Читать книгу Sand und Asche - Peter Gerdes - Страница 10
5.
Оглавление»Sie heißt Angela Adelmund«, sagte Doktor Fredermann.
»Eine Patientin von Ihnen?«, fragte Lüppo Buss.
»Wie man’s nimmt.« Der Inselarzt musterte den Körper der Toten ohne erkennbare Gemütsbewegung. »Früher ja, als sie noch klein war. Ist hier auf Langeoog aufgewachsen, da kam sie natürlich mit den üblichen Routinesachen zu mir. Oder vielmehr ihre Mutter kam mit ihr. So bis vor ein paar Jahren, etwa bis zum Einsetzen der Pubertät. Ab da kam sie nicht mehr.« Behutsam berührte er eine der zahlreichen wulstigen Narben am Oberarm der Toten. »So habe ich den Beginn der Anorexie nicht mehr mitbekommen.«
»Magersucht?«, fragte Lüppo Buss, ohne mit einer Antwort zu rechnen. Es war offenkundig.
Sie hatten die Tote in die kleine Leichenhalle neben der Inselkirche schaffen lassen. Mit der nächsten Fähre sollte sie nach Bensersiel und weiter nach Oldenburg gebracht werden, in die Gerichtsmedizin; Doktor Mergner hielt sich dort für eine Obduktion bereit. Die weiteren Ermittlungen auf Langeoog würde Hauptkommissar de Beer aus Wittmund übernehmen. Er hatte mit Lüppo Buss telefoniert und sich ins Bild setzen lassen, aber noch keinen konkreten Zeitpunkt für seine Ankunft genannt: »Wir haben hier auch eine Menge um die Ohren. Sichern Sie mal den Tatort ab, lassen Fotos machen und so weiter, leiten Sie alles Nötige in die Wege, Sie kennen sich doch aus, sind kein heuriger Hase mehr, was?« Und tschüss.
Faule Sau, dachte der Inselkommissar, aber ein bisschen geschmeichelt fühlte er sich auch. Damals, vor gut anderthalb Jahren, als erst dieser Mann ohne Gedächtnis auf der Insel herumgegeistert und dann eins der Mädchen aus dem Leeraner Schülerchor spurlos verschwunden war, hatte ihm de Beer noch überhaupt nichts zugetraut, hatte ihn wie einen Deppen behandelt und ihm die Ermittlungsarbeit so schnell wie möglich aus der Hand nehmen wollen. Als er dann auf der Insel eintraf, konnte Lüppo Buss ihm sämtliche Fälle als abgeschlossen melden. De Beers Gesichtsausdruck seinerzeit war ein Fest gewesen, das für die vorher erlittene Geringschätzung entschädigte. Seither sah de Beer ihn mit anderen Augen. Und, was vielleicht noch schöner war: Er hielt sich meistens auf Distanz.
Sicher, damals war Stahnke an Lüppo Buss’ Seite gewesen. Der Hauptkommissar aus Leer hatte natürlich wesentlichen Anteil an der Auflösung gehabt. Aber er hatte Lüppo Buss immer als Gleichberechtigten in die Arbeit mit einbezogen. Sie waren kein schlechtes Team gewesen, der Kriminalbeamte mit der einschlägigen Erfahrung und der Inselpolizist mit seiner Kenntnis von Eiland und Leuten.
Schade, dass er jetzt nicht hier ist, dachte der Oberkommissar. Aber er wischte den Gedanken gleich wieder fort. Immerhin hatte er damals einiges gelernt, das konnte er jetzt zur Anwendung bringen. Und so allein wie damals – ehe Stahnke überraschend auftauchte – war er diesmal nicht.
»Äußere Verletzungen, die zum Tode hätten führen können, kann ich vorläufig keine erkennen«, sagte Fredermann. »Die vernarbten Schnittverletzungen sind allesamt nicht letal und außerdem schon älter.«
»Was meinen Sie, Doktor, hat sie sich buchstäblich zu Tode gehungert?«, fragte Oberkommissarin Insa Ukena.
Lüppo Buss musterte seine neue Kollegin aus den Augenwinkeln. Sie war deutlich kleiner als er, mit kräftigen Schultern und Oberarmen und einer dunkelbraunen Kurzhaarfrisur. Nicht sein Typ, das hatte er auf den ersten Blick festgestellt – Gott sei Dank. Dafür tüchtig, viel zu tüchtig eigentlich, um mit Anfang vierzig immer noch in beigeordneter Position tätig zu sein. Das Zeug zur Leiterin hatte sie, das konnte Lüppo Buss nach den wenigen Tagen, die Insa Ukena den Posten an seiner Seite innehatte, bereits sagen.
