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Anne-Sophie Mutter

MEIN IDEAL IST MEIN IDEAL GEBLIEBEN


Wie eigene Kinder, geraten jugendliche, der breiten Öffentlichkeit noch unbekannte Künstler, ihren Lehrern und fachkundigen Gefährten irgendwann aus den Augen. Beides ist natürlich, nicht ungewöhnlich. Die einen wie die anderen tun sich schwer damit, dass der Weg selbst bei sich aufdrängender berufener Prägung und Entwicklung nicht eben geradlinig verläuft und mit unvorhersehbaren Hindernissen gepflastert ist. Gleichwohl zählt jedoch gerade diese kindliche Lebensphase zum Staunenswertesten, was die Natur der Gattung Mensch vorbehalten hat. Verwundert ist man daher nicht, wenn insbesondere ältere Leute sich immer wieder liebend gern ihrer früh erfahrenen Glücksgefühle erinnern und Tatbestände oft in verklärender, von der Wirklichkeit entrückter Schilderung sehnsuchtsvoll und doch maßlos übertreiben.

Mysteriös und offen indes bleibt allemal die Frage, warum ungerechterweise ein äußerst kleiner Bruchteil an Erdenbürgern schon im Kindesalter mit einem wahren Füllhorn an Talenten in Erscheinung tritt, das einmalig ist. Das die einen entzückt, zu spontaner Begeisterung hinreißt, andere dagegen, vor allem die lauernde Konkurrenz, schier vor Neid erblassen lässt. Was mag sich der Ewige wohl dabei gedacht haben, einige seiner Geschöpfe auf Erden nach Gutdünken zu bevorzugen, sie mit einem Zauberstab auszustatten.

Landläufig nennt man sie Wunderkinder. Lebensschicksal und Karriere sind ihnen wie Sonnenauf- und -untergang vorherbestimmt. Im Reich der Musik tummeln sie sich am häufigsten. Vermeintliche und echte. Vor allem in der Zunft der Interpreten, mit der gefährlichen Tendenz, durch die sich zu Tode reitenden Wettbewerbe inflationäre Zustände für den heutigen Nachwuchs zu kreieren.

Unscharf markiert ist in Sachen Wunderkind durchweg die Frage des Alters. Sie relativiert sich, ist nicht stichhaltig, wenn beispielsweise jemand, der durch exorbitante musikalische Leistungen Aufsehen erregt, noch als Kind oder bereits als reiferer Teenager einzustufen ist. Eine wichtigere Rolle muss notwendig das überragende individuelle Kunstvermögen spielen, die darin früh erkennbare autonome Persönlichkeit. Ohne sie dürfte es ohnehin schwierig genug sein, sich dem exzessiven Anspruch, der sich im Wettbewerb aufdrängt, zu stellen. In der Perfektionsmaschinerie des Medienzeitalters verstärkt sich der Leistungsdruck umso mehr. Die Messlatte liegt immer höher, das Geschäft ist gnadenlos.

Doch Wunderdinge, unübertreffliche, gab es auch in der Vergangenheit. Wilhelm Kempff, Legende eines deutschstämmigen Pianisten, beherrschte schon als Zehnjähriger das ganze Wohltemperierte Klavier von Bach auswendig und besaß obendrein das seltene Talent, sogar die kompliziertesten Stücke aus jenem Mammutwerk in jede beliebige Tonart zu transponieren. Auch Wilhelm Backhaus, Vladimir Horowitz, Yehudi Menuhin, Glenn Gould, Friedrich Gulda und andere waren in Anbetracht ihrer superben frühen Anläufe gewiss Wunderkinder, keine Stars wie heutzutage, aber von Kopf bis Fuß Ausnahme-Erscheinungen, die einen Sonderstatus genießen und als unverwechselbare Persönlichkeiten mittels Schallplatte das Musikfirmament bis in die unmittelbare Gegenwart hinein hell erstrahlen lassen.

Auf Anne-Sophie Mutter trifft nahezu alles zu, was in extraordinären Kategorien unterzubringen ist. Ein genuines Wunder der Natur, möchte man meinen, das in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht seinesgleichen hatte. Die Welt horchte denn auch neugierig auf, als Herbert von Karajan 1977 dem ziemlich überraschten Publikum bei den Salzburger Pfingstfestspielen die noch etwas pausbäckigfüllig wirkende junge Dame con gentilezza als phänomenale Entdeckung, geradezu als »Jahrhundertbegabung« ankündigte.

