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9.

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Unten im Restaurant war es, gemessen an der Fülle, auffallend still. Unterdrücktes Gemurmel hing über einander zugeneigten Köpfen. Wie bei einer Trauergesellschaft, fand Stahnke, als er das Lokal durch den hinteren Seiteneingang betrat. So fühlt sich das an, unmittelbar nach der Bestattung. Später wird es dann doch meist lauter und bisweilen sogar lustig.

Ob das hier auch zu erwarten war? Vielleicht, schließlich waren die meisten Gäste sicher nicht aus Betroffenheit hier, sondern aus schnöder Neugier. Verständlich, war dies doch vermutlich die grausigste Mordtat in Leer seit dem Machetenmörder. Der hatte sein Opfer übrigens gar nicht weit von hier geköpft und den Kopf dann in einem Rucksack durch die Gegend gefahren, bis er, total zugedröhnt, einen Unfall baute und dabei starb. Von wegen friedliches Ostfriesland! Zuweilen lagen die Verhältnisse hier ganz anders.

Abgetrennter Kopf – dabei fielen ihm die goldenen Schriftzeichen oben an den Wänden ein. Diese Gedankenkette funktioniert in beiden Richtungen: Islam, Islamismus, Terrorismus, grausamer Mord, bevorzugt durch Köpfen. Angesichts der Weltlage fielen solche Assoziationen leicht, fand der Hauptkommissar. Verlockend leicht. Gefährlich leicht.

Mit ausgestreckter Hand stoppte Stahnke eine vorbeihastende Bedienung, deren Tablett mit Bier- und Weingläsern befrachtet war. »Wo finde ich Herrn Christiansen?«

»Im Roten Salon«, antwortete die junge Frau knapp, pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn und hastete weiter. Als sie bemerkte, dass sich der Hauptkommissar nicht vom Fleck rührte, drehte sie sich noch einmal zu ihm um und machte eine deutende Kopfbewegung. Aha, weiter vorne, Richtung Buchladen und dann links.

Der Rote Salon entpuppte sich als mittelgroßer Clubraum, der seinen Namen wohl den halbhohen, bordeauxrot gestrichenen Holzpaneelen an den Wänden verdankte. Die altersschwachen Schiebetüren waren geschlossen. Zwei uniformierte Beamte erhoben sich von ihren Stühlen. Wurde dieser Raum etwa bewacht?

Die beiden Graubärte waren dem Hauptkommissar wohlbekannt. »Schau an, Rieken und van Dieken.« Stahnke legte grüßend zwei Finger an die Stirn. »Was macht ihr denn hier? Und wer ist das?« Aus den Augenwinkeln hatte er noch eine dritte Gestalt in Unform entdeckt, die in einer Nische stand.

Rieken lachte kollernd. »Nun hör dir das an, der fällt da auch drauf rein!«, rief er und stieß seinem Kollegen den Ellenbogen in die Seite. »Dabei trägt die steife Dame da noch das alte Förster-Grün, das ist doch wohl seit Jahren out.«

»Und das senfgelbe Hemd. Da ist es eigentlich schade drum«, ergänzte van Dieken.

Stahnke schaute genauer hin. Was er bei flüchtigem Hinsehen für eine Kollegin gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine als Polizistin kostümierte Schaufensterpuppe. Krimi-Christiansen und seine Leute hatten offenbar eine merkwürdige Auffassung von Humor.

»Na schön«, sagte der Hauptkommissar, »jetzt weiß ich also, wieso die Puppe hier tatenlos rumlungert. Aber warum tut ihr das auch?«

»Na hör mal!« Rieken spielte den Beleidigten. »Wir erfüllen hier eine wichtige dienstliche Aufgabe! Und das mit der gebotenen Akribie.«

»Aha. Was du im Sitzen kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, was? Könnte mir vorstellen, dass ihr anderswo dringender gebraucht würdet.«

»Tja, kann sein. Aber dienstliche Anweisung ist dienstliche Anweisung, nicht wahr?« Van Dieken schob sein Cola-Glas vorsichtig außer Sichtweite. Ob da wohl wirklich nur braune Zuckerbrause drin gewesen war? Stahnke war sich nicht sicher.

»Anweisung? Von mir aber nicht«, erwiderte er.

