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Maurizio Pollini

NICHTS AUF DER WELT DARF
VOLLKOMMEN SEIN


Die Musik von Johann Sebastian Bach wird den Planeten Erde überdauern. Seit Generationen hegen ihre Anbeter daran keinen Zweifel. Konkreteres steuerten unlängst Wissenschaftler und Futurologen zu dieser Hypothese bei, als sie per NASA-Post neben anderen Botschaften auch Bachs C-Dur-Präludium aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers ins All schickten, um außerirdischen Zivilisationen möglicherweise Auskunft über die genialen Errungenschaften des menschlichen Geistes zu überbringen.

Ein knappes Jahrzehnt sind nun die Voyager-Raumsonden, die das exquisite Frachtgut auf Tonband an Bord haben, unterwegs. Mit tausend Kilometern Geschwindigkeit pro Minute hat es sich inzwischen, unfassbar für Laien, von der Erde entfernt. Ob wenigstens die amerikanische Weltraumbehörde weiß, wo sich ihr Flugobjekt in der mysteriösen Tiefe des Universums derzeit aufhält oder fortbewegt? Schon gar nicht möchte man unstatthaft bei ihr nachfragen, ob das Raumschiff ans erhoffte Ziel gelangt, ob Bachs Musik im ewigen Schweigen dieser Räume (endlich) zu Gehör gebracht worden ist. Die Bach-Gemeinde wäre außer sich vor Freude.

Zu Bach pilgern alle Musiker, meinte der vor wenigen Jahren verstorbene Avantgardekünstler Mauricio Kagel einmal beiläufig und dachte vorwiegend dabei an Komponisten und Interpreten, wohl auch an Amateure, die er nicht gering schätzte. Wissenschaftler und Forscher vertreten ohnehin längst die Ansicht, dass das Epizentrum der abendländischen Musik in Leipzig liegt.

Die mathematische Gesetzmäßigkeit des Kontrapunkts fand hier, in der Musik Johann Sebastian Bachs, ihre tiefste Verwurzelung und Anwendung, ohne die vieles bei Haydn und Mozart, erst recht im Spätwerk Beethovens nicht denkbar wäre. Von Schumann und Brahms ganz zu schweigen. Bach und kein Ende. Seine kontrapunktischen Strahlungen sind »radioaktiv«: Stärker denn je dringen sie über alle Epochen hinweg in die unmittelbare Gegenwart, selbst in die Untiefen moderner Unterhaltung hinein. Nicht zu ihrem Vorteil, sondern inhaltlich wahl- und bedenkenlos zu billiger Konsumware verfälscht.

Im Umfeld der Interpreten wird Bachs Musik häufig noch als Spezialität betrachtet, mit der sich die einen gleichsam puristisch hervortun und die anderen cool oder romantisierend befassen. Star-Virtuosen, die habituell gerne das Leichtgewichtige, die zirzensische Bravour bevorzugen, sehen häufig keine zwingende Notwendigkeit, sich im Konzert auch noch auf Bach zu kaprizieren. Nicht einmal das Publikum hätte im Traum daran gedacht, etwa zu Fritz Kreisler, Jascha Heifetz, Isaac Stern, David Oistrach, Artur Schnabel, Vladimir Horowitz, Arthur Rubinstein, Svjatoslav Richter oder Arturo Benedetti Michelangeli wegen ihres stringenten Bach-Spiels zu gehen. Was nicht unterstellt, dass sie auch privat dieser Materie ausgespart hätten. Deswegen schätzt man an Nathan Milstein, Yehudi Menuhin, Edwin Fischer, Wilhelm Kempff, Glenn Gould und anderen umso mehr, dass sie ungeachtet aller Virtuosität ihr Leben großenteils in den Dienst an Bachs universalem Vermächtnis gestellt und für die moderne Interpretation seiner Musik exorbitante Maßstäbe geschaffen haben.

Wenn freilich stilistisch auch unvergleichbar, gilt das insbesondere für die Spezialisten der auf Paradigmenwechsel bedachten authentischen Zunft: Nikolaus Harnoncourt, Gustav Leonhardt, John Eliot Gardiner, Christopher Hogwood, Trevor Pinnock, William Christie und zahllose Nachahmer.

András Schiff hingegen, der als Pianist über ein ungewöhnlich breitgefächertes Repertoire in Klassik und Moderne verfügt, hält an der romantischen Tradition der Bach-Interpretation fest und hat sich damit international größtmögliches Ansehen erworben. Allein die gewaltige Gedächtnisleistung, die er jeweils an zwei Abenden mit den beiden Bänden des Wohltemperierten Klaviers oder zyklisch mit den Suiten, Partiten und den Goldberg-Variationen auswendig vollbringt, ist konkurrenzlos und schlichtweg bravourös.