Dabei war sie in Erscheinung und Alter von knapp fünfzehn Jahren damals freilich schon etwas über die Norm fortgeschritten, um mit ihr noch den gängigen Begriff Wunderkind in Verbindung zu bringen. Sei’s drum: mit dem Segen des »Allmächtigen« geriet Anne-Sophie Mutter, als Stargeigerin emporgehoben, schlagartig ins grelle Rampenlicht. Überall wurde sie stürmisch begehrt und als Sensation gefeiert. Fasziniert folgten die Hörer dem Ereignis einer Künstlerin, die höchste musikalische Tugenden verkörperte: hochgradige Sensibilität, abenteuerliche Virtuosität, überragende Technik, seelische Ausdruckstiefe, dramatisch feurigen Impuls, beflügelt durch eine Menge intellektueller Fähigkeiten. Die ihr gleichermaßen angeborene Neugier und Unbefangenheit zeichnet sie vornehmlich auch auf der weniger verfänglichen Ebene der zeitgenössischen Musik als Ausnahme-Künstlerin aus.

Karl Heinz Ruppel, der 1980, kurz nach seinem achtzigsten Geburtstag, in München verstorbene damalige Doyen der deutschen Musikkritik, hatte mich ziemlich früh auf das Wunderkind aus Wehr, nahe der schweizerischen Grenze, aufmerksam gemacht, als sie wirklich noch in Kinderschuhen steckte und Unterricht bei ihrer Lehrerin Aida Stucki nahm. Lange vorbei.

Auf meinen väterlichen Freund war im unbestechlichen Urteil immer Verlass gewesen. Klar, denn nach vielerlei anderen Verpflichtungen hatte er seit 1950 hauptberuflich für die Süddeutsche Zeitung berichtet, war also ein Mann von hoher Kenntnis und Erfahrung, kompetent, enorm sicher in Geschmack und geschliffener Formulierung, hochgebildet. Jeder Zoll überdies ein Herr, ohne Frust und Verdruss, vielmehr beglückt und erheitert durch unbändige Lust und Freude am kreativen musikalischen/theatralischen Genuss. Ein Vorbild in der Wahrnehmung, zumal der aus Darmstadt stammende und sein Leben lang mit unüberhörbarem hessischen Akzent redende Publizist seine ersten großen musikalischen Eindrücke noch in der Heimatstadt durch den später zur Weltelite aufsteigenden jungen Generalmusikdirektor Erich Kleiber empfangen hatte. Diese Eindrücke übertrugen sich folgerichtig auf den kühneren, um Vieles tragischeren Erfolgsanstieg und Karriereverlauf seines Sohnes Carlos, dem er nahezu familiär wie künstlerisch stets in allerhöchster Bewunderung zugetan blieb. Ein anderes Kapitel.

Bevor Anne-Sophie Mutter, als Star geboren, von Kontinent zu Kontinent eilend, in Konzertsälen und Medien mit Lobeshymnen überschüttet wurde, war ihre Welt betont schlicht und einfach, der Zugang zu ihr natürlich, ohne verstörende Komplikation gewesen. Wenn ich mich recht entsinne, hat es erste persönliche Kontakte Mitte der 1970-er Jahre gegeben. Sie wurden durch ihren Vater, der die Geschäfte führte, erst beruflich dann auch privat angeknüpft: vertrauensvoll, unbekümmert locker, ganz und gar unkompliziert. Waren das noch Zeiten, so würde sie heute gewiss lächelnd beipflichten, als sie damals nach einem Konzert wie Maria und Josef auf Herbergssuche waren und der Vater sich kurz vor Mitternacht bei uns telefonisch meldete, weil vergessen worden war, für ihn und seine Tochter eine Unterkunft zu buchen; oder, als sie uns besuchte und ausgelassen wie eine Freundin aus der Nachbarschaft mit unseren Kids auf dem Fußboden spielte und herumtobte; oder später, im Sommer 1988, als sie Ehrenbürgerin ihrer badischen Kleinstadt geworden war (aus diesem Anlass hatte man sogar eine Straße nahe dem Elternhaus in »Anne-Sophie-Mutter-Weg« umbenannt) und mit Bewohnern und Freunden ein zünftiges Fest gefeiert wurde. Die Freundlichkeit, die dem Besucher dabei entgegenschlug, war arglos, offen und kam aus tiefstem Herzen. Unbefangen und dankbar, daran war kein Zweifel, genoss die Gefeierte im heimatlichen Ambiente Zugehörigkeit und Sympathie.

Die Natürlichkeit und Liebenswürdigkeit ihres Wesens, eine hervorstechende Mitgift ihres badischen Elternhauses, prägte ihre Ausstrahlung privat wie professionell, wobei Letzteres allerdings, um zum hochgesteckten Ziel zu gelangen, ihr unerbittliche Strenge abverlangte, die sie sich ohne Drill oder Verbissenheit auferlegte. Ihre Gunst und Popularität hat sie sich künstlerisch nie mit Kompromissbereitschaft oder unlauteren Mitteln erkauft. Zu Gute kommt ihr ein phänomenales Konzentrationsvermögen, mit dem sie selbst in Hektik oder in kniffligsten Momenten auf dem Podium durch Souveränität, Ruhe und Gelassenheit besticht. Voilà. Vom kalten Perfektionismus hält sie indessen nichts. Karajan hatte recht, als er meinte, zu ihr, die selbst nie die üblichen Schulen besucht hat, »könnten die meisten in die Schule gehen«.