»Nee, aber vom Kollegen Kramer!« Rieken warf sich in die schmale Brust. »Er sagte ausdrücklich, dass mit dem Herrn Christiansen heute Abend noch gesprochen werden müsste.« Er deutete mit dem Daumen auf die Schiebetür, hinter deren Scheiben der Umriss eines sitzenden dicken Mannes zu erkennen war, beide Ellenbogen auf einen Tisch gestützt, ein langstieliges Glas vor sich.

Stahnke stemmte die Fäuste in die Seiten: »Und jetzt passt ihr auf, dass der Tatzeuge nicht flüchtet, oder was? Zwei Mann hoch, also echt! Mann, Mann!«

»Ja genau, Mann und Mann«, sagte van Dieken und blinzelte betont unschuldig. »Man kann nicht vorsichtig genug sein. Der Typ da hat die Leiche gefunden, sagt er – das weißt du doch auch, dass diese Finder manchmal in Wahrheit selber die Täter sind!«

»Und zwei Mann sind nicht zu viel«, ergänzte Rieken. »Hast du gesehen, der Herr ist ganz schön groß! Und er hat Gewicht!«

Der Hauptkommissar holte tief Luft. »Wie du vielleicht gesehen hast, trifft beides auch auf mich zu«, knurrte er. »Und wenn ihr mir nicht bald diese Tür hier aufmacht, dann komme ich über euch! Und danach nichts wie weg hier, verstanden? Ich übernehme.«

Rieken und van Dieken fassten übertrieben schwungvoll nach den Türgriffen rechts und links, deuteten je eine Verbeugung an und zogen zeitgleich. Eine schöne Parodie von devoten Subalternen – wäre es geworden, wenn die linke Tür nicht gehakt und Rieken beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Stahnke trat ein. Hinter ihm rumpelten die Türen wieder zu.

Christiansen hob den Kopf. So vorgebeugt und aufgestützt wirkte er unglaublich massig, fand Stahnke. Wie alt mochte er sein, an die sechzig vielleicht? Dafür war seine Mähne noch ziemlich dicht. Aber eindeutig grau; die paar Farbpigmente, die sich in einigen Strähnen noch finden mochten, reichten nicht mehr aus, um noch den Gesamteindruck von Blond entstehen zu lassen. Friedhofsblond, das ja. Der Kinnbart war schon völlig weiß.

Als er dem Buchhändler in die Augen schaute, fühlte er sich wie bei einem Blick in den Spiegel: wasserblau und hellwach, genau wie seine eigenen! Aber damit erschöpfte sich die Ähnlichkeit auch, fand der Hauptkommissar und straffte sich. Er war nicht nur jünger als dieser Typ, er war auch fitter – inzwischen. Und vor allem sah er ordentlicher aus. Wer trug denn bloß in diesem Alter noch so lange Zotteln?

Der Clubraum mochte etwa fünfundzwanzig Gästen Platz bieten; bis auf Christiansen war er leer. Stahnke ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder, an dem der Buchhändler saß. »Guten Abend«, sagte er und nickte seinem Gegenüber zu. »Ich würde gerne mit Ihnen reden. Wäre das in Ordnung?«

»Natürlich. Natürlich.« Christiansen richtete seinen Oberkörper auf und strich sich die Haare aus der Stirn. »Möchten Sie etwas trinken? Ich lasse Ihnen gern etwas bringen. Wein vielleicht, oder ein Bier?«

»Vielen Dank, lieber nicht.« Der Hauptkommissar musterte das halbvolle Glas des Buchhändlers, der gleichzeitig Restaurantbesitzer und Vermieter war. »Wie viel hatten Sie denn schon? Ich meine, auf diesen Schock?«

»Ich? Das hier ist mein erstes Glas.« Der Buchhändler verschränkte seine Arme. »Wissen Sie, manchmal trinke ich ja ganz gerne, um den Geist zu beflügeln. Oder ihn zu beruhigen, das kommt auch vor. Aber jetzt … Alkohol verstärkt die Gefühle, nicht wahr. Und die, die ich momentan habe, die müssen wirklich nicht noch stärker werden. Darauf kann ich gut verzichten.«

Stahnke runzelte die Stirn. Was redet der für ein wirres Zeug, dachte er; klingt, als sei der doch schon blau. Andererseits artikuliert er sauber. Wie auch immer, wir werden sehen.