Bei Maurizio Pollini erweist sich dieser Aspekt eher als Episode. Vor einem Vierteljahrhundert ließ er sich darauf ein, mit dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers eine Tournee durch die Bundesrepublik Deutschland zu absolvieren. Obwohl er sich ansonsten gegen die Außenwelt möglichst abschirmt, hatte ich das seltene Glück und Vergnügen, ihn bei diesem Abenteuer in unmittelbarer Nähe begleiten und zwischendurch mich ausführlich mit ihm austauschen zu dürfen: Ohne Pose und Gehabe, auch in Gegenwart seiner südlich temperamentvollen Gattin sehr offen, geradezu freundschaftlich.

Was steckte dahinter, fragte ich ihn vorweg, sich mit diesem ungewohnten Programm dem in Sachen Bach hierzulande äußerst kritischen Publikum zu stellen: »Für mich war das zunächst eine außerordentliche Erfahrung mit Bachs Zyklus. Denn in der Vielfalt und Tiefe des musikalischen Ausdrucks ist dieses gewaltige Werk einmalig ... Aus der Sicht des üblichen pianistischen Virtuosentums ist die Beschäftigung mit dem Wohltemperierten Klavier relativ uninteressant.«

Seit seiner Kindheit sei er von Bachs Musik begeistert gewesen, doch habe er den ersten Teil erst in Vorbereitung auf die Tournee gründlich studiert, gab er offen zu. Für engeren Kontakt oder vertrautere Kenntnis spricht das wohl nicht unbedingt, zumal, wenn man das Favoriten-Repertoire des phänomenal begabten Wunderstars, der mit neun Jahren sein Debüt gab, zugrundelegt. Bach auf modernem Konzertflügel: in der Cembalo Renaissance der 1980-er Jahre ein zusätzliches Wagnis, das er allen Gegnern zum Trotz bereitwillig in Kauf nehmen wollte: »Es macht mir Sorge, dass Bach zu einem Tummelplatz für Spezialisten werden könnte. Selbstverständlich habe ich den größten Respekt vor denjenigen, die Bach mit Originalinstrumenten (oder nachgebauten) aufführen. Dieser Trend hat Hochkonjunktur und ist nicht uninteressant. Was ich befürchte ist, dass wir an einen Punkt geraten könnten, wo man sich Bach-Aufführungen nur noch mit jenem Instrumentarium vorstellen kann. Nur weil Bach es damals in Leipzig so gemacht hat ... Ein Unfug sondergleichen, wie ich finde. Wer will denn wissen, ob die miserablen Bedingungen an der Thomaskirche (oder anderswo) den wirklichen musikalischen Absichten Bachs entsprachen? Da sind doch wohl die Umstände der Zeit, ein anderes Instrumentarium zur Verfügung zu haben, nicht zu übersehen.«

Dass Arthur Rubinstein, einer der größten Pianisten unserer Zeit, den 1942 in Mailand als Sohn eines Architekten geborenen Preisträger des Internationalen Warschauer Chopin-Wettbewerbs des Jahres 1960 hoch adelte (»Der kann mehr als wir alle«), war außergewöhnlich. In der Tat ist Pollinis Klavierspiel von Jugend an technisch perfekt, makellos. So ohne Fehl, dass ihm Bernard Shaw, hätte er ihn jemals gehört, wie einst Jascha Heifetz nach seinem Londoner Debüt ins Stammbuch geschrieben hätte: »Nichts auf der Welt darf vollkommen sein, sonst werden die Götter eifersüchtig und zerstören es. Wollen Sie also nicht lieber jeden Abend, bevor Sie zu Bett gehen, wenigstens einen falschen Ton spielen?«

In der Bonner Beethoven-Halle passierte es dann tatsächlich: ausgerechnet in der prekären Schluss-Fuge (h-Moll), die auf Schönbergs Zwölftonsystem bereits lange Schatten wirft, gab es gleich in der Exposition eine Panne. Eine Gedächtnislücke hatte sich plötzlich aufgetan, die den Pianisten nicht irritierte und souverän den Abend beenden ließ. Später aber, beim anschließenden Zusammensein, schien er davon nicht unberührt. Ärger oder gar traumatische Störungen hinterließ der harmlose Vorgang indessen nicht. Warum hätten ihn denn auch banale Skrupel plagen müssen. Sein meisterhaftes Spiel hatte von Beginn an alle stilistischen Einwände beiseite gewischt: Die Logik strenger linearer Konsequenz, der unermessliche Schatz an subtilen Klangvaleurs, die sich nie pedantisch aufdrängende rhythmische Prägnanz, delikate, fast impressionistisch getönte Anschlagsdelikatessen. Allein diese Opulenz musste zwangsläufig alle Kritik verstummen lassen. Natürlich werden in dieser Mischung unversehens Assoziationen zu den »Romantikern« des Barockideals geweckt: zu Edwin Fischer, Wilhelm Furtwängler, Willem Mengelberg, Günther Ramin oder Karl Richter.

