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Zürich, am Dienstag, den 4. November 2008

„Dieses vermaledeite kuhschweizer Spießerpack!“ Übellaunig schloß Michael Fischer sein geparktes Fahrrad auf, seine verschwitzten Sportsachen im Rucksack. Das war jetzt das dritte Zürcher Fitneßstudio innerhalb weniger Wochen, aus dem man ihn höflich aber bestimmt hinauskomplimentiert hatte.

Auch in Deutschland war das schon vorgekommen. Ursache war stets der klassische Konflikt zwischen Breitensportlern und breiten Sportlern: Die Einen, mollige Hausfrauen und schmalbrüstige Sachbearbeiter, wollten auf dem StairMaster ihre Hintern tonen und dabei in Ruhe fernsehen oder plauschen; die Anderen, Männer wie Fischer, wollten knallhart Eisen lecken, dabei an ihre körperlichen Grenzen gehen – und dabei wurde es nun einmal gelegentlich laut.

Fischer selbst bekam kaum mit, wenn er bei bestimmten Übungen das ganze Studio zusammenbrüllte. Training mit schweren Gewichten war zu neunundneunzig Prozent eine Kopfsache, erforderte äußerste Konzentration auf korrekte Form und Körpergefühl sowie eine geradezu meditative Versenkung. Wenn überhaupt, bemerkte Fischer darum immer nur nach dem Ablegen des Gewichts, wenn er aus der Trance auftauchte, daß es um ihn herum totenstill geworden war und alle Augen vorwurfsvoll auf ihm ruhten.

Daheim in Köln war das seit geraumer Zeit kein Problem mehr. Die „Power Station“ war das Studio der Wahl der Kölner Luden-, Rocker- und Türsteherszene. Diese Leute trainierten mit der gleichen Hingabe wie Fischer. Etwaige Beschwerden bezüglich der Geräuschentwicklung dabei hätte der Besitzer, Anton „Tonne“ Frantzen, ein Ex-Lude und Boxpromoter, der mit seinen 65 Jahren immer noch jeden Tag trainierte und seinen Spitznamen darum immer noch redlich verdiente, mit eiserner Faust niedergeschlagen. Die Stammgäste der „Power Station“, und dort gab es nur Stammgäste, wußten natürlich, daß Fischer früher bei der GSG 9 gedient hatte, aber auch das war kein Problem. Reguläre Polizisten haßten sie abgrundtief, auch mit SEK-Beamten hatten viele von ihnen schlechte Erfahrungen machen müssen, doch die Eliteeinheit GSG 9 galt als cool, und Fischer sowieso. Im Gegenzug sah Fischer darüber hinweg, daß in der „Power Station“ Anabolika und andere Starkmacher gedealt und konsumiert wurden, als gäbe es kein Morgen mehr.

Aber in Zürich gab es anscheinend kein vergleichbares Studio, und so schön es auch war, mit einer Klassefrau aus Zürich liiert zu sein und seine Zeit frei zwischen Köln und Zürich aufteilen zu können, wurden diese Rausschmisse doch allmählich lästig.

Als er gerade in den Sattel stieg, klingelte sein Firmenhandy. Wieder einmal sein alter Freund, der Anrufer mit unterdrückter Rufnummer. Resigniert nahm er ab: „Fischer Security Solutions, Fischer am Apparat, guten Tag.“

„Eberle hier. Grüß Sie Gott, mein lieber Fischer. Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesprochen. Wie geht es Ihnen?“

„Guten Tag, Herr Doktor Eberle. Mir geht es ausgezeichnet, danke. Und Ihnen selbst?“

„Ach, ich kann mich nicht beklagen, kann überhaupt nicht klagen. Aber, hören Sie, ein kleines Vögelchen hat mir ins Ohr gezwitschert, daß Sie derzeit in Zürich weilen?“

„Stimmt“, antwortete Fischer. „Noch bis Freitag“. Dabei rätselte er, wer das dem alten Fuchs wohl zugetragen haben könnte. Sein neuer Lieblingskunde, der Privatbanquier Doktor Konrad Eberle, war zwar in Zürich unglaublich gut vernetzt, aber soweit Fischer wußte, gab es keinerlei Überlappungen zwischen ihren jeweiligen Bekanntenkreisen. Irgendein Leck, eine undichte Stelle, mußte es indes geben.

