Читать книгу Ostfriesische Verhältnisse - Peter Gerdes - Страница 15
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ОглавлениеAm nächsten Morgen riss ihn der Wecker zur üblichen Zeit aus dem Schlaf. Nur die Schlafenszeit davor, die war unüblich kurz gewesen, und selbst die wenigen Stunden hatte Stahnke sich nur gegönnt, weil Manninga ihn buchstäblich dazu verdonnert hatte. Der alte Mann konnte immer noch ganz schön laut werden.
Gleich nach der Kaffeemaschine warf der Hauptkommissar seinen PC an, dann fingerte er die Zeitung aus dem Kasten und fand seine Sorge bestätigt: Die Journaille hatte noch rechtzeitig vor Andruck von dem Mord in der Rathausstraße Wind bekommen. Zwar hatte es nur zu einem flachen Mehrspalter oben auf Seite eins gereicht, aber dafür war der Anschlag auf Oliver Eickhoff gründlich ausgebreitet worden, so dass die Zeitung den Eindruck vermittelte, Leer sei derzeit das Zentrum des Verbrechens. Die aktuell zweistelligen Todesopferzahlen des Drogenkrieges in Mexiko waren auf Seite zwei verdrängt worden.
Das war aber noch gar nichts gegen das, was Stahnke im Internet fand. Er fluchte herzhaft in seinen Kaffeebecher. Sowohl die heimische Regionalzeitung als auch BILD und andere Blätter hatten in ihren Online-Ausgaben kräftig nachgelegt. Und es gab Fotos! Zum Henker, wer hatte denn da geknipst, abgesehen von den Polizeifotografen?
Wenigstens gab es keine Aufnahmen vom eigentlichen Tatort, vor allem nicht von der Leiche. Bloß Bilder vom Tatort Taraxacum, von der Seitengasse mit dem Wohnungseingang und von geschäftig aussehenden Kollegen, deren Gesichter immerhin verpixelt waren. Stahnke schnappte nach Luft, als er auf Innenaufnahmen aus der WG-Wohnung stieß, stellte aber schnell fest, dass es sich um ältere Bilder handeln musste. Wo hatten die Presseleute die wohl her?
Er musste an die Gäste denken, die gestern Abend das Lokal unter der Tatort-Wohnung belagert hatten. Von denen hatte bestimmt jeder ein Fotohandy in der Tasche gehabt. Und bestimmt war der eine oder andere bereit gewesen, für Geld seine Großmutter zu verkaufen. Und wenn es nicht die eigene war, dann umso lieber. Womit die Außenaufnahmen, nicht aber die alten Fotos aus der Wohnung zu erklären waren.
Er schlürfte von seinem Kaffee. Neue Sorte; sie schmeckte ihm nicht.
Stahnke musste nicht auf die Uhr gucken, um zu wissen, dass er es eilig hatte. Trotzdem blätterte er die Zeitung durch; alte Gewohnheit, obwohl das Ding auch immer schlechter wurde. Im krampfhaften Bemühen, jüngere Leser zu gewinnen, um das Sinken der Abonnentenzahlen zu bremsen, warf man alte journalistische Tugenden über Bord, setzte immer mehr auf Boulevard und wurde sprachlich stetig schlampiger. Ein Vergnügen war das kaum noch, dachte der Hauptkommissar und blätterte sich zu den Familienanzeigen durch.
Das Foto eines Schiffs mit grünem Rumpf ließ ihn innehalten. Richtig, die Emssturm war ja unterwegs, wurde derzeit in Richtung Mittelmeer geschleppt, ihrer letzten Bestimmung entgegen. Das Zeitungsfoto zeigte das ehemalige Fischereiforschungsschiff hinter einem Hochseeschlepper, anscheinend auf der Ems. Dort konnte doch nicht solch ein Seegang herrschen, dass das Schiff derart viel Schlagseite hatte! Langes Liegen war Gift für jedes Wasserfahrzeug, und die Emssturm hatte sehr lange zu Ausbildungszwecken im zugeschlickten Leeraner Hafen gelegen. Kein Wunder, dass sie nicht mehr aus eigener Kraft fahren konnte, sondern geschleppt werden musste. Aber diese Schlagseite …
Sein Handy klingelte. Stahnke stöhnte und griff nach dem Gerät. Konnten die Kollegen in der Inspektion nicht wenigstens warten, bis er geduscht hatte?
»Ja!«
»Hey, mein Lieber, was ist denn das für ein Ton? Bist du so im Stress?«
Es war Sina. An die hatte er überhaupt nicht … Wann hatte er zuletzt an sie gedacht? Gestern, im Buchladen, als er mit dieser Buchhändlerin sprach, dieser geheimnisvollen Kühlen mit der Sahnehaut.
»Hallo? Hast du die Sprache verloren?«
»Ach was, nee … Hallo, mein Schatz. Du hast recht, ich hab wirklich Stress im Moment.« Gewöhnlich wirkten ein paar Worte mit Sina gerade in solchen Momenten wie eine kühlende Hand auf heißer Stirn. Jetzt aber, stellte er mit Erstaunen fest, hätte er sie am liebsten weggedrückt.
