, keinen richtigen Job ergreifen zu müssen. How could I dance with another? Paul hat eine neue Band, die letzte Auflage der vielen, die er im Laufe der Jahre um sich geschart hat, und die riesige Videoleinwand hinter der Bühne zeigt wieder die Beatles, wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit durch die Gegend rannten und sprangen und tanzten, sich wild hin- und herdrehten und einander in die Arme fielen. Sie waren so jung, so stark auf einander fixiert und völlig von dem wundervollen Lärm erfüllt, der mühelos aus ihnen hinausströmte. Paul brüllt, so laut er kann, das Stadion rockt, und die Wände wackeln buchstäblich durch den pulsierenden Rhythmus. Aber alle starren den alten Film an, und auch Paul kann sich einen kleinen Blick über die Schulter nicht verkneifen. Wie er damals aussah, wie sie damals klangen – das war way beyond compare: unvergleichlich.

Viele Jahre zuvor waren die McCartneys zu viert gewesen. Jim und Mary und ihre beiden ungebärdigen Jungen, Paul und Michael. Jim und Mary waren älter, als man hätte erwarten können. Jim war schon über vierzig, als Paul zur Welt kam, und Mary war in den Dreißigern, als Michael zwei Jahre später die Familie komplett machte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie ihr Familienleben so zu schätzen wussten – trotz der dunklen Wolken, die beide Eltern bereits am Horizont aufziehen sahen. Davon abgesehen hatte sich der McCartney-Clan stets durch einen starken Familienverbund ausgezeichnet, und wenn es an einem Winternachmittag dunkel und kalt wurde, dann setzte sich die Familie im Wohnzimmer zusammen, Jim zog die Klavierbank nach vorn, setzte sich und ließ die Finger über die glatten, weich polierten Tasten gleiten.

Er war kein überragender Pianist; als junger Mann hatte er viel lieber die Trompete gespielt. Aber Jim hatte ein gutes Ohr und flinke Finger, die den Rhythmus und die Melodie der damals beliebten Lieder schnell erfassten und dann mit so viel Schwung zu spielen wussten, dass der Deckel des Klaviers gegen den Rahmen schlug. Ragtime-Schlager, Big-Band-Hits. Mary hingegen war nicht musikalisch – sie war eine Krankenschwester, die aus dunklen, freundlichen Augen in die Welt sah. Dennoch liebte sie es, dass ihr Mann so ein Gespür für Musik hatte, und es rührte sie, wenn Paul zu seinem Vater aufsah, wenn die sanften braunen Augen des Jungen leuchteten und die runden Wangen sich zu einem breiten Lächeln verzogen. Er wünschte sich seine Lieblingslieder, beispielsweise „Lullaby Of The Leaves“, aber von all den Songs, die sein Vater auf den Partys im Freundes- und Familienkreis gern spielte, forderte er vor allem immer wieder George Gershwins „Stairway To Paradise“. Spiel das noch mal, Dad! Spiel es noch mal!

Das tat Jim natürlich auch, mit einem breiten Lächeln, und seine Finger wanderten mit der aufsteigenden Akkordfolge nach rechts (Hörst du das? Genau wie eine Treppe!), während er mit seiner angenehmen Stimme davon sang, wie verrückt es doch war, sich schlecht zu fühlen, wenn man doch einfach die Treppenstufen erklimmen konnte, die direkt zum Glücklichsein führten.

I’ll build a stairway to paradise with a new step every day!

Der kleine Paul liebte diesen Song, er liebte es, wenn sein Dad ihn spielte, und wie er dann, wenn er fertig war, über die Schulter guckte und ein wenig winkte, als ob er sich bei einem aufmerksamen Publikum bedankte. Schließlich hatte er schon oft vor Zuschauern gespielt, und deswegen stellte Paul den Rat niemals infrage, den Jim ihm nach einem der spontanen kleinen Hausmusik-Abende gab: „Du solltest ein Instrument lernen. Wenn du ein Instrument spielen kannst, dann wird man dich zu jeder Feier einladen.“