„Oh, das trifft sich ja ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Wir haben hier nämlich gerade ein kleines Problemchen. Es wäre schön, wenn Sie sich das einmal anlugen könnten.“

„Sehr gerne, Herr Doktor Eberle. Wann würde es Ihnen passen?“

„Ginge es eventuell jetzt gleich?“

„Was, jetzt sofort? Aber, Herr Doktor Eberle, ich komme gerade vom Sport und stehe hier in Radlerhosen. Wenn Sie mir nur eine Dreiviertelstunde Zeit geben, könnte ich …“

„Aber das macht doch gar nichts, mein lieber Fischer. Das ist überhaupt kein Problem. Wir sind dort unter uns, da können Sie so leger und sportiv erscheinen wie Sie möchten. Talstraße 44, zehnter Stock, UCS Travel Security Advisory, Zimmer 101. Ich erwarte Sie dort.“

„Na gut, dann also bis gleich, Herr Doktor Eberle.“

„Auf gleich, Herr Fischer. Ich freue mich auf unser Wiedersehen.“

Auf der Fahrt zur Talstraße beschleunigte Fischer unwillkürlich von Minute zu Minute seine Trittfrequenz, wie ein Jagdhund, der Schweiß gewittert hatte. Eberle hatte grundsätzlich ziemlich interessante Aufträge zu vergeben, und wenn er Fischer nun sogar in Sportbekleidung antanzen ließ, von jetzt auf gleich, mußte das erwähnte „kleine Problemchen“ richtig spannend sein. Spannend und lukrativ – genau die Sorte Auftrag, die Fischer mochte.

Der Service, den das Bankhaus Eberle & Cie., ehemals eine Privatbank und heuer eine exklusive Untermarke der Großbank UCS, seiner betuchten internationalen Klientel bot, ging weit über die bloße Vermögensverwaltung hinaus. Selbstgestellter Anspruch der Bank war vielmehr, ebenso diskret wie effektiv alle Probleme ihrer Kunden zu lösen, die sich mit Geld, viel Geld, lösen ließen.

Mancher besonders unschönen Probleme von Eberles Kundschaft durfte sich schließlich die Fischer Security Solutions Ltd. annehmen, Fischers eigenes kleines Sicherheitsunternehmen. Bevor er Eberle kennenlernte, hätte Fischer sich das nicht vorzustellen vermocht, aber einige Multimillionäre und Milliardäre riefen tatsächlich lieber ihren Banker an als die Polizei oder ihre Anwälte, wenn sie erpreßt wurden, oder wenn ihnen etwas ganz furchtbar Dummes passiert war und das Mädchen plötzlich zu atmen aufgehört hatte.

Das Haus Talstraße 44 entpuppte sich als ein schmuckloses weißes UCS-Bürohochhaus aus den Siebzigern. Da dort kein Kundenverkehr herrschte, konnte Fischer ungehindert in die Lobby hinein marschieren und den Lift nehmen. Im zehnten Stock erwartete ihn jedoch eine doppelte Sicherheitsschleuse aus Stahl und Panzerglas. Fischer klingelte und blickte auf, um für die Überwachungskamera besser sichtbar zu sein. Nach einer knappen Minute öffnete ihm Eberle höchstselbst die Tür und schüttelte ihm herzlich die Hand: „Mein lieber Fischer, schön, Sie zu sehen und danke, daß Sie es so speditiv möglich machen konnten.“

Eberle war bekleidet mit seiner üblichen Privatbankier-Uniform, bestehend aus einem dunkelblauen Dreiteiler mit Kreidestreifen, schwarzen Maßschuhen, weißem Hemd mit Umschlagmanschetten sowie einer Marinella-Krawatte. Als sie die Sicherheitsschleuse passiert hatten, sah Fischer, daß Eberle damit genauso unpassend angezogen war wie er selbst, denn die Abteilung für Reisesicherheitsberatung der UCS war nicht gerade ein Hort des Luxus: funktionale aber sichtbar betagte weiße System-Büromöbel mit gut und gerne zwanzig Jahren auf dem Buckel, grauer Teppichboden mit deutlichen Abnutzungsspuren und etlichen Kaffeeflecken, im Flur unordentlich gestapelte Großpackungen Kopierpapier und ein leerer Wasserspender, an den Wänden einige mit Stecknadeln gespickte Weltkarten, Reisebüro-Wandkalender und, ja tatsächlich, ein paar Pin-ups.

