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Dietrich Fischer-Dieskau

LASSEN SIE DIE MUSIK
NATÜRLICH FLIESSEN


So ganz unrecht hatte Max Frisch nicht, als er Mitte der 1960-er Jahre bei der Schallplattenaufnahme von Mozarts Don Giovanni unter Karl Böhm im Prager Ständetheater, dem Uraufführungsort, als Zuhörer dabei war und anschließend geäußert haben soll, der Interpret der Titelfigur habe gar nicht wie ein Sänger ausgesehen. Selbst derjenige, dem diese gewiss nicht abwertende Bemerkung galt und der sie prompt der Nachwelt überlieferte, schien amüsiert und konnte über die ungewöhnliche Charakterisierung nur schmunzeln. Ohne Frage hatte den bekannten schweizerischen Schriftsteller das studiotechnisch nüchterne Erlebnis dennoch so hingerissen, dass er entgegen seiner sonstigen Beherrschtheit ins Schwärmen geriet. Was Dietrich Fischer-Dieskau ihm in Prag an sängerischer Darstellung und Gestalt vermittelt hatte, übertraf alles, was er erfahrungsgemäß im Operngenre bis dahin für möglich gehalten hatte.

In der Tat war Dietrich Fischer-Dieskau ein Sänger, wie es ihn in der Vergangenheit nicht gegeben hatte. Seine Einmaligkeit ist ebenso unstreitig wie seine Leistungsbilanz. Bis heute suchen sie ihresgleichen. Im Zeitraum von über 40 Jahren hat er lyrisch und dramatisch nahezu alles berücksichtigt, was der Werkkatalog seiner Baritonstimme zur Verfügung stellte. Schon allein mit dem von ihm ehrgeizig und hartnäckig beackerten Spezialgebiet, dem Liedgesang, hätten andere in ihrer Laufbahn mehr als genug zu tun gehabt. Oratorien und Kantaten kamen in Fülle hinzu. Zweifellos zählt er zu den berühmtesten Sängern unserer Zeit. Als Darsteller markanter Opernrollen bleibt er vielen unvergesslich, als Inbegriff eines deutschen Liedersängers hingegen verehrt ihn die ganze Welt.

Wie viel Nähe sich ein Journalist bei einem Künstler solchen Kalibers leisten kann, ist eine delikate, meist sogar höchst diffizile Angelegenheit und schon gar nicht zu verallgemeinern. Jede Künstlerin und jeder Künstler ist anders. Ob man an sie herankommt, hängt von mancherlei Imponderabilien ab. Die einen verhalten sich im Umgang mit der Presse eher zögerlich, abweisend, auch überheblich, bisweilen feindselig; die andern können gar nicht genug davon haben, sie gerieren sich durchweg als publicity-süchtig, leiden zwar nicht gerade an Selbstüberschätzung und Eitelkeit, sind aber geradezu krankhaft darauf versessen, wann und wo auch immer gelesen, gesehen und gehört zu werden.

Den Medienleuten, die diese Spezies möglicherweise nicht sonderlich schätzen, jagen sie regelrecht nach. Dieses Geltungsbedürfnis und Gehabe konnte Dietrich Fischer-Dieskau mit seinem stattlichen Gardemaß als Mensch und Künstler niemals anfechten. Er war aus anderem Holz geschnitzt, wirkte eher diskret und scheu im Verkehr mit der Umwelt. Selbstbeweihräucherung wie dünkelhafte Ehrsucht waren ihm fremd. Schon bald nach Karrierebeginn hatte er erkannt und bekundet, dass er von wenigen wohltuenden Ausnahmen abgesehen, nicht gut in die Menschenart passte, mit der er hauptsächlich arbeiten müsste. Also hatte Max Frischs flüchtige Begegnung, ohne nähere Umstände zu kennen, den Kern der Sache ziemlich genau erfasst und korrekt beschrieben. Auf Abstand und Diskretion hat der ruhmreiche, zu recht erfolgsverwöhnte Sänger immer bestanden. Diesen strengstens auferlegten Selbstschutz hatte er mit Herbert von Karajan gemeinsam, an den sich ohne ausdrückliches Plazet ebenfalls niemand heranwagen durfte. Mit unwiderstehlicher Gewissheit hätte ihn sonst der Blitzstrahl Jupiters getroffen!

Wie viel Taktgefühl und psychologisches Geschick es erfordert, einem Künstler wie diesem genuinen Träger der vox humana zu begegnen, erlebte ich zum ersten Mal mit ihm und seiner Ehefrau Julia Varady nach einer Neuinszenierung von Verdis Spätwerk Falstaff an der Bayerischen Staatsoper. Das altersweise, komödiantisch brillante, aber mit »harten Nüssen« vollgepackte summum opus hatte der legendäre Altmeister Günther Rennert zum Abschied von seiner wohl einflussreichsten Wirkungsstätte ausgewählt und mit Dietrich Fischer-Dieskau als Protagonisten optimal in Szene gesetzt. Nach Carl Ebert und Luchino Visconti (Berlin und Wien) war es für ihn die dritte Einstudierung, über die er in einer sich unmittelbar an die Aufführung anschließenden privaten Nachfeier in einem nahe gelegenem Restaurant sich überschwänglich äußerte. Mit dem Kollegen und Freund Karl Heinz Ruppel, der die noble Zusammenkunft arrangiert hatte, fühlten wir uns im fast leeren Raum putzmunter und behaglich, so dass wir ganz ohne Bedenken und Bedrängnis, vom Furor des Augenblicks mächtig angetrieben, offen unsere Begeisterung und möglichen Einwände austauschen konnten.