Der Junge nahm sich den Rat zu Herzen, ebenso, wie Jim ihn befolgt hatte, als sein eigener Vater ihm lange Jahre zuvor das Gleiche gesagt hatte. Sie nahmen einander ernst, die McCartneys. Vielleicht, weil sie immer schon zu arm gewesen waren, als dass ihnen Außenstehende viel Respekt entgegengebracht hätten. So war es immer schon gewesen, seit die ersten McCartneys aus Irland nach Liverpool gekommen waren, wie die meisten Einwanderer mit wenig mehr als den Kleidern, die sie am Leib trugen, und ihrer Muskelkraft, dazu große Hoffnungen und den Kopf voller Ideen, die ihnen dabei helfen mochten, die Vergangenheit abzustreifen und in eine selbstbestimmte Zukunft aufzubrechen.

Man kann nur spekulieren, was die McCartneys dazu bewog, diese Reise anzutreten. Leichter ist es zu beschreiben, was sie vorfanden, als sie ankamen. Liverpool war eine blühende Hafenstadt im Nordwesten Englands an der Mündung des Mersey, jenes Flusslaufs, der wie ein Meeresarm des Atlantiks ins Landesinnere ragt. Liverpool war gewissermaßen das Sprungbrett nach England und dem dahinter liegenden Europa. Am Ufer des Flusses entlang erstreckten sich die Hafenanlagen, und dicht anein­andergedrängt legten hier die Schiffe an, die Zucker, Rum, Tabak und Baumwolle brachten und mit Textilien, abgepackten Nahrungsmitteln und Fertigwaren wieder davonfuhren. Liverpool war zudem ein Anlaufpunkt für die Sklavenschiffe, die von Afrika in die Vereinigten Staaten unterwegs waren und hier ihre Vorräte auffüllten. Dadurch entstand ein so enges kulturelles und wirtschaftliches Band, dass die Regierung der Amerikanischen Konföderation eine inoffizielle Botschaft in der Stadt unterhielt.

Während manche noch nach Liverpool einwanderten, wanderten andere schon wieder aus, um sich an den unbevölkerten Ufern der Neuen Welt oder im sonnigen, leeren Australien niederzulassen. Jene, die blieben, fanden ihr Auskommen – manchmal ein sehr einträgliches – im Liverpooler Handel. Vor allem, als die vom Hafen gestützte Wirtschaft in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebte. Besucher staunten über die imposante neoklassizistische Architektur, die Hochbahn und die kosmopolitische Atmosphäre der Stadt. Aus den Türen der Restau­rants drangen die Wohlgerüche der Karibik, Asiens und Afrikas. Das Adelphi Hotel, das Juwel unter den georgianischen Bauten oberhalb des Stadtzentrums an der Lime Street, war wegen seiner luxuriösen Zimmer und der Schildkrötensuppe, die man im Restaurant bereitete, weltberühmt. Charles Dickens nannte es das beste Hotel der Welt.

Was in London exotisch oder schlicht bizarr gewirkt hätte, sorgte am Mersey nicht einmal für hochgezogene Augenbrauen. Afrikaner gingen Arm in Arm mit blassen Damen in der Stadt spazieren, und niemand fand das merkwürdig. Schon früh wurde in Liverpool der Jazz bekannt, der direkt aus den verrufensten Bezirken von New Orleans und New York kam und sich am Mersey häuslich niederließ. Ein Jazzclub nannte sich Storyville, nach dem berüchtigten Rotlichtviertel von New Orleans. Amerikanische Country-Musik war sehr beliebt, ebenso wie Folk, der mit seinem Mix aus schlicht erzählten Geschichten, einfachen musikalischen Strukturen und sozialistischen Untertönen ein Revival erlebte. Musik war in Liverpool etwas ganz Selbstverständliches. Die Stadt war „mehr als nur ein Ort, an dem Musik entsteht“, schrieb der dort aufgewachsene Journalist Paul Du Noyer einmal sehr treffend. „Liverpool ist ein Grund, weshalb Musik entsteht.“1