»Erzählen Sie doch mal«, begann er unverfänglich. »Wie haben Sie den Tatort vorgefunden? Und wie kam es überhaupt dazu, dass Sie die Mietwohnung betreten haben?«

»Freiwillig jedenfalls nicht«, sagte Christiansen. Er berichtete, wie er mit dem Fahrrad eingetroffen und von seinem Nachbarn abgefangen worden war, welche Vorwürfe Terveer erhoben hatte, dass die Haustür nur angelehnt gewesen war. Wie er nach seinem Mieter gesucht und gerufen und ihn schließlich tot vorgefunden hatte, an die Heizung gefesselt, in einem See aus Blut.

Erzählen kann er gut, dachte Stahnke. Das macht wohl der viele Umgang mit Büchern. Während Christiansen sprach, hatte sich der Hauptkommissar den Hergang der Ereignisse in plastischen Bildern vorstellen können, ja müssen, bis der kleine Film in seinem Kopf bruchlos in die Szene mündete, die er mit eigenen Augen gesehen hatte. Hatte sehen müssen.

»Haben Sie eine Idee, was genau da oben vorgefallen ist?« Stahnke wies mit einer Kopfbewegung zur Decke. »Wer Ihren Mieter umgebracht hat? Und warum?«

»Ich wollte, ich könnte«, sagte der Buchhändler. »Was man sich erklären kann, das kann einen nicht mehr so beherrschen, richtig? Aber für das da oben … nein, wirklich nicht.«

»Was wissen Sie denn überhaupt über Ihren Mieter, den Herrn Jaschinsky?«

»Er war Borussia-Dortmund-Fan.« Christiansen lachte auf, kurz und bitter. »Kriegte immer so ein Fan-Magazin, das steckte oft in meiner Post, und ich hab’s ihm auf die Treppe gelegt. Und jedes Mal, wenn Dortmund international gespielt hat, war da oben Remmi-Demmi. Die müssen wohl Sky abonniert haben oder einen anderen Sportkanal. Anschließend war meistens Fete, richtig laut, mit viel Hip-Hop und so. Mein Nachbar, der Herr Terveer, hat sich mehr als einmal deswegen beschwert.«

»So so, Borussia Dortmund.« Stahnke mochte Fußball durchaus, aber jede Form von Fan-Kultur war ihm fremd. Fan kam von Fanatismus, damit war für ihn alles gesagt. »Und was hat der junge Mann so, äh, gearbeitet? Ich meine, von irgendwas musste er doch die Miete bezahlen, oder?«

»Die Miete kam immer pünktlich.« Christiansen zuckte die Achseln. »Jaschinsky war Student an der Seefahrtschule, keine Ahnung, ob er Bafög bezogen hat oder Geld von seinen Eltern bekam. Am Hungertuch genagt hat er jedenfalls nicht. Er hat sich öfter mal Essen ins Haus bestellt, und so ein Motorrad kostet ja auch Geld.«

»Motorrad? Was für ein Motorrad?« Der Hauptkommissar konnte sich nicht erinnern, vor oder hinter dem Haus eins gesehen zu haben.

»So eine Rennmaschine. Das heißt, nicht wirklich zum Rennen fahren, also keine mit Vollverkleidung und so. Mehr so ein Café-Racer, aber mit einem gewaltigen Motor. Mit solch einem Ding ist man im Nu von null auf hundert, aber ab hundertsechzig kann man sich kaum noch darauf halten.«

»Verstehe.« Stahnke nickte. Interessant, wovon dieser Mensch so alles etwas versteht, dachte er. Ob er das wohl auch aus Büchern hat? Jedenfalls konnte er Christiansens Beschreibung eindeutig entnehmen, dass es sich nicht um eine Einzylinder-Enduro handelte. Wäre ja auch zu einfach gewesen: Jaschinsky schießt vom Motorrad aus auf Oliver Eickhoff, der holt sich Verstärkung und rächt sich blutig … Welchen Grund aber hätte Jaschinsky haben können, auf den kleinen Eickhoff zu schießen?

Der Hauptkommissar wusste selbst, dass er zu wilden Spekulationen neigte, und riss sich am Riemen. »Meine Kollegen würden dieses Motorrad gerne näher betrachten«, sagte er dennoch. »Wissen Sie, wo es abgestellt ist?«

Der Buchhändler nickte. »Jaschinsky hatte sich eine Garage zusätzlich gemietet, etwas außerhalb der Altstadt. Zusammen mit ein paar Gleichgesinnten. Wo genau, weiß ich aber nicht. Parkraum ist ja knapp hier.«

»Und was ist mit den anderen Mietern? Außer dem Toten haben wir keinen von denen oben vorgefunden, und die anderen Zimmer machten auch keinen bewohnten Eindruck.«

