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6.

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»Domian, nein! Lass das, Domian! Domian, kannst du nicht hören? Ich will das nicht, verdammt noch mal!«

Die Frau wehrte sich aus Leibeskräften, aber Domian war einfach zu stark. Unmöglich, ihm zu widerstehen, wenn er etwas wirklich wollte. Dann bremste ihn nichts und niemand. Und ein »Nein« schon gar nicht.

»Nein, Domian! Nicht!« Vergebens, sie hatte keine Chance. Sie musste aufhören, sich dagegenzustemmen, zu ziehen und zu zerren, sonst ging es ihr dreckig. Das wusste sie aus böser Erfahrung.

Sie ließ die Leine los. Während die Frau auf dem weichen, glitschigen Boden stolpernd um ihr Gleichgewicht rang, sauste Domian davon, hinter der getigerten Katze her hinein in den modderigen Graben. Während aber die Katze leichtfüßig über den stinkenden Schlamm hinwegsetzte und am jenseitigen Ufer im Unterholz verschwand, platschte der blendend weiße Golden Retriever mitten hinein.

»Ach, Domian.« Die Frau schüttelte den Kopf. Hoffentlich blieb das dämliche Viech nicht auch noch im Modder stecken! Einmal war das schon passiert, und sie hatte Hilfe holen müssen, um das Vierzig-Kilo-Biest wieder auf festen Boden zu zerren. Anschließend hatte sie Stunden gebraucht, um den Hund zu waschen, zu trocknen und zu bürsten, bis jedes Stäubchen und jede Geruchsspur wieder entfernt war. Ihre Tochter stellte sich ja dermaßen an mit dem Hund!

Dabei gehörte der Retriever eigentlich Oliver. Aber der hatte schon lange das Interesse an dem Tier, das ihm sein Onkel geschenkt hatte, verloren. Sich selber um die Töle zu kümmern und womöglich mit Domian Gassi zu gehen, dafür hatte der feine junge Herr natürlich keine Zeit.

»Komm her, Domian! Komm her! Sei ein Braver. Kriegst auch ein Leckerli.« Auch noch belohnen musste sie dieses störrische Vieh. Das ging ihr total gegen den Strich. Aber was half es, Oliver Eickhoff hatte den Hund in der kurzen Zeit, die er bei ihm verbracht hatte, komplett verwöhnt, und jetzt war Domian mit normalen Mitteln nicht mehr beizukommen. Bestochen wollte er werden, verhätschelt und betütert, bei jeder Gelegenheit. Tja, wie der Herr, so das G’scherr.

Erschrocken schaute sich Antje Baumann nach allen Seiten um. Dass sie diese ungebührlichen Worte nicht etwa laut ausgesprochen hatte, das wusste sie natürlich. Aber vielleicht stand es ihr ja ins Gesicht geschrieben, was ihr da gerade durch den Kopf gegangen war! Wusste man’s? Nein, man wusste es nicht. Wusste man nie! Es gab eben doch mehr zwischen Himmel und Erde, als in der Schule gelehrt wurde. So hatte es neulich erst wieder im Fernsehen geheißen. Und in der Kirche auch.

Antje Baumann war Anfang fünfzig; nächstes Jahr würde sie nun schon fünfunddreißig Jahre bei den Eickhoffs in Stellung sein. Sie hatte bereits den Haushalt in der großen Villa in Leer-Loga besorgt, ehe Karl-Friedrich dort das Kommando übernommen hatte. Seit Heinrich-Wilhelm Eickhoff vor einigen Jahren verstorben war, wurde sein Sohn Karl-Friedrich »Eickhoff senior« genannt. Für Antje Baumann klang das immer noch irgendwie falsch. Obwohl, das gab sich, so nach und nach. Karl-Friedrich Eickhoff, früh verwitwet, wurde seinem Vater immer ähnlicher. Außerdem nannte sie ihn sowieso immer »gnädiger Herr«, genau wie seinen Vorgänger, da konnte sie sich nicht verplappern.

Er nannte sie immer »Mädchen«, auch jetzt noch, mit Anfang fünfzig. So hatte eben alles seine Ordnung.