Genau so war es im Haus der McCartneys. Dort entstand ständig Musik. Jedes Lied hatte eine Geschichte, und jede Geschichte kam mit einem Lied daher. Das war schon bei dem Patriarchen Joe McCartney so, der das alte englische Basshorn spielte. Er wurde 1866 hier in Liverpool geboren, im Stadtteil Everton, um genau zu sein. Man stelle sich das Leben zu dieser Zeit nur einmal vor: Pferde und Kutschen, endlose harte Arbeit und kaum nennenswerter Lohn. Heute noch macht es den Anschein, als sei Everton nicht gerade die feinste Gegend, aber damals wusste jeder, dass es der schlimmste Slum in ganz England war. Dennoch fand Joe Arbeit in Cope’s Tabak­lager und schuftete dort jahrelang. Er schnitt Tabakblätter, schob sie zusammen und rollte sie. Manchmal verfing sich eine ordentliche Portion davon in den Aufschlägen seiner Hosen. Keine Ahnung, wie der Tabak dort hingelangt war (na, ihr wisst schon), aber irgendwie war er wohl dort hineingerutscht. Was sollte Joe machen, er hob ihn auf. Manchmal hatte er am Ende der Woche so viel zusammen, dass er ein oder zwei Zigarren daraus rollen konnte, um sie einem Freund an der Ecke zu verkaufen und ein paar Pennys zusätzlich für den Unterhalt der Familie zusammenzubekommen.

Es war eine bemerkenswerte Familie. 1896 hatte Joe Florrie Clegg geheiratet, und es dauerte nicht lange, bis sich Nachwuchs einstellte. Joe und Florrie hatten neun Kinder, von denen sieben das Säuglingsalter überlebten, und das bedeutete, dass eine Menge kleiner McCartneys in Everton herumliefen. Und sie waren dabei nicht gerade leise. Egal, wie voll es im Haus sein mochte, die Tür der Familie stand meistens offen, und wenn das der Fall war, dann drang Musik heraus. Joe spielte Basshorn in der Bläsergruppe seines Viertels, und deshalb schauten öfter Freunde und Bandkollegen vorbei, um ein wenig zu musizieren und Tee zu trinken – oder auch etwas Stärkeres, wenn sie richtig in Stimmung kamen. Joe selbst bevorzugte Limonade, aber er hielt nie andere davon ab, sich zu amüsieren. Florrie hielt die Küche in Gang, begrüßte die Gäste, goss Tee auf und machte Welsh Rarebit, Toast mit Käsesoße, zur Stärkung. Abends standen die Türen meist weit offen. Die Musik war bis auf die Straße zu hören, Freunde und Nachbarn unterhielten sich auf dem Hof und tanzten.

So war das bei den McCartneys in der Solva Street in Everton. Mochte ja sein, dass die männlichen McCartneys dazu bestimmt waren, ihr Leben als Tagelöhner zu fristen oder als Arbeiter in der Fabrik eines reichen Mannes für ein paar Pennys zu malochen. Aber vielleicht konnte man mit einem bisschen Glück und harter Arbeit etwas Besseres finden. Und vielleicht war es auch in Ordnung, wenn man währenddessen ein bisschen Spaß hatte.

Das waren Weisheiten, wie Joe McCartney sie an seine Kinder weitergab, und sein Zweitältester, James, der am 7. Juli 1902 zur Welt kam, nahm sie in sich auf. Er war ein gutaussehender, liebenswerter Junge, der mit einer Adlernase und schmalen Augenbrauen gesegnet war, deren auffällige Bogenform ihm den Anschein gab, er sei ständig über irgendetwas erfreut, was bei seiner lustigen Art auch meist zutraf. James – oder Jim, wie er genannt wurde – passte im Unterricht an der Steer Street School in Everton gut auf und folgte dem Vorbild seines alten Herrn, indem er Trompete lernte. Als ein Nachbar der Familie ein ramponiertes, altes Klavier überließ, das aus dem NEMS-Musikgeschäft der Familie Epstein stammte, fühlte sich Jim von den Tasten magisch angezogen. Er brachte sich genug Noten und Akkorde bei, um etwas beitragen zu können, wenn die Türen offen standen und die Hausmusik begann. Als es an der Zeit war, dass sich der Schuljunge nebenher eine Arbeit suchte, um auch finanziell etwas zum Unterhalt beizusteuern, nahm Jim einen Job am nahe gelegenen Theatre Royal, einem Vaudeville-Theater, an. Er verkaufte vor den Vorstellungen Programme, um dann später, wenn die Show im Gange war, oben auf dem Balkon die Bühnenbeleuchtung zu betreuen. Wenn der Vorhang gefallen war, suchte der Junge die Gänge nach weggeworfenen Programmen ab, die er dann mit nach Hause nahm, um sie wieder aufzupolieren (feucht abwischen und einmal bügeln reichte in der Regel) und am nächsten Abend erneut zu verkaufen.