»Ich muss gestehen, dass ich in den letzten Wochen auch keinen Überblick hatte, wer da oben nun eigentlich wohnt oder nicht«, erwiderte Christiansen. »Ursprünglich bestand die WG ja mal aus vier Mitgliedern – drei junge Männer, eine Frau. Später kam noch eine zweite Frau dazu. Das fand ich etwas viel, ich meine, so viele Zimmer sind es ja nun auch nicht, und das riesige Wohnzimmer wollten natürlich alle gemeinsam nutzen. Aber es war ja ein Pärchen dabei, das sich ein Schlafzimmer teilte, und alle meinten, das sei schon okay. Also habe ich zugestimmt.«

»Seit wann wohnt die WG denn dort oben?«

»Ich müsste den Mietvertrag mal raussuchen … aber ich schätze, unterzeichnet haben wir den vor etwas mehr als einem Jahr. Fünfzehn Monate, über den Daumen.«

»Ja, den Vertrag hätte ich in der Tat gerne«, sagte Stahnke. »Allein schon wegen der Namen. Oder haben Sie die alle im Kopf?«

»Leider nein.« Christiansen schien verlegen zu sein. »Überhaupt habe ich mich wohl etwas zu wenig um die Zustände da oben gekümmert. Aber, wissen Sie, man hat ja doch allerhand um die Ohren, mit Laden und Lokal und den ewigen Reparaturen an diesem alten Haus. Und dann wollen wir demnächst eine Filiale aufmachen …«

»Verstehe. Andere Dinge waren wichtiger, solange die Miete pünktlich bezahlt wurde, richtig?«

»Richtig.« Christiansen griff nach seinem Weinglas und nahm einen kräftigen Schluck; seine Wangen hatten sich gerötet. »Möchten Sie wirklich nichts?«

»Na ja, vielleicht … haben Sie alkoholfreies Bier? Weizen?«

»Aber selbstverständlich.« Christiansen streckte den Arm aus und betätigte einen an der Wand befestigten Klingelknopf. »Unsere neueste Errungenschaft! Dieser Raum liegt ja etwas abseits, da wurden Gäste manchmal übersehen. Jetzt können sie sich ganz einfach bemerkbar machen.«

Die Serviererin, der Stahnke vorhin schon in den Arm gefallen war, erschien und nahm die Bestellung entgegen. Offenbar hatte sie inzwischen erfahren, wer er war, denn sie musterte ihn mit großen Augen. Zu fragen aber traute sie sich nicht.

»Die eine der beiden jungen Frauen ist schon vor einer Weile ausgezogen«, nahm der Buchhändler den Faden wieder auf. »Hatte sich wohl mit ihrem Freund verkracht. Die anderen vier WG-Mitglieder haben ihren Mietanteil mit übernommen, und dabei ist es dann geblieben, bis heute. Ich bin mir zwar sicher, dass zwischenzeitlich noch die eine oder andere Person dort oben genächtigt hat, ich meine, auch für einen längeren Zeitraum. Aber das wurde nie offiziell gemacht.«

»Und wann begann denn nun der große Exodus da oben?«

»Kurz nach den Sommerferien«, sagte Christiansen und lächelte. »Ich orientiere mich immer noch an den Schulferienzeiten. Wissen Sie, meine Frau unterrichtet ein paar Stunden an einer Grundschule, so zur Sicherheit, denn ein Buchladen ist heutzutage ja schon so etwas wie eine bedrohte Art, nicht wahr? Von wegen E-Books und Onlinehandel und so.«

»Klar.« Stahnke nickte. »Aber Sie planen trotzdem, eine neue Filiale aufzumachen. Ist das denn unternehmerisch klug gedacht?«

Christiansen breitete seine Arme aus, und Stahnke stellte fest, dass der Mann eine beachtliche Spannweite hatte. »Ist es, denke ich«, sagte der Buchhändler und nickte sich selber Mut zu. »Weil ich finde, dass wir ein sehr gutes Konzept haben. Buchladen mit Krimi-Schwerpunkt, im Restaurant und Café alles auf Krimi abgestellt, dazu viele Events, die Literatur und Genuss zusammenbringen – das kommt an, bei den Touristen wie beim Stammpublikum. Und weil man das in einer kleinen Stadt wie Leer nur einmal machen kann, müssen wir einfach expandieren! Wenn wir das nicht tun, kommt jemand anderes, klaut uns unsere Idee und macht es selbst.«

Der Hauptkommissar musterte sein Gegenüber: Ziemlich dick, nicht mehr jung, mit dem Habitus eines ergrauten Achtundsechzigers – konnte das ein innovativer Erfolgsunternehmer sein? Aber wie auch immer, seine Sorge war das ja nicht.