Das Ambiente im Büro 101 war noch ein weiterer Schritt hinab auf der Skala. Dazu trug hauptsächlich dessen Inhaber bei. Dieser Mann, Mitte Vierzig und früher bestimmt nicht einmal unattraktiv, mit dunklen Locken und auffallend leuchtend grünen Augen, schien eine private Wette mit sich abgeschlossen zu haben, welche Krebsart ihn zuerst ereilen würde, Haut- oder Lungenkrebs. Seine Haut, ledrig und runzlig wie die einer Schildkröte, war derart extrem sonnenbankgebräunt und seine darin mal hier, mal dort hervorschimmernden tiefen Mimikfalten im Kontrast dazu derart weiß, daß er fast wie ein photographisches Negativ wirkte. An den Wänden seines Büros hingen mehrere große Poster mit sich sonnenden Bikinischönheiten vor Strandkulissen, offenbar sein persönlicher Fetisch, doch gegen ihn wirkten selbst die brasilianischen Mulatas blaß. Bekleidet war er mit einem Lacoste-Polohemd in Lachsrosa, den Kragen hochgeschlagen und beide Knöpfe geöffnet, damit man sein Goldkettchen besser sah, verwaschenen Designer-Jeans und Cowboystiefeln aus Schlangenleder. Er hatte die Füße auf seinen Schreibtisch gelegt, trug ein altmodisches drahtgebundenes Telefon-Headset auf dem Kopf und rauchte Kette, irgendwelche besonders übelriechenden, ovalen, filterlosen Zigaretten. Auf seinem Schreibtisch und auf dem kleinen Vierer-Besprechungstisch in der Ecke standen gleich mehrere überquellende Aschenbecher, die Luft in dem Büro war zum Schneiden. Fischer hätte sich am liebsten auf dem Absatz umgedreht.

„Das ist unser Herr Raoul“, sagte Eberle leise. „Er koordiniert die Kuriere für Europa.“ Raoul begrüßte Fischer mit einem kurzen, ruckartigen Heben seines Kinns. Während Eberle und Fischer am Besprechungstisch Platz nahmen und Eberle, ganz perfekter Gastgeber, Fischer im Flüsterton ein Fläschchen Mineralwasser aufdrängte, sah sich Fischer indes allmählich gezwungen, seine erste Einschätzung von Raoul zu revidieren: Der Mann konnte was. Am Telefon betete Raoul gelangweilt auf Portugiesisch einen Flugplan herunter, wechselte die Leitung, beschwichtigte irgendeine aufgebrachte Person mit einem Schwall Schnellfeuer-Griechisch, wechselte wieder die Leitung, riß einen gelungenen, irgendwie zotig klingenden, Scherz auf Russisch, über den er selbst heiser lachte, wechselte abermals die Leitung, stellte ein paar komplizierte Fragen in irgendeiner Sprache, die Fischer partout nicht einordnen konnte – Lettisch? Litauisch? –, und notierte sich die Antworten. Schließlich wechselte er nochmals die Leitung und bestellte sich in perfektem Italienisch eine Pizza quattro stagioni in sein Büro. Dann schaltete Raoul die Telefonanlage auf „Weiterleiten“, nahm das Headset ab und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Die Telefonanlage begann sofort, hektisch zu blinken. Sie würde während der gesamten Unterredung nicht mehr zu blinken aufhören.

„Sie sind also der Spezialist, von dem Herr Direktor Eberle uns erzählt hat!“, sagte er lächelnd zu Fischer, „Freut mich. Raoul.“ Der Anblick seiner tiefgelben Zähne in dem pathologisch gebräunten Gesicht würde Fischer bis in seine Träume verfolgen. Raouls Deutsch war klar genug, aber sein merkwürdig singender Akzent mit scheinbar wahllos auf beliebige Silben verstreuten Emphasen derart unbestimmbar, daß Fischer noch nicht einmal zu raten gewagt hätte, woher Raoul ursprünglich stammte. Als Schweizer war er jedenfalls mit Sicherheit nicht geboren worden.

„Fischer, ebenfalls sehr erfreut, Herr Raoul. Nun, was verschafft mir die Ehre?“

Raoul blickte Eberle an, wartete auf dessen ausdrückliches Einverständnis, seine Geschichte erzählen zu dürfen. Erst als Eberle stumm nickte, fuhr er fort: „Mir ist seit gestern nachmittag mein bester Kurier abhanden gekommen, Urs Wyss. Er geht nicht ans Natel, er hat jetzt bereits mehrere Kundentermine in Deutschland verpaßt, und die letzte Meldung seines GPS-Ortungssystems kam aus dem Taunus, weitab von seiner Route. Irgend öppis ist da faul.“

Fischer blickte die beiden fragend an. Ein Kurier? Man hatte ihn wegen eines vermißten Postboten herbeizitiert? Sollte das ein Scherz sein?