»Kann ich mir denken. Ich gucke nämlich gerade RTL. Sieht so aus, als hätten die eine Kamera direkt vor dem Haus postiert, wo dein aktueller Mord passiert ist. Bist du dort gerade drin?«
»Nee, ich bin noch zu Hause«, entfuhr es ihm. »Wieso Kamera vor dem Haus – sag bloß, die übertragen live! Was denn, in Gottes Namen?«
»Ein Reporter befragt Passanten, hat aber Mühe, überhaupt welche zu finden um diese Zeit.« Sina lachte. »Ziemlich sinnfrei, das Ganze. Neue Informationen hat er offenbar nicht. Aber woher auch, wenn die Polizei noch ganz gemütlich beim Frühstück sitzt.«
»Was heißt hier gemütlich und Frühstück! Weißt du eigentlich, wie spät es letzte Nacht geworden ist?« Ja, sagte er sich, das weiß sie, das hat sie ja alles bei früheren Gelegenheiten schon mitgekriegt. Aber seine Worte strömten parallel weiter. »Hör mal, einen einzigen Becher Kaffee habe ich mir gegönnt! Nennst du das ein gemütliches Frühstück? Und den habe ich nicht einmal genießen können, weil ich ja selbst hier keine Ruhe …« Jetzt endlich schaffte er es, sich zu unterbrechen. Sein Körper fühlte sich todmüde an und sein Verstand träge, aber seine Nerven waren eindeutig am schlimmsten dran.
»Dann sollte ich dich wohl besser in Ruhe lassen«, hörte er Sina sagen. »Dachte ja nur, du könntest eine kurze Aufmunterung vertragen. Aber belasten will ich dich natürlich nicht.«
Stahnke atmete tief ein. Wenn Sina sarkastisch wurde, war Vorsicht geboten. Aber war das jetzt Sarkasmus gewesen – oder schon wieder Ernst?
»Wenn es dir mal in den Plan passt, kannst du mich ja anrufen, okay? Sprich mir einfach auf die Mailbox. Mach’s gut.«
Verflucht, dachte Stahnke, jetzt aber fix die fällige Entschuldigung! Aber ihm wollten die Worte dazu nicht einfallen. Und dann war die Leitung auch schon tot.
Die Uhrzeiger rückten gnadenlos vor, trotzdem hätte Stahnke umgehend bei Sina zurückgerufen, wenn sich sein Handy nicht gleich wieder gemeldet hätte. »Was?«, schnauzte er hinein. Er hoffte direkt, dass sein Vorgesetzter dran war.
Es war aber Kramer. »Gestern am frühen Abend ist schon wieder geschossen worden«, teilte er mit. »Hab’s gerade erst erfahren. Eigentlich mehr durch Zufall.«
»Zufall?« Stahnke kippte seinen Kaffeerest in die Spüle, stellte den Becher weg und machte sich auf den Weg ins Bad. »Wieso Zufall? Seit wann sind wir vom 1. Kommissariat nicht mehr die erste Zuständigkeit für Schießereien?«
»Sind wir, selbstverständlich, sofern auf Menschen geschossen wird. Dieser Schuss aber galt einem Hund.«
Ach herrjeh! Stahnke versuchte, die Dusche aufzudrehen, ohne sich den Ärmel seines Bademantels nasszumachen. »Ein Jagdunfall? Oder womöglich irgendwelche Bratzen mit einem Luftgewehr? Dann würde ich ja in der Tat vorschlagen …«
»Nein, die Tatwaffe war eine Pistole, Kaliber 22.«
Der Hauptkommissar pfiff durch die Zähne. »Kaliber 22? Also 5,6 Millimeter, wenn ich mich nicht irre. Das klingt nicht nach viel, ist aber nicht ohne. Mit so etwas herumzuballern, ist absolut kein Spaß.«
»Der getroffene Hund gehört Oliver Eickhoff«, ergänzte Kramer lakonisch.
Stahnke hätte fast das Telefon fallen lassen. »Was? Und jetzt sag bloß noch … Wurden die Geschosse schon untersucht? Und verglichen?«
»Ja, wurden sie«, erwiderte Kramer. »Und nein, sie sind absolut unterschiedlich. Das Geschoss, das aus dem Hintern von Eickhoff junior operiert wurde, hat Kaliber 7,65. Beide Waffen konnten bisher noch nicht identifiziert werden.«
»Ich bin sofort da«, sagte Stahnke und beendete das Gespräch. Das Duschen würde heute schnell gehen müssen. Die Sache mit Oliver Eickhoff drohte ihm auf die Füße zu fallen, so groß, wie das öffentliche Interesse daran jetzt schon war und erst noch werden würde. Und inwiefern es einen Zusammenhang mit dem Mord an Frederik Jaschinsky gab, musste so schnell wie möglich geklärt werden.
Schuss auf Eickhoff junior, Schuss auf Eickhoffs Hund, Mord an Jaschinsky – wenn das die zeitliche Reihenfolge gewesen wäre, hätte Stahnke angesichts der Bekanntschaft der beiden jungen Männer sofort auf eine Rache-Eskalation getippt und das Alibi des Kaufhaus-Knaben für die Mordnacht überprüfen lassen. Aber das erübrigte sich, denn die Abfolge war ja Eickhoff – Jaschinsky – Eickhoffs Hund, und während des Mordes in der WG-Wohnung lag Oliver Eickhoff bäuchlings im Krankenhaus, kaum dazu in der Lage, einen Muskelmann stundenlang zu foltern und dann zu töten.
Natürlich konnte der kleine Eickhoff auch jemanden für die Drecksarbeit engagiert haben, statt sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Ebenso wie auch Jaschinsky. All das bewies dem Hauptkommissar nur erneut, dass solche Spekulationen zwecklos waren.
Beim Abtrocknen fiel ihm Sina wieder ein. Verdammt, die musste warten. Außerdem würde sie jetzt sowieso nicht mehr ans Telefon gehen.