Jim verließ die Schule mit vierzehn und kam dann beim Baumwollkontor A. Hannay & Co. unter, brachte Stoffproben vom Markt zum Lager und zurück und verdiente sechs Schilling die Woche. Es war ein reiner Laufburschenjob, aber Jim McCartney zeigte dabei so viel Eifer und Initiative, dass er seinen Chefs auffiel. Vielleicht taugte dieser Junge doch zu etwas Besserem als zu den niedrigsten Jobs im Betrieb. Jim biss sich durch, kletterte die Karriereleiter beharrlich weiter hinauf und wurde schließlich, vierzehn Jahre später, von der Geschäftsführung aus dem Lager in den Verkauf befördert. Es kam höchst selten vor, dass ein Arbeiterjunge in die Schlips-und-Kragen-Ränge aufsteigen durfte. Für einen Jungen aus der Unterschicht ohne besonders viel Bildung war das ein ziemlich großer Sprung. Die Familie war äußerst erfreut.

Kleinvieh macht auch Mist! Mäßigung und Toleranz! Für Jim lag der Schlüssel zum Leben in zwei ganz einfachen Dingen: gesundem Menschenverstand und guter Laune. Er machte seine Arbeit, erfüllte seine Pflichten und hatte nebenbei so viel Spaß wie möglich. Er war gewitzt und lustig und genoss es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Jim McCartney war in seinem Viertel, in Everton, sogar eine Art Legende, denn dort kannten ihn die Jazzfreunde als den Kopf von Jim Mac’s Band, der es faustdick hinter den Ohren hatte. Bei Jim Mac’s Band handelte sich um eine lockere Gruppe von Musikern, nicht besonders geschliffen, aber durchaus in der Lage, einen Tanzsaal oder einen Arbeiterverein aus der Nachbarschaft schwungvoll mit den gerade aktuellen Schlagern und Ragtime-Nummern zu unterhalten.

Jim McCartney war dabei alles andere als ein Waisenknabe. Er trank gern mal etwas, vor allem, wenn er zum Pferdewetten ging („ein paar Münzen auf die Gäule setzen“, wie er das nannte). Aber er wusste auch, wann es an der Zeit war, sich zusammenzureißen. Als Jim in die Büroetage bei Hannay’s aufstieg, hatten Jim Mac’s Band und auch sein gelegentliches Spaßprojekt der Masked Melody Makers, der maskierten Musikmacher, bald das letzte Mal zum Tanz aufgespielt.

Aber wollte der charmante Mr. McCartney sich denn gar keine Frau suchen und eine Familie gründen? Jim war lange Zeit damit zufrieden, um die Häuser zu ziehen und Fünfe gerade sein zu lassen. Aber Ende der Dreißigerjahre schlug die Stimmung in Liverpool um. Der düstere Schatten des Zweiten Weltkriegs fiel auf die Stadt, und die Angst vor einer bevorstehenden Katastrophe war allgegenwärtig. Jim ging bereits auf die vierzig zu. Er hatte sich bei einem Unfall als Kind das Trommelfell verletzt; daher wurde er nicht eingezogen. Aber die Baumwollindustrie wurde während des Krieges unter staatliche Kontrolle gestellt, woraufhin Hannay’s seine Pforten schloss und Jim arbeitslos wurde. Er ergatterte schließlich eine schlecht bezahlte Stelle in der Rüstungsindustrie und arbeitete als Dreher in der Maschinenfabrik Napiers. Dann fielen die Bomben auf Liverpool.