Eberle rettete die Situation: „Herr Fischer, vielleicht sollte ich kurz erklären, wovon hier die Rede ist. Unsere Muttergesellschaft UCS und wir haben viele Offshore-Kunden, also im Ausland domizilierte Kunden mit Konti und/oder Depots in der Schweiz. Rund neunzig Prozent der verwalteten Vermögenswerte dieser Offshore-Kunden sind nicht in ihren jeweiligen Domizilländern deklariert, also Schwarzgeld oder Simple Money, wie wir Banker sagen.“

Eberle lächelte anzüglich, denn auch Fischer selbst unterhielt solch ein diskretes Schwarzgeldkonto bei Eberle & Cie., und fuhr fort: „Im Durchschnitt haben HNWIs und UHNWIs, High- und Ultra-High Net Worth Individuals, fünf Bankbeziehungen, davon drei mit Vermögensverwaltern. Unser Ziel als Vermögensverwalter muß natürlich sein, einen möglichst hohen Share of Wallet zu ergattern, das heißt, den von uns betreuten Anteil am gesamten liquiden Anlagevermögen des Kunden zu maximieren.“

„Das leuchtet ein.“

„Nun, dabei sind wir als Schweizer Offshore-Bank aber gegenüber den jeweiligen Onshore-Banken im Hintertreffen, denn für den im Ausland ansässigen Kunden ist es natürlich einfacher, sein Geld als steuerbares Complex Money zur Volksbank Kleinkleckersdorf zu schaffen als zu uns. So hat sich eine gute Schweizer Tradition entwickelt: Wir holen das Geld einfach beim Kunden ab! Anstatt daß der Kunde mühsam selber sein Geld in die Schweiz schaffen muß und dabei Scherereien riskiert, kann er jederzeit einen Kurier bestellen, der überschüssige liquide Mittel abholt, der im Bedarfsfall aber auch Auszahlungen vornimmt. Für den Kunden hat das nur Vorteile, denn die Bank trägt das Transportrisiko und alle anfallenden Kosten.“

„Das rechnet sich für die Bank?“, fragte Fischer erstaunt.

„Und wie sich das rentiert! In den letzten Jahren sogar zunehmend, denn seit dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center sind die Grenzkontrollen immer schärfer geworden. Unsere kleineren Konkurrenten können oder wollen diesen Service darum nicht mehr anbieten. Kleinere Offshore-Banken haben keine eigene Kurierabteilung, bei denen haben früher die Kundenberater die Transporte selbst organisieren müssen. Das ist ihnen heuer zu riskant geworden. Wer als Kunde auf solch einen Service Wert legt, kommt seitdem lieber gleich zu UCS. Natürlich bieten wir diesen Service nicht Krethi und Plethi an, nur besonders vermögenden Kunden. Bei derartigen Summen fällt der Aufwand gegenüber dem zusätzlichen Ertrag kaum ins Gewicht.“

„Aha, im Endeffekt ist dieser Wyss also ein Geldbote. Wieviel hatte er denn dabei?“

„Rund drei Millionen Euro“, sagte Eberle trocken.

Fischer pfiff leise durch die Zähne: „Drei Millionen Euro, nicht übel! Und Sie können ja schlecht die Polizei einschalten, falls der Kurier mit dem Geld stiften geht. Tja, das sind dann wohl die wahrscheinlichsten Möglichkeiten: Entweder er hatte einen Unfall, oder er ist einfach mit dem Geld abgehauen.“

Weiße Zornesfalten erschien auf Raouls nougatfarbener Stirn: „Meine – Leute – hauen – aber – nicht – einfach – ab!“, protestierte er erregt, unterstrich dabei jedes Wort mit einem Fausthieb auf die Tischplatte. „Das sind allesamt ehemalige Berufssoldaten mit hervorragenden Führungszeugnissen, und die sind natürlich sicherheitsüberprüft bis in die Haarspitzen. Für Wyss würde ich meine Hand ins Feuer legen, der ist nicht abgehauen! Außerdem, falls er das wirklich tun wollte, hätte er morgen mit fast der dreifachen Summe abhauen können.“

„Wie das?“, fragte Fischer irritiert.