Nicht, dass er das etwa schon getan hätte; der Inselpolizist neigte nicht zu übereilten Äußerungen.
»Durchaus möglich«, beantwortete Fredermann Insa Ukenas Frage. »Zehn Prozent aller Magersüchtigen sterben an dieser Krankheit, das heißt, sie verhungern tatsächlich. Teilweise zieht sich das über viele Jahre hin. Ob das aber auch auf Angela Adelmund zutrifft, muss erst die Obduktion erweisen.«
»Kaum zu glauben. Verhungern im Land des Nahrungsüberflusses«, murmelte Lüppo Buss. »Und dann finden wir sie in einem Container voller Essensreste. Was mir übrigens nicht gerade für eine natürliche Todesursache zu sprechen scheint.«
»Das habe ich auch nicht gesagt«, erwiderte Insa Ukena scharf. »Man kann einen Menschen auch verhungern lassen. Einsperren, misshandeln, missbrauchen, quälen bis zum Exitus. Und dann einfach wegwerfen. Da gibt es reichlich Präzedenzfälle, das werden Sie ja wohl wissen. Nicht nur in Belgien oder Österreich.«
Die hat Haare auf den Zähnen, dachte Lüppo Buss und schwieg.
»Die Schnittverletzungen scheinen mir außerdem nicht alle bereits lange zurückzuliegen«, fuhr die Oberkommissarin fort. »Schauen Sie hier, an der Innenseite des rechten Oberschenkels. Die sind gerade mal verschorft.« Sie sprach Fredermann direkt an, ignorierte ihren Kollegen; auch das registrierte Lüppo Buss kommentarlos.
Der Arzt nickte. Er untersuchte die Hände der Toten. »Rechtshänderin, unter Vorbehalt«, sagte er. »Lage und Laufrichtung der Narben, der alten wie der frischeren, lassen Selbstverletzung vermuten.«
»Vermuten«, schnaubte die Polizistin. »Das heißt noch gar nichts.«
»Natürlich äußere ich hier Vermutungen«, entgegnete Fredermann scharf. »Ich sag’s ja auch extra dazu. Dachte, es hilft Ihnen weiter, wenn ich Ihnen schon mal meine Meinung sage. Ich kann’s auch lassen. Dann können Sie auf den offiziellen Bericht von Doktor Mergner aus Oldenburg warten.« Er stemmte beide Hände in die Hüften.
Lüppo Buss legte ihm beruhigend seine Hand auf den Ellenbogen. »Schon klar«, sagte er sanft. »Aber wieso Selbstverletzung? Warum sollte sich so ein armes Mädchen, das körperlich sowieso schon übel dran ist, auch noch selber Schaden zufügen? Von den Schmerzen ganz zu schweigen.«
Fredermann warf noch einen bösen Blick zu Insa Ukena hinüber, dann wandte er sich Lüppo Buss zu. Dasselbe Spielchen, nur anders herum, dachte der. Albern. Aber so geht’s nun mal zu, wenn der Gruppendynamo surrt.
»Diese ganze Magersucht ist doch eigentlich der Krieg eines Menschen gegen sich selbst«, erläuterte der Arzt. »Und der Körper ist dabei das Schlachtfeld. Die Ursachen liegen in der Psyche, grob gesagt. Sie können ganz verschieden sein. Der Körper jedenfalls muss alles ausbaden. Er wird durch Essensentzug für vermeintliche Unzulänglichkeiten bestraft. Und wenn das mal nicht klappt, also diese Art der Bestrafung, dann wird eben zu anderen Mitteln gegriffen. Zum Beispiel zum Messer.«
»Wie, wenn das nicht klappt?« Lüppo Buss hatte zwar eine Vermutung, wollte aber sichergehen. »Warum sollte das Aushungern denn plötzlich nicht mehr klappen?«
»Weil zum Beispiel eine Instanz vorhanden ist, die dafür sorgt, dass das lebensnotwendige Minimum an Nahrung aufgenommen wird«, antwortete Fredermann. »Dann staut sich der Selbsthass an wie ein plötzlich zugeschütteter Fluss, und der Druck muss sich anderweitig entladen. So etwas passiert durchaus nicht selten …« Er schaute Lüppo Buss in die Augen. »Da sieht man mal wieder, wie wichtig gute Fragen sind. Ihre zum Beispiel führt uns mit einiger Sicherheit zu dem Ort, wo sich Angela Adelmund zuletzt aufgehalten hat.«
»Das wäre doch schon mal etwas«, sagte Lüppo Buss mit der gebotenen Bescheidenheit. »Weil sie doch ansonsten keinerlei Hinweise bei sich hat. Und, was glauben Sie, wo hat sie gewohnt?«
»Im Panoptikum der Arschlosen«, sagte Fredermann.