Vom August 1940 bis Anfang 1942 war die Stadt das Ziel deutscher Luftangriffe, bei denen mehr als zweitausendsechshundert Einwohner ums Leben kamen und beinahe ebenso viele mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Mehr als zehntausend Wohnungen wurden zerstört, und zahllose weitere Häuser wurden schwer beschädigt. Jeder Tag brachte neue Prüfungen. Das Heraufziehen der Nacht, dann die Sirenen, die Flugzeuge und das ständige Wissen darum, dass zwischen Leben und plötzlichem Bombentod nur das Schicksal stand – und vielleicht ein bisschen Glück.

Jim verbrachte die Tage in der Napiers-Fabrik und arbeitete nachts freiwillig als Ausguck für die örtliche Feuerwehr. Eines Tages, das wusste er, würde Hannay’s wieder im Geschäft sein, und dann würde er die Karriere fortsetzen, die er vor dem Krieg begonnen hatte. Aber war das wirklich alles, was ihm das Leben bieten sollte? Jim war aufgefallen, dass bei den Familienfeiern seit einiger Zeit eine neue Generation rotwangiger McCartneys um ihn herumsprang. Er sah ihnen beim Spiel zu und hörte, wie sie mit hellen Stimmen nach ihren Eltern riefen. Irgendwo in seinem Hinterkopf bewegte Jim die Frage, was er bisher aus seinem Leben gemacht hatte. Würde er je einen eigenen Sohn haben, den er auf seinen Schoß heben konnte, wenn es spät wurde und man langsame, romantische Lieder sang?

Vielleicht waren es solche Gedanken, die Jim durch den Kopf gingen, als er im Juni 1940 pfeifend die Straße entlangging und an die Tür des Hauses klopfte, das seine Schwester Jin kurz zuvor mit ihrem frischgebackenen Ehemann Harry bezogen hatte. Die beiden wohnten an einer von Bäumen gesäumten Straße im Vorort West Derby, und nun waren sie es, die die Tradition des offenen Hauses weiterführten, Freunde und Verwandte einluden, um die neue Wohnung zu begutachten, etwas zu trinken und die Sorgen kurz zu vergessen, wenn auch nur für ein paar Stunden. An diesem schönen Abend duftete die Luft nach Blumen und frischgemähtem Gras, und Jim traf in Jins Wohnzimmer eine dunkeläugige, ruhige Frau – Mary Mohin.

Vielleicht wäre gar nichts weiter geschehen. Die kleine Feier sollte sich auf die späten Nachmittagsstunden beschränken, und es war nicht vorgesehen, dass das übliche Abendessen bis nach Einbruch der Dunkelheit dauern sollte. Doch dann heulten die Sirenen auf den Dächern. Die ganze Gesellschaft flüchtete in den Keller bei Jin und Harry – Licht aus, aber den Sekt nicht vergessen! – und rückte in der Dunkelheit zusammen. Meist gab es nur wenige Minuten später wieder Entwarnung, und der Alarm dauerte nie länger als ein oder zwei Stunden. Also warteten die McCartneys und ihre Freunde ab. Jim saß die ganze Zeit neben Mary, redete mit ihr, machte Witze, zündete ihr die Zigaretten an und gab sich alle Mühe, für eine einigermaßen lockere Stimmung zu sorgen. Er brachte sie zum Lachen, und er wirkte sehr charmant – vor allem aber, wie sie später sagte, angenehm „unkompliziert“2. Sie heirateten am 15. April 1941 in der katholischen Kapelle St. Swithin’s in West Derby und bezogen eine möblierte Wohnung in der Sunbury Road im Liverpooler Stadtteil Anfield.