„Nun ja“, antwortete Eberle, „im wesentlichen sind diese drei Millionen die Differenz zwischen den Einlagen, die er einsammeln sollte, und dem Guthaben eines Dortmunder Kunden, der sich leider entschlossen hat, sein Depot bei UCS zu saldieren. Wyss sollte zunächst weitere Kundengelder einsammeln, dann mit diesen Kundengeldern plus den drei Millionen dem Dortmunder seinen Abschlußsaldo auszahlen. So war die Route angelegt. Normalerweise läuft es umgekehrt, normalerweise fahren die Kuriere mit leeren Koffern los und kommen mit vollen zurück, denn schließlich wollen wir mit dem Kuriersystem Net New Money ins Haus holen. Jedenfalls hätte Wyss mit einem wesentlich höheren Betrag untertauchen können, wenn er zuvor noch ein paar Kundentermine mehr gemacht hätte. Ich selbst glaube ohnehin nicht, daß er sich einfach aus dem Staub gemacht hat, aber dieses Argument sollte doch selbst einen Zyniker wie Sie überzeugen, nicht wahr?“

„Möglich. Möglicherweise hat er aber auch auf dieses Überraschungsmoment gesetzt und ist genau in dem Moment abgehauen, als es keiner erwartet hätte. Apropos, wer bewacht denn eigentlich diese Transporte? Dieser Wyss war doch wohl nicht alleine unterwegs, oder?“

„Doch“, sagte Raoul trotzig, „natürlich war Wyss alleine unterwegs. Innerhalb der Schweiz gibt das Grenzwachtkorps Geleitschutz und sichert den Grenzübertritt ab, aber jenseits der Grenzen sind die Kuriere auf sich allein gestellt.“

Fischers Augenbrauen schossen in die Höhe. Soso, der Schweizer Zoll mischte hier also auch mit. „Wie habe ich mir das konkret vorzustellen, mit dem Geleitschutz?“

Raoul erklärte geduldig: „Also, das übliche Procedere für Touren ins benachbarte Ausland ist, daß der Kurier mit dem Zug ins Zielland reist und sich dort einen Mietwagen leiht. So hat es Wyss auch dieses Mal gemacht. Auf den Rückreisen, wenn die Kuriere Geld im Koffer haben, identifizieren sie sich im Zug gegenüber den Grenzwächtern als Wertkuriere einer Schweizer Bank und setzen sich zur Sicherheit in deren Abteil. In internationalen Zügen hat die Grenzwache ja immer ein eigenes Abteil. Diesmal hatte Wyss aber schon bei der Hinreise Geld dabei. Deswegen gehe ich davon aus, daß er sich auch bei der Hinreise zu den Grenzwächtern gesetzt hat. Die werden ihm dann vor der Grenze ein paar Tips gegeben haben, wo die deutschen Kollegen postiert waren und wie er diese umgehen könne. Und das alles hat ja auch dieses Mal tadellos geklappt, wie immer, denn seinen ersten Termin hat Wyss pünktlich wahrgenommen.“

„Wann und wo war dieser Termin?“

„Gestern, Montag, 13:30 Uhr in Bad Homburg.“

„Wo genau in Bad Homburg?“

„Das müssen Sie nicht wissen.“

„Das werden wir noch sehen. Aber was ist danach passiert? Wo ist Wyss danach hin?“

„Das ist eben die Knacknuß. Wyss’ nächster Termin war gestern abend um 18:00 Uhr in der Frankfurter City. Diesen Termin hat er definitiv versäumt, denn der betreffende Kunde hat schon um kurz nach sieben seinen Kundenberater angerufen und dem die Hölle heiß gemacht, wo der Kurier bliebe. Der KuBe hat mich daraufhin auf dem Natel angerufen. Ich bin dann ins Büro zurück und habe versucht, Wyss auf seinem deutschen Natel zu erreichen, ohne Erfolg. Dann habe ich mir die bisher eingegangenen Meldungen vom Ortungssystem angeschaut. Die Geldkoffer haben ein GPS-Ortungssystem eingebaut, wissen Sie? Der GPS-Empfänger meldet alle halbe Stunde seine Position per SMS. So, ab Montagmorgen gab es keine Positionsdaten mehr, nur Fehlermeldungen. Das hat aber nichts weiter zu bedeuten, denn wenn der Koffer im Kofferraum eines Autos liegt, hat das Ding meistens keinen Empfang.“