»Anders als bei Wanda Landowska, Pablo Casals und so weiter, spiegelt sich in ihnen die Welt der Romantik wieder. Die von ihnen geprägte romantische Bach-Interpretation leugnet ja keineswegs authentische Wurzeln. Sie gründet sich auf eine spontane Art des Musizierens. Sie zeigt darin ihre Bindung an die Tradition. Eine nüchterne historische Rekonstruktion kann es nun mal nicht geben, weil das Interpretieren von Musik immer auf der lebendigen und spontanen Intuition der Ausführenden beruhen muss ... Darin besteht die einzige Möglichkeit, bei der Wiedergabe großer Musik lebendig und aktuell zu sein.«

Keiner der elitären Weltpianisten fordert das Publikum so unnachgiebig wie verstörend mit Neuer Musik heraus. Wie wenige andere in der Zunft setzt Pollini sich mit ihr ebenso konsequent auseinander wie mit der Tradition.

So scheute er sich nicht, selbst im konservativen Salzburg Beethovens große Hammerklaviersonate neben Stockhausens abenteuerlich komplexen Klavierstücken zu präsentieren, seine Präferenzen für Chopin oder Debussy mit der gefürchteten 2. Klaviersonate von Pierre Boulez oder Avantgarde-Stücken seines Freundes Luigi Nono zu konterkarieren. Erst recht mit der Neuen Wiener Schule, vor allem mit Schönberg.

»Ohne Frage war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Musik, Literatur und Bildender Kunst außerordentlich produktiv. Danach kann es keinen Grund geben, dieser Kreativität zu entsagen und auf künstlerische Zeugnisse unserer Zeit zu verzichten. Kein Zeichen der Resignation. Vieles begreift sich in der Neuen Musik aus der Bezugsebene Bachs, kompositorisch wie als Wertschätzung. Das war schon früher so. Denken Sie nur an die Skizzen von Beethoven, der, als er die späten Streichquartette arbeitete, eine Komposition auf den Namen Bach schreiben wollte, woraus dann wahrscheinlich das Gegenthema der Großen Fuge opus 133 hervorgegangen ist, das tatsächlich Spuren des Namens Bach aufweist. Oder erinnern Sie sich der Drei Klavierstücke opus 23 von Arnold Schönberg, in denen ähnliche chromatische Motive zu finden sind ... Da es übrigens leider immer weniger Aufführungen von Werken des 20. Jahrhunderts gibt, tragen Interpreten eine hohe Verantwortung oder ein großes Maß an Schuld. Sie müssen den Zugang zu allen Epochen, erst recht zu derjenigen, in der wir leben, überall ermöglichen.«

Gleichwohl erfüllt einen mit Bedauern, dass Maurizio Pollini, der technisch perfekt und in der Beherrschung des Klaviers schwer zu übertreffen ist, nach der Präsentation des ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers, den er 2008/09 im Münchner Herkulessaal auf CD eingespielt hat, ansonsten aber Abstand davon genommen hat, seine Fans eines Tages mit dem Folge-Teil zu überraschen. So bleibt die damalige Tournee einstweilen ein Unikum wie der gewagte Ausflug ins Reich des Taktstocks, der bei ihm wie bei Dietrich Fischer-Dieskau scheiterte, weil ihm ebenso das zum Dirigieren absolut Notwendige, sozusagen »ein Schuss Scharlatanerie«, wie der Geigenpädagoge Karl Flesch dies einmal freimütig pointierte, sicherlich fehlte. Eine Laune des Schicksals, nicht mehr, die in die Geschichte beider Künstler eingegangen ist. Ein gutes Orchester lässt sich eben nicht mal gerade »spazieren führen«. Da bedarf es anderer Mittel.

»Der große Unterschied zum Dirigieren,« so hat Maurizio Pollini zum eigenen Kummer erfahren müssen, »liegt in der Tatsache begründet, dass dabei nicht ich den Klang erzeuge, sondern die andern.« Eine wahre, damals bereits nicht zu späte Einsicht.

Alle Lügen hört man sofort

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