Der erste Sohn wurde am Abend des 18. Juni 1942 geboren – dank Marys Beziehungen in relativ luxuriöser Umgebung auf der privaten Wöchnerinnenstation des Walton-Hospitals, in dem sie früher gearbeitet hatte. Ihre ehemaligen Arbeitskolleginnen ermöglichten es außerdem, dass Jim auch außerhalb der Besuchszeiten schon kurz nach der Geburt einen ersten Blick auf seinen Sohn werfen konnte. Leider hatte niemand daran gedacht, Jim darauf vorzubereiten, dass ein Neugeborenes durch die Überreste der Plazenta und die Anstrengung des Geburtsvorgangs nicht unbedingt ein hübscher Anblick sein muss. Der frischgebackene Vater war schockiert und entsetzt. „Er sah aus wie ein Stück rohes Fleisch“, erinnerte sich Jim. „Er hatte nur ein Auge offen, und er quäkte die ganze Zeit.“3 Ein Bad (für den Kleinen) und eine Runde Schlaf (für den Vater) verbesserten die Lage merklich, und als James Paul McCartney nach Hause in die möblierte Wohnung seiner Eltern in Anfield gebracht wurde, sah Jim schon nicht mehr so schwarz. „Am Ende war er doch ein recht hübsches Baby.“4

Da sie nun zu dritt waren, zog die Familie zunächst nach Wallasey, einem Stadtteil, der am anderen Merseyufer auf der Halbinsel Wirral lag; das Haus wurde von der Liverpooler Stadtverwaltung günstig vermietet. Die McCartneys wohnten dort nur wenig länger als ein Jahr, denn im Januar 1944 bekamen sie mit Peter Michael (der ebenfalls bei seinem zweiten Vornamen gerufen wurde) einen weiteren Sohn, und nun stand ihnen eine größere Wohnung zu, diesmal in einem modernen Häuserkomplex in Knowsley. Noch einmal zwei Jahre später zogen sie in eine von der Stadt errichtete, neue Siedlung in Speke im Süden der Stadt um. In der Nachbarschaft wurde noch gebaut, und so fuhren die beiden McCartney-Jungs auf ihren Fahrrädern über schlammige, ungeteerte Straßen, jagten ihre Freunde über freie Bauplätze und durch halbfertige Häuser bis in die Felder und die kleinen Wäldchen.

Nach Kriegsende kam wieder Leben in die Stadt, und mit der Reprivatisierung der Baumwollbranche und der Wiedereröffnung der Firma Hannay’s erhielt Jim seinen früheren Job zurück. Aber Liverpool war immer noch von den Narben des Kriegens gezeichnet, und die Wirtschaft lag am Boden. Der einst so blühende Baumwollhandel war auf die Hälfte seines früheren Umfangs geschrumpft, und entsprechend geringer fiel nun auch Jims Einkommen aus. Mary hatte ihre Stelle im Krankenhaus gegen die flexiblere, wenn auch unregelmäßigere Arbeit einer Familienhebamme eingetauscht, aber ihr Job garantierte ein festes Einkommen, das Jims Lohn bei weitem überstieg, und ermöglichte ihnen so weitere Vergünstigungen wie etwa den Zugang zu den besseren Wohnungsbauprojekten der Stadt. Zusammen verdienten Mary und Jim genug, um Nahrung und Kleidung für die Familie zu kaufen; gelegentlich blieb sogar noch etwas übrig für den einen oder anderen kleinen Luxus.

Jim und Mary, die beide aus der untersten Arbeiterschicht stammten, erschien das Leben, das sie führten, wenn schon nicht wie ein Traum, so doch zumindest wie der Schritt in die richtige Richtung. Manchmal, wenn sie mit den Jungs für einen Tag an den Strand von New Brighton fahren konnten, einmal im Jahr eine Woche Urlaub in einem Ferienlager in Wales machten oder bei einer musikbeseelten Familienzusammenkunft der McCartneys saßen, konnte das Leben wie das Paradies erscheinen. Und so wäre es auch gewesen, hätten sie nicht gewusst, welcher Schatten den Himmel bereits verdunkelte.