„Klar.“

„Gestern gegen 15:45 Uhr gab es aber noch mal eine Positionsmeldung, die bislang letzte.“ Er stand auf, nahm sein Notebook vom Schreibtisch und stellte es auf den Besprechungstisch. „Schauen Sie, ich habe diese Koordinaten mal bei Google Maps eingegeben. Das ist irgendwo mitten im Wald, nordwestlich von Bad Homburg, das heißt, genau in der entgegengesetzten Richtung zu Frankfurt am Main, wo Wyss seinen nächsten Termin hatte. Hier, dasselbe Gebiet als Satellitenphoto: Da ist absolut nichts außer Bäumen. Es gibt keinen guten Grund, warum Wyss dorthin fahren sollte, erst recht keinen guten Grund, warum er ausgerechnet dort den Koffer aus dem Wagen holen sollte. Seitdem keine weiteren Positionsmeldungen mehr, und ich habe es ständig versucht.“

Raoul nahm ein Handy von seinem Schreibtisch, setzte sich wieder und erklärte: „Die Position des GPS-Empfängers kann man auch manuell abfragen, indem man eine SMS an den Empfänger schickt. Der Empfänger schickt dann eine SMS mit seiner aktuellen Position zurück.“ Er drückte ein paar Tasten, wartete einige Augenblicke ab, zeigte Fischer dann die Antwort-SMS: „KEIN SIGNAL“.

Fischer schaute sich die SMS aufmerksam an. „Null-null-vier-drei. Wieso hat der GPS-Empfänger denn eine österreichische Nummer?“

Raoul rollte entnervt die Augen: „Ja, sollen wir lieber eine Schweizer SIM-Karte nehmen?“, fragte er sarkastisch. „Wie auch immer, so geht das schon die ganze Zeit, immer nur ‚KEIN SIGNAL‘. Wahrscheinlich heißt das, daß der Koffer seit gestern circa 15:45 Uhr wieder im Wagen liegt.“

„Könnte es sein, daß einfach nur der Akku leer ist?“, fragte Fischer.

„Nein, wir verwenden extragroße Akkupacks, die Dinger haben eine Stand-by-Zeit von mehreren Wochen.“

„Okay, und was ist mit Wyss’ Handy?“

„So ziemlich das gleiche Spiel. Entweder das Natel ist ausgeschaltet, oder es hat kein Netz: ‚Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist derzeit nicht erreichbar. Bitte rufen Sie später wieder an.‘ Einfach das Natel ausschalten würde Wyss sicher nicht, aber ich weiß nicht, ob er in dieser Einöde Netzempfang hat. Falls er noch dort ist, heißt das.“

Fischer blickte Eberle an: „Alles klar, Herr Doktor Eberle, Herr Raoul. Ich fahre da sofort hin und schaue mir die Lage an.“

Raoul schob Fischer ein paar Blätter A4 über den Tisch: „Hier, ich habe Ihnen schon mal alle Informationen zusammengestellt, die Sie brauchen: Ein Photo von Wyss, die Koordinaten der letzten Positionsmeldung, ein Ausdruck der Google-Maps-Karte dazu, die Natelnummer und der Code des Senders, Wyss’ deutsche Natelnummer und meine eigene Natelnummer. Viel Erfolg, und bitte rufen Sie mich unbedingt an, sobald Sie etwas wissen, egal wie spät es ist.“

„Mache ich.“ Fischer gab Raoul eine seiner eigenen Visitenkarten.

Eberle erhob sich und die beiden folgten ihm. Während Raoul Fischers Hand schüttelte, sagte er: „Da ist noch etwas, das Sie vielleicht wissen sollten. Wyss ist nicht als Wyss unterwegs, sondern seine Papiere lauten auf den Namen Weber, Urs Weber.“

„Ach ja?“, fragte Fischer verblüfft.

Eberle legte Fischer betulich die Hand auf die Schulter: „In bestimmten Ländern Südamerikas, Osteuropas und Afrikas sind Kadermitarbeiter von Schweizer Banken einem hohen Entführungsrisiko ausgesetzt. Den Tätern geht es um Lösegeld, wobei wir Banker natürlich an der Quelle sitzen. Gefährdete Banker in beruflich exponierter Position können deshalb beim Justiz- und Polizeidepartement ausnahmsweise einen Zweitpaß in einem anderen Namen beantragen.“

„Was, das kann man einfach so beantragen? Und selbst ein kleiner Krauter wie Wyss bekommt so ein Ding?“

„Natürlich nur mit einer entsprechenden Bescheinigung von unserer Abteilung, daß ein berechtigtes Interesse vorliegt“, bemerkte Raoul mit einem süffisanten Lächeln.

Damit war die Unterredung beendet.

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