So viel Witz, Charme, Unbefangenheit und Lockerheit hatte ich nach einer so aufreibenden, kräfteverzehrenden Anstrengung nicht erwartet, zumal die allerseits bekannten Tätigkeiten in Oper und Konzert, überdies die unzähligen Vermächtnisse im Schallplattenmedium mir einen tiefgründigen Respekt vor dieser singulären Künstler-Persönlichkeit eingeflößt hatten. Ein Riesenhorizont tat sich in mir auf, der die Beschlagenheit des Musikers und Menschen Fischer-Dieskau über gängige Maßstäbe und Themenkomplexe weit hinaushob. Politik und Zeitgeschehen berührten ihn nicht weniger als das forschende Nachdenken über Wissenschaft und Philosophie.

Was mich an diesem insgesamt heiteren Abend besonders fesselte, war die Bescheidenheit, Gelassenheit und emotionale Zurückhaltung im Kontrast zu der knapp vorher noch auf der Opernbühne vorgeführten auftrumpfenden Virilität, Protzerei und Sauflust. Nichts davon war in der Runde des Diner-Quartetts übriggeblieben. Gleichwohl hielt er, fast unbemerkt, die straffen Zügel ökonomisch fixierter Zeitbemessung in der Hand. Als er aufzubrechen gedachte, richtete er, was ich zufällig mitbekam, treffsicher einen knappen Blick auf seine Gemahlin, die punktgenau reagierte, ihre Unterhaltung unterbrach und sich noch vor ihm erhob und mit ihm verabschiedete. Ein Muss, das keinen Aufschub gewährte. Diese stumme Geste rückte den nicht zu Caprice und Willkür neigenden Kunst- und Geistesmenschen Fischer-Dieskau unverhohlen in die Nähe von Karajans Autorität. Nach immensen Kraftanforderungen will auch er möglichst allein sein, Ruhe genießen und den mörderischen Stress dieses Berufs verarbeiten. Anders geht es wohl auch nicht.

Dietrich Fischer-Dieskau sah seine Berufung zuweilen nicht nur als Sänger, sondern nutzte sein begnadetes Talent ebenso im Bereich der Bildenden Kunst, in Schriftstellerei und Pädagogik. Während die Resultate auf dem einen wie dem anderen Sektor sehr Stilvolles, Eigenkonturiertes, nicht zuletzt seine hochgradige Bildung und Belesenheit erkennen ließen, blieb hingegen der Drang zum Dirigentenpult, der sich – in Vorsorge um Beschäftigung nach Abschluss der Sängerlaufbahn – seiner impulsiv und überraschend selbstgewiss bemächtigt hatte, leider nicht mehr als ein utopisch-idealistischer Versuch. Mit der Camerata Academica des Salzburger Mozarteums begann dieses Abenteuer 1973, mit diversen Ensembles in Edinburgh und London setzte es sich fort und fand nach einigen illustren Aufnahmen bei der Schallplatte ein vorzeitiges Ende.

Fischer-Dieskaus Leitstern von früh an war Wilhelm Furtwängler, den er als non plus ultra verehrte, von dem er als Mensch jedoch (wegen seiner extremen erotischen Gelüste) eher »schillernde Eindrücke« gewonnen hatte. Vorrangige Bedeutung maß er stets dem Atem bei. »Singen Sie«, hatte er ihm einmal geraten, ohne viel zu wollen. Lassen Sie die Musik natürlich fließen.« Diese Signatur hatte Furtwänglers Musizieren ebenso wie die Einmaligkeit seiner Dynamikentwicklung und Tempogestaltung geprägt. Die Unverwechselbarkeit der Interpretation klassisch-romantischer Meisterwerke blieb Furtwänglers unergründliches Geheimnis.

Ob derlei nicht eine zu gewaltige Hypothek für die Nachahmung sei, kehrte Fischer-Dieskau schlichtweg mutig in »Ansporn und Aufforderung« um. Er sah darin einen Maßstab an sich selbst, den man sich aufstelle und zu erreichen versuche. »Jeder wird in dem, was er tut, sozusagen ein moralisches Gerüst aufrichten.«

Was spricht als geborener Lieder-, Oratorien- und Opernsänger in der Funktion des Dirigierens indessen für ihn? »Ich würde meinen, dass zu jedem Musiker, der sich mit dem, was wir bisher unter Musik verstanden haben, beschäftigt, etwas gehört, was heute leider gar nicht mehr so oft zu finden ist, nämlich das Atmen-Können. Und ich halte das für den besten Weg, sich dem Dirigieren zu nähern, abgesehen von all den anderen Notwendigkeiten, die ja auch noch bestehen.«

Als ich Dietrich Fischer-Dieskau fragte, in wem sich in der Tat das Phänomen des Dirigenten schlechthin verwirklicht habe, antwortete er bekenntnishaft: »Da würde ich ohne Zögern Furtwängler nennen ... Er hat es immer verstanden, zwischen Orchester und Publikum und sich als Medium eine Gemeinschaft herzustellen, im Konzertsaal. Am Abend hat sich etwas eingestellt, was in dieser Form sich bei niemandem sonst erlebt habe. Das hat mystische Qualitäten und etwas von einer Hintergründigkeit, die mit Worten gar nicht zu beschreiben ist.« Ein schweres Erbe, wie er betont. Dagegen anzukämpfen sei selbst für ihn nicht eben leicht: »Natürlich ist das eine Hypothek, die sich belastend auswirken kann. Auf der anderen Seite finde ich, wenn jemand sagte: Ich mache Fischer-Dieskau den Rang streitig, ich möchte gern so singen wie er singt – dann habe ich gar nichts dagegen. Das ist die beste Wirkung, die man eigentlich hat oder haben könnte.«

Alle Lügen hört man sofort

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