Das alkoholfreie Weizen wurde serviert, und Stahnke trank mit plötzlich erwachtem Durst. Schmeckte richtig gut, fand er; den Alkohol vermisste man überhaupt nicht. Irgendeiner seiner Kollegen schwor doch auf diese Sorte – wer war das noch? Richtig, der kleine Nidal, genauer gesagt Oberkommissar Ekinci. Apropos …

»War Frederik Jaschinsky eigentlich schon zum Islam konvertiert, als er hier eingezogen ist?«, fragte der Hauptkommissar. »Oder kam das erst später?«

»Jaschinsky soll Moslem gewesen sein?« Christiansen machte große Augen. »Nicht, dass ich wüsste. Und wenn, dann kein hundertprozentiger. Bei seinen Fußball-Partys wurde jedenfalls immer reichlich Alkohol getrunken. Vielmehr gesoffen. Jaschinsky immer vorneweg.«

Stahnke nickte. Er wusste zwar, dass es unter Moslems umstritten war, ob nun jedweder Alkohol vom Koran verboten wurde oder nur dessen übermäßiger Genuss, aber in diesem letzten Punkt waren sich doch alle einig. Betrinken durfte sich ein gläubiger Moslem nicht, und es schien festzustehen, dass Jaschinsky genau das regelmäßig getan hatte. Galten nicht Konvertiten als besonders streng in der Befolgung religiöser Regeln? Logisch. Es ergab ja auch keinen Sinn, sich einen neuen Glauben zuzulegen, nur um dessen Gebote gleich mal zu ignorieren.

Aber zurück zum Naheliegenden, rief sich der Hauptkommissar zur Ordnung. »Den Mietvertrag bewahren Sie doch sicher in Ihrem Büro auf. Könnten Sie mir den vielleicht gleich mal holen? Oder eine Kopie?«

»Leider nein. Vermietungsangelegenheiten habe ich gesondert abgelegt, und zwar bei mir zu Hause. Dort habe ich noch ein zweites Büro.« Er lächelte entschuldigend: »Schon aus steuerlichen Gründen. Aber wenn Sie darauf bestehen, fahre ich gleich mal rüber und hole den Vertrag.«

Stahnke zögerte kurz, dann nickte er. »Am besten bringen Sie ihn gleich in die Georgstraße, ja? Geben Sie ihn einfach unten an der Wache ab.« Wenn sie fertig waren, gab es auf jeden Fall noch eine Besprechung, wie er Manninga kannte. Der Erste Kriminaldirektor hatte die Leitung der Ermittlung persönlich übernommen, und Stahnke wusste noch nicht einmal, wen er alles in die Mordkommission berufen hatte. Nur, dass Kramer und er dabei waren, und darauf kam es ihm an.

Christiansen leerte sein Weinglas und erhob sich. »Eine ganz neue Erfahrung für mich«, bemerkte er. »Sonst lese ich ja bloß über Kriminalfälle und verkaufe Bücher, die davon handeln. Manchmal schreibe ich auch selber ein bisschen darüber. Aber dass ich jetzt selbst mitten in einem Fall drinstecke – wer hätte das gedacht!«

»Tja, wer hätte das gedacht«, echote Stahnke und bemühte sich, sein Desinteresse an Kriminalliteratur nicht allzu deutlich durchschimmern zu lassen. »Genau genommen ja in zwei Fällen, nicht wahr? Erst der Schuss auf Oliver Eickhoff und jetzt dieser Mord.«

»Zwei Fälle?« Der Buchhändler stand schon an der Schiebetür. »Sie glauben nicht, dass beides miteinander zu tun hat?« Er verharrte kurz; als aber eine Antwort ausblieb, hob er grüßend die Hand und verließ den Raum.

Der ist gut, dachte Stahnke. Als ob das so klar wäre! Nur wegen der räumlichen Nähe, und weil die beiden Opfer sich angeblich kannten …

Zugegeben, das war nicht von der Hand zu weisen.

Das Lokal hatte sich in der Zwischenzeit deutlich geleert, ein Teil der Gäste aber hielt nach wie vor die Stellung, obwohl die Öffnungszeit längst überschritten war. Worauf die wohl warteten?