»Domian!« Antje Baumann beeilte sich, dass sie dicht genug an den Graben herankam, um womöglich das Ende der langen, edlen Lederleine zu erwischen. Hoffentlich war die nicht auch ganz verdreckt! Die musste nach dem Reinigen nämlich eingefettet werden, sonst wurde sie beim Trocknen rissig. Und falls der junge Herr das bei einem seiner Besuche im Stammhaus mitbekam, würde er wieder fuchsteufelswild. Auch wenn ihm der Hund ansonsten egal war.

Sie erreichte den Grabenrand und beugte sich vor, die Arme ausgebreitet, um nicht die Balance zu verlieren. »Domian?« Der Hund war nirgends zu entdecken, ebenso wenig wie das Leinenende. Um Gottes willen, das Tier würde doch nicht im Schlamm versunken sein?! Das würde ihre Tochter ihr nie verzeihen, und sie sich auch nicht. Denn verzogen oder nicht, sie hatte dieses trottelige Tier doch ziemlich lieb. Ebenso wie Aylin.

Nein, nichts zu sehen. Zwar dämmerte es bereits, aber einen Hund mit einem derart hellen Fell hätte man doch auf jeden Fall noch erkennen müssen, sogar im Schatten! Es sei denn, das Viech war von oben bis unten schlammgrau eingefärbt, dann konnte sie lange gucken. Und später schrubben.

»Domian? Domian!« Wie aus dem Nichts war der Hund plötzlich da, sprang von der Seite her an ihr hoch, stieß mit seiner nassen Schnauze ausgelassen nach ihrem Gesicht. Natürlich war er von oben bis unten eingedreckt. Vergeblich versuchte Antje Baumann, Domian mit ausgestreckten Armen von sich und ihrer Kleidung fernzuhalten; dadurch verlor sie erst recht die Balance. Schwer plumpste sie auf den weichen Untergrund des Spazierwegs.

»Dreck! Verfluchter Dreck!« Der Rock war hin, die Strümpfe bestimmt auch, und was die Schuhe anging, konnte sie nur hoffen. Die Herrschaft verlangte stets ein tadelloses Äußeres von ihr, und bei dem Lohn, den sie bekam, was das nicht immer leicht. Wenigstens hatten Jacke und Bluse noch nicht so viel abbekommen …

Domian stellte sich direkt vor sie und schüttelte sich ausgiebig. Der Dreck flog ihr nur so um die Ohren – und auf ihre Kleidung. Na toll, jetzt sah sie endgültig aus wie ein Schwein.

Mühsam rappelte Antje Baumann sich auf. Mit der linken Hand schnappte sie sich Domians Leine, mit der anderen zückte sie ihr Handy. So, wie sie aussah, konnte sie unmöglich unter Leute.

»Edwin? Du musst mich abholen. Bitte. Ich hab ein Malheur gehabt.« So knapp, wie es ihr möglich war, schilderte sie Eickhoffs Chauffeur, was ihr widerfahren war. »Du müsstest doch jetzt Zeit haben. Der gnädige Herr ist bestimmt mit seinem Geländewagen los, richtig? Na also. Dann bitte zu dem Parkplatz am Spazierweg, ja, in Heisfelde, du weißt schon, wo das ist. Und beeil dich, ehe mich noch einer sieht.«

Edwin war alles andere als begeistert. »Was gibst du dich denn auch immer noch mit diesem Hund ab? Fütterst ihn auf eigene Kosten durch! Dabei gehört der dem jungen Herrn, und seit der seinen eigenen Bungalow bekommen hat, sind wir für ihn doch gar nicht mehr zuständig! Und für seinen Hund schon gar nicht! Oliver hat jetzt seine eigene Haushaltshilfe, warum geht die denn nicht Gassi?«

Antje Baumann schüttelte den Kopf. Natürlich hatte Edwin recht, leider, aber darum ging es ja nicht. Es ging um Verantwortung. Wenn man die einmal übernommen hatte, dann gab man die nicht so einfach wieder ab. Verantwortung klebte an einem wie Honig. Zumal Aylin so in den Hund vernarrt war.