Kurz nach Mikes Geburt im Jahr 1944 war Mary wegen schmerzhafter Schwellungen in der Brust wieder ins Krankenhaus gekommen. Man behandelte sie wegen einer Entzündung der Brustdrüsen, wie sie bei jungen Müttern häufig vorkam. Heute wissen die Mediziner jedoch, dass dieselben Symptome auch auf Brustkrebs hindeuten können. Die Schwellungen gingen zwar wieder zurück, aber Mary war nie wieder dieselbe. Ein Arztbesuch 1948 brachte eine wesentlich ernstere Dia­gnose – Brustkrebs. Zwar war die Krankheit noch im Frühstadium, aber Mary verfügte über genügend medizinische Kenntnisse, um sich darüber klar zu sein, dass die Zeit, die ihr noch blieb und die sie noch mit ihrer Familie verbringen konnte, begrenzt sein würde. Sie und Jim hielten sich an die alte McCartney-Maxime und blickten nach vorn. Wenn die Dinge besonders finster aussahen, streckte Jim eine Hand aus und flüsterte einen alten Familienspruch: Put it there, if it weighs a ton – leg alles dort ab, was dich tonnenschwer bedrückt.

Die Zeit verging. Die kleinen McCartney-Brüder wuchsen heran und entwickelten sich zu lebhaften Jungen, deren Streiche bald Erzählstoff für neue Familienanekdoten bildeten. In ihrer Grundschulzeit erwischte ein Bauer die beiden einmal beim Äpfelklauen und sperrte sie so lange in einem Schuppen ein, bis Jim, dem ein paar Freunde der Jungs, die entwischt waren, Bescheid gesagt hatten, dort erschien und sich entschuldigte. Dramatischer war jedoch eine andere Geschichte, als Paul und Mike das väterliche Verbot ignorierten, sich von einer alten, gefluteten Kalkgrube fernzuhalten, und prompt beide hineinfielen. Aus eigener Kraft konnten sie nicht wieder herausklettern, dazu waren die Wände zu steil und glatt. Hilflos traten sie so lange Wasser, bis zufällig ein Bauarbeiter an der Unglücksstelle vorbeikam und sie herauszog.

„Die McCartney-Brüder waren ziemliche Rabauken“, berichtete ihr Cousin John Monin5. Aber davon abgesehen waren sie liebe Jungs und recht gewitzt, und sie hatten beide die funkelnden Augen ihres Vaters geerbt. Vor allem Paul war das Ebenbild Jims in jungen Jahren, von den elegant geschwungenen Augenbrauen bis zur schmalen Nase und den weichen, beinahe weiblichen Lippen. Ihm waren auch das gewinnende Lächeln und das einschmeichelnde Wesen seines Vaters eigen, und er nutzte beides gern, um sich in Schwierigkeiten hinein- oder auch wieder herauszureden. „Er war schon damals ein Charmeur“6, erinnerte sich Tony Bramwell, der in Speke in der Nähe aufwuchs und zu den Kindern gehörte, die damals mit Paul herumtollten. „Er war immer diplomatisch und sehr freundlich.“ Auch war er sich seiner Wirkung auf andere sicherlich schon bewusst, wenn er seinen Charme einsetzte, um andere zu beschwichtigen, vor allem, wenn er bei seinen Streichen wirklich etwas angestellt hatte. „Er konnte die Leute richtig um den Finger wickeln“7, erinnerte sich ein Verwandter.

Paul hatte jedoch auch eine in sich gekehrte Seite und ein starkes Verlangen nach Einsamkeit. Wenn ihm das Geschrei seiner Freunde auf die Nerven ging, sprang er auf sein Fahrrad und fuhr in den nahe gelegenen Wald, in dessen Schatten er eintauchte, wo er die Tiere beobachtete und in seinem abgewetzten Vogelkundebuch „Observer Book of Birds“ blätterte, wenn ein interessantes Exemplar durch das dichte grüne Blätterdach flatterte. Wenn er hörte, dass andere Leute kamen, suchte er sich einen kräftigen Baum und schwang sich hinauf, bis er einen Ast fand, auf dem er ruhig sitzen bleiben und die Welt unter sich vorbeiziehen sehen konnte. „Ich war sowas wie der Superspion, der stille Beobachter, der Scharfschütze“8, erinnerte er sich.