Genie, meinte schon Goethe, ist Fleiß. Wie die Demut, die Anne-Sophie Mutter von Jugend auf als erstes Gebot verinnerlichte, blieb sie auch im Antrieb zur Sache besessen und konsequent. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Schon damals sagte sie mir: »Mein Ideal ist mein Ideal geblieben ... Abstriche und Kompromisse darf es bei mir nicht geben. Nach einem guten Konzert arbeite ich am nächsten Tag noch mehr daran, meinem Ideal näher zu kommen.«

Der Geigerin mangelt es nicht an opulenten Tugenden: So verblüffend wie ihre optische Schönheit, ist ihr Charisma, ihre unbeugsame Willensstärke, ihr Hang zur Perfektion. Nichts klingt in ihrem Spiel angestrengt, verspannt, überzogen, eher souverän über abenteuerliche manuelle Schwierigkeiten hinwegtäuschend, eindringlich, berauschend, kurzum betörend. Eben darin ist ihre verblüffende Einzigartigkeit begründet.

Wie leicht ihr schon damals auch das zeitgenössische Idiom von der Hand ging, demonstrierte sie nicht allein am packenden Zugriff der spröden, ungeigerischen Essenzen von Strawinskys Violinkonzert in D, an den für sie komponierten Stücken von Norbert Moret (En rêve) oder Sofia Gubaidulina (Offertorium), oder solchen von Wolfgang Rihm, sondern nachdrücklich an Werken des mit ihr befreundeten polnischen Altmeisters Witold Lutosławski. An dessen erfolgreiche Erstaufführung von Chain 2 – ein Dialog für Solovioline und Orchester – in Basel, denke ich heute noch sehr nachhaltig und mit größtem Vergnügen zurück. Paul Sacher, der Dirigent des Konzerts, hatte anschließend Künstler und Gäste zu sich nach Hause eingeladen, wo es mit deliziösen kulinarischen Genüssen und interessanten Gesprächen bis in den frühen Morgen hoch herging: rüstig wie eh und je der so hochbetagte wie reich begüterte Gastgeber, allen voran jedoch das unschlagbar witzige, so muntere wie skurrile Allroundgenie Jean Tinguely, das wie Anne-Sophie Mutter zuvor im Konzert unaufhaltsam, brillant und gestenreich auf hohe Touren geriet.

Respektvoll, ohne Pomp und Anbiederung, eher in nobler Distanz kamen wir uns über die Jahre hinweg auch persönlich nahe: in Köln, bei Fernsehauftritten und anderen Anlässen; in Salzburg, auf dem Mönchsberg, im Burgturm des Pressechefs der Salzburger Festspiele Dr. Hans Widrich; überdies im Goldenen Hirschen mit Krystian Zimerman, Eliette von Karajan und dem Anne-Sophie begleitenden künftigen Ehemann, Dr. Detlef Wunderlich, den sie nach der Geburt zweier Töchter allzu früh verlor; schließlich bei weiteren Begegnungen mit ihrem zweiten, inzwischen wieder geschiedenen Ehepartner André Previn in Dresden und vor allem in München, wo sie zu Hause ist.

Inzwischen war sie längst zur jüngsten Professorin der Londoner Royal Academy of Music avanciert. Gleich bemühte sie sich dort zunächst um die schnelle Änderung des viel zu späten Eintrittsalters. Aus eigener Erfahrung wusste sie: »Wer höhere Karriereziele anstrebt, für den ist mit achtzehn Jahren der Zug abgefahren.« Wenn technisch nicht bereits im frühen Alter ein Automatisierungsprozess einsetze, fügte sie hinzu, dass man sozusagen auf den Knopf drücken und die Dinge perfekt ablaufen lassen könne, habe man später keine Chance mehr.

Als Wunderkind auserwählt, hat Anne-Sophie Mutter behutsam, gefestigt, zielbewusst, selbstkritisch, von Allüren und krankhaftem Ehrgeiz frei ihre Traumkarriere angetreten. Noch fast pubertär, war sie als »Botschafterin ohne Diplomatenpass«, wie Baden-Württembergs kunstbeflissener Ministerpräsident Lothar Späth sie einst voller Stolz pries, bereits zu hohen Ehren aufgestiegen. Alles, was die Göttin der tönenden Zunft an edlen Gaben bereithält, hat sie generös auf diese Persönlichkeit ausgebreitet. Voller Staunen liegt ihr die Musikwelt seit Anbeginn zu Füßen.

Alle Lügen hört man sofort

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