»Kommst du mich jetzt holen, oder was?«, schimpfte sie in ihr Telefon. »Wenn nicht, dann kannst du deine Klamotten gleich wieder aus meinem Schrank holen, das sage ich dir! Dann schläfst du ab sofort wieder oben unterm Dach, verstanden?«

»He he, nun übertreib mal nicht gleich. Ich komme ja.« Edwin beendete das Gespräch.

Antje Baumann straffte sich. Fünfzig mochte sie ja sein, aber ihre Möglichkeiten hatte sie immer noch.

Sie steckte ihr Handy weg, klopfte ein wenig an ihrer verdreckten Kleidung herum, was sich als ebenso zwecklos erwies wie vermutet, und machte sich auf den Weg zurück zum Parkplatz. Domian hatte sich offenbar ausgetobt und folgte ihr willig. Wenigstens etwas, dachte Antje Baumann. Hoffentlich hatte Edwin genügend Verstand, um mit dem alten Kombi zu kommen, den sie immer zum Einkaufen benutzten. Da lagen alte Decken drin, dann musste sie anschließend wenigstens nicht noch ein ganzes Auto putzen.

Der Knall ließ sie erstarren. Ein Schuss, das war ihr erster Gedanke, ein Schuss, und ziemlich nah noch dazu. Verdammt, wer jagte denn hier, direkt am Rand der Siedlung? Dann erst erwog sie die anderen Möglichkeiten. Eine Fehlzündung, ein geplatzter Reifen, ein Feuerwerkskörper? Nein, nichts davon. Sie hatte ihre Herrschaften schon zu Jagdgesellschaften begleitet, um nach verblasener Strecke einen Imbiss zu reichen. Sie wusste, wie Schüsse klangen, und dies hier war einer gewesen.

Na Gott sei Dank, wenigstens war sie nicht getroffen worden. Vorsichtig ging sie weiter.

Domians Leine straffte sich, und als Antje Baumann sich umdrehte, sah sie, dass der Hund zu Boden gesunken war. Sein dreckverkrustetes Fell nahe der Hinterhand glänzte von frischer Nässe. Mit großen, unendlich traurigen Augen starrte der Golden Retriever sie an. Dann erst begann er leise zu fiepen.

»Domian?« Antje Baumann bückte sich, fasste nach der feuchten Stelle. Unter ihren Fingern pulste es warm, und obwohl es schon fast dunkel war, konnte sie den roten Schimmer deutlich erkennen. Nun jaulte der Hund, leise und schicksalsergeben. Es war herzzerreißend.

Jemand hatte auf Domian geschossen! Auf ihren Hund, vielmehr auf den Hund, für den sie die Verantwortung trug, die so klebrig war wie das Blut an ihrer Hand. Wer tat denn sowas? Wer schoss denn auf einen unschuldigen Hund?

Motorengeräusch drang zu ihr herüber. War das Edwin mit dem Kombi? Aber so klang es nicht, es klang anders. So, wie es früher geklungen hatte, wenn Olivers merkwürdige Freunde zu Besuch gewesen waren und wieder wegfuhren. Auf ihren Motorrädern! Richtig, das Geräusch kam von einem Motorrad. Und es entfernte sich. Jetzt kam noch ein Quietschen dazu, der Motor brüllte in der Ferne noch einmal auf, dann war es wieder still. Bis auf das Jaulen des Hundes.

»Domian, mein armer Domian. Stirb mir bloß nicht.« Sie riss ein Päckchen Taschentücher heraus, presste es auf die Wunde, um die Blutung zu verlangsamen, und versuchte es mit ihrem Halstuch zu fixieren. Schade drum, das war ihr gutes Halstuch. Aber darauf kam es auch nicht mehr an.

Als Edwin einige Minuten später den Spazierweg mit seiner starken Taschenlampe ableuchtete, fand er Antje Baumann zusammengekauert und schluchzend vor, die Arme um Domian geschlungen. Der Hund lag ganz still, nur seine Rute zuckte leicht zur Begrüßung.

Ostfriesische Verhältnisse

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