In den Straßen von Speke hielt Paul außerdem vorsichtig Ausschau nach den Jugendbanden, die durch die Wohnquartiere der Arbeiterklasse streiften. Wenn diese harten Jungs auftauchten, war es besser, auf die andere Straßenseite zu wechseln oder sogar einen Umweg um den Block zu machen, bevor man an der nächsten Ecke Prügel bezog. Dennoch erwischten die Schläger die McCartney-Brüder eines Tages am Merseyufer, und es kam schnell zum unausweichlichen Schlagabtausch. Was haste dabei? ’Ne Uhr? Her damit, Kleiner, die nehm’ ich. Paul und sein Bruder rannten tränenüberströmt nach Hause, aber damit war die Angelegenheit nicht erledigt. Paul wusste, wer die Jungs gewesen waren – wenn auch nur zufällig, weil sie in der Nähe wohnten und ihr Grundstück rückwärtig an das seiner Eltern grenzte. Als Jim nach Hause kam, erzählte ihm Paul sofort, was passiert war. Jim wandte sich an den örtlichen Schutzpolizisten, und daraufhin wurden die Missetäter gefasst. Als sie ein paar Wochen später vor Gericht standen, trug Pauls Zeugenaussage entscheidend dazu bei, dass seine Widersacher verurteilt wurden. „Oje, mein erstes Mal vor Gericht“9, erinnerte sich Paul.

Paul war diese Sache ebenso eine Lehre wie den Schlägern von nebenan: Arbeite hart und stehe zu deinem Wort, und wenn dir jemand etwas wegnehmen will, das dir gehört, dann wehre dich. Jim ging nicht leichtfertig mit materiellen Gütern um. Er hatte hart gearbeitet und sich bemüht, stets zu seinem Wort zu stehen. Für Jim war das der Grundstein des Lebens, und er sorgte dafür, dass Paul und Mike begriffen, was das hieß: Wichtig war, dass man eine Ausbildung erhielt, auf das hörte, was andere sagten, hart arbeitete und die Dinge zu schätzen wusste, die man sich dadurch leisten konnte.

Vom seinem ersten Tag in der Grundschule an zeigte sich Paul als aufmerksamer Schüler mit gutem Betragen. 1949 wechselte er von der Stockton Wood Road Primary School zur Joseph Williams Primary. Die dortige Direktorin Muriel Ward sah in ihm einen ungewöhnlich ordentlich gekleideten Jungen, dessen gebügelte Hosen und Strickschlipse ebenso in Erinnerung blieben wie seine fröhlichen kleinen Streiche. Im Unterricht lernte er konzentriert, hörte allen Anweisungen aufmerksam zu und erledigte seine Aufgaben prompt. Die größte Auszeichnung seiner Grundschulzeit erhielt er im Juni 1953, kurz vor dem Wechsel an die weiterführende Schule, als er den für seine Altersstufe von der Stadt ausgeschriebenen Preis für einen Aufsatz über die Krönung von Elisabeth II. erhielt. Paul erhielt unter anderem einen Büchergutschein. Er traf eine für seine Herkunft und sein Alter überraschende Wahl, als er sich dafür ein Buch über moderne Kunst zulegte. „Unheimlich viele Bilder, Leute wie Victor Pasmore, Salvador Dalí, Picasso und viele andere Künstler, von denen ich noch nie gehört hatte.“10

Pauls Noten in den 11-Plus-Prüfungen, die nach Abschluss der Grundschule über die weitere Schullaufbahn bestimmten, stellten entscheidende Weichen. Schüler, die gute Leistungen zeigten, konnten sich für die besten Schulen der Stadt empfehlen, und Paul zählte unter den neunzig Prüflingen der Joseph Williams Primary zu den vieren, denen einen Platz am Liverpool Institute angeboten wurde, das allgemein als beste Oberschule der ganzen Stadt galt. Jim und Mary waren glücklich über die Leistungen ihres ältesten Sohnes und wussten diese Entwicklung sehr zu schätzen. Das Liverpool Institute war noch vor kurzem eine privat finanzierte Schule mit strengem Lehrplan gewesen, an dem die ehrgeizigsten und talentiertesten Schüler der Stadt unterrichtet wurden. Dieser Schritt eröffnete dem Jungen gesellschaftliche und berufliche Möglichkeiten, die sich vor ihm kein McCartney je hätte träumen lassen.

Paul McCartney - Die Biografie

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