Draußen auf der dunklen Terrasse saß nur noch eine einzige Person, eingehüllt in einen olivgrünen Parka, und rauchte. Erst auf den zweiten Blick erkannte Stahnke, dass es die Buchhändlerin war. »Na, ist es nicht schon zu kalt zum Draußensitzen?«, fragte er und kam sich dabei reichlich onkelhaft vor.

»Ach was.« Die junge Frau rauchte hingebungsvoll und fixierte ihn wieder mit ihren weit geöffneten Augen. »Außerdem ist es hier draußen gerade viel spannender als drinnen.« Sie zeigte auf die Gasse, die am Vorderhaus vorbei zur Rathausstraße führte und die sie von ihrem Platz aus gut überblicken konnte.

Stahnke trat näher heran. Die Gasse, von der auch die Tür zur Tatort-Wohnung abging, war nur schwach beleuchtet, aber vorne auf der Straße leuchteten grelle Scheinwerfer. Kameras wurden in Stellung gebracht, Blitzlicht-Salven flackerten, Stimmengewirr brandete auf. Ach, die Presse! Auf die hatte er schon länger gewartet. Wer sie wohl informiert hatte? Bestimmt einer der Gäste im Restaurant.

Mehrere Beamte hinderten die Kamerateams am Vordringen; die schmale Gasse kam ihnen dabei zugute. Stahnke erkannte Rieken und van Dieken, die sich der Meute entgegenstemmten. Na, endlich hatten die beiden etwas Sinnvolles zu tun!

»Mal gucken, wie lange es dauert, bis die Leute unseren Hintereingang entdeckt haben«, sagte die Buchhändlerin lakonisch.

Der Hauptkommissar drehte sich um. Na klar, hinten ging es ja auf den Rathausparkplatz hinaus! Zwar gab es dort ein kunstvoll geschmiedetes zweiflügeliges Eisentor, aber das stand offen. Hier würde ein Eindringen weit schwerer zu verhindern sein. »Sie sind doch hier zuständig, quasi«, wandte er sich an die junge Frau. »Wollen Sie das Tor nicht verschließen?«

»Och, warum? Ich lese gerne Zeitung. Und Fernsehnachrichten gucke ich auch.« Sie blickte Stahnke herausfordernd an. Im nächsten Moment löste ein Lächeln ihre provokante Miene auf. »Nee, im Ernst, für dieses Tor habe ich gar keinen Schlüssel. Und solange wir im Restaurant noch Gäste haben, können wir hinten eigentlich gar nicht zumachen.«

Ein kleines Dilemma, in der Tat. Stahnke wippte auf den Fußballen. Die Regionalpresse wusste doch bestimmt, wie man von hinten auf dieses Gelände kam, und die wollte er hier ebenso wenig haben wie die von auswärts.

Schwere Tritte näherten sich von vorne, im Laufschritt. Mehrere junge Polizisten in vollem Ornat stürmten an ihnen vorbei und begannen den Hintereingang zu sichern. Einer schien Stahnke erkannt zu haben und grüßte ihn im Vorbeilaufen mit einem schüchternen Lächeln. Okay, die Sache wäre also geklärt, dachte Stahnke. Offenbar hatte Manninga Verstärkung geschickt. Oder war inzwischen selber vor Ort. Also sollte Stahnke sich mal wieder oben blicken lassen.

Die Buchhändlerin rauchte schon wieder. Sie betrachtete das Geschehen unbeteiligt; hin und wieder huschte ein amüsierter Ausdruck über ihr Gesicht.

»Kannten Sie den Toten eigentlich?«, fragte Stahnke.

»Fred? Ja, natürlich. Er hat ja hier gewohnt, und ich arbeite hier.« Wieder dieser große, alles einsaugende Blick, diesmal unter angehobenen Augenbrauen.

»Fred also.« Stahnke nickte. »Und? Geht Ihnen seine Ermordung denn nicht nahe?«

»Mir?« Ein tiefer Zug. »Nein. Gar nicht.« Sie stieß eine lange Rauchwolke aus. »Er war ein Arschloch.«

Stahnke wartete, aber mehr kam nicht von ihr. Nur dieser große, saugende Blick.

Der Hauptkommissar räusperte sich. »Würden Sie mir darüber vielleicht etwas mehr erzählen? Morgen vielleicht?«

Sie nickte leichthin. »Natürlich. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«

Stahnke nickte und eilte davon. Ihm war plötzlich kalt.

Ostfriesische Verhältnisse

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