Читать книгу Sand und Asche - Peter Gerdes - Страница 8
3.
ОглавлениеSonnenschein, eine leichte Brise, gedämpftes Brandungsrauschen, Möwengeschrei, lebhaft plappernde Menschen um ihn herum, ein bunter Strandkorb direkt vor seiner Nase – und das, obwohl er sich nicht etwa am Strand befand, sondern mitten im Ortszentrum: Lüppo Buss war mit seiner Entscheidung, Polizist auf der Insel Langeoog zu werden und zu bleiben, wieder einmal vollkommen zufrieden. Um nicht zu sagen glücklich. Ja, doch. Seit er vor einigen Wochen aus dem Dienstgebäude an der Kaapdüne aus- und zusammen mit Nicole in die schöne Etagenwohnung am Hasenpad eingezogen war, konnte er sich mit diesem Begriff, den er eigentlich hoffnungslos kitschig fand, durchaus anfreunden.
Außerdem, was hieß schon kitschig. Waren das Strandkörbe mitten in der Fußgängerzone etwa nicht?
Andererseits, was hieß auf Langeoog schon Fußgängerzone. Die war hier genau genommen überall, denn Autos waren streng verboten. Nicht einmal Busse oder Taxis gab es, stattdessen Fahrräder, Elektrokarren und Pferdefuhrwerke. Na gut, für die Erhaltungsarbeiten an der sturmflutgefährdeten Seeseite gab es ein paar Traktoren und andere Motorfahrzeuge, und für Notfälle stand auch ein motorisierter Krankenwagen bereit. Ansonsten aber herrschte Autofreiheit – Freiheit nicht etwa für das Auto, sondern Freiheit davon. Was für die Menschen hier ein Stück wirklicher Freiheit war. Davon war Lüppo Buss überzeugt.
Dabei hatte er heute überhaupt nicht frei. Sondern Dienst. Ob sich die Kollegen auf dem Festland während ihrer Dienstzeit auch so fühlten? Lüppo Buss verschränkte seine Hände hinter dem Rücken, reckte die muskulösen Schultern und grinste. Sein Mittagessen in der Kupferpfanne zählte er natürlich zu seinen dienstlichen Obliegenheiten. Kontaktpflege war wichtig, wer wollte das bestreiten? Tja, in der Tat, wer? Hier war er sein eigener Chef.
Und die Matjesfilets mit Bratkartoffeln waren wieder einmal hervorragend gewesen.
Allzu lange war es nicht her, da hatte Lüppo Buss die Dinge noch etwas anders gesehen. Hatte sich hier auf Langeoog wie auf dem Abstellgleis gefühlt, abgenabelt von wirklich interessanten Fällen und verantwortungsvollen Aufgaben, gegängelt von arroganten Vorgesetzten, die glaubten, vom Festland aus die Dinge besser beurteilen zu können als er. Er war drauf und dran gewesen, das Inseldasein aufzugeben und sich anderswo hin zu bewerben, »nach Deutschland«, wie die Insulaner sagten. Zur richtigen Polizei, wie er es im Stillen nannte.
Ein Glück, dass es dazu nicht gekommen war.
Bester Laune spazierte der Oberkommissar die Barkhausenstraße entlang, Dienstmützenbezug und Uniformhemd faltenfrei, Mützenschirm und Sonnenbrille blitzblank poliert, die Hose messerscharf gebügelt, die schwarzen Schuhe glänzend. Hier zwischen Wasserturm und Haus der Insel brodelte, gerade jetzt zu Beginn der Hochsaison und kurz nach der Mittagessenszeit, das Leben – jedenfalls in einer insular gedämpften Form von brodeln. Von rechts und links grüßten ihn die Leute, teils weil sie ihn kannten, teils, weil sie in ihm eine ebenso inseltypische Erscheinung sahen wie in den innerorts aufgestellten Strandkörben.
Inselpolizist Lüppo Buss, ein skurriles Stückchen Touristenkitsch?
Er räusperte sich und prüfte den korrekten Sitz seiner Mütze mit der Handkante. Nein, das war er nun doch nicht. Sondern ein gewichtiges Stück staatlicher Autorität. Das sollte mal besser keiner vergessen. Auch er selber nicht.
»Mensch, Lüppo, gut, dass ich dich sehe.« Eine pfannengroße Hand landete krachend auf seiner gestärkten Hemdschulter. Der Oberkommissar zuckte leicht zusammen. Stimmlage und Schlagstärke erlaubten keinen Zweifel daran, wer da gerade seinen staatsautoritären Patrouillengang in der Mittagssonne so respektlos unterbrach. Zumal sich ihm der Betreffende kurzerhand mitten in den Weg gestellt hatte.
Seufzend nahm er die dunkle Brille ab. Jetzt, da dieser Trumm zwischen ihm und der Sonne stand, benötigte er sie sowieso nicht mehr.
»Moin, Backe. Was gibt’s?«
Der fleischige Riese verzog seinen Mund zu einem breiten Grinsen und entblößte ein gelbliches, sehr lückenhaftes Gebiss. Ein erschütternder Anblick, der jedoch durch den Ausdruck ehrlicher Freundlichkeit auf dem braunen, wettergegerbten Gesicht gemildert wurde.
»Müll«, sagte der Riese.
»Müll.« Lüppo Buss verzog das Gesicht, als läge der Unrat leibhaftig vor ihm. Gab es ein Thema, das weniger zur sonnenwarmen Sommerstimmung auf der Langeooger Flaniermeile passte als dieses? Und zu den Gedanken, in denen der Inselpolizist eben noch geschwelgt hatte?
Lüppo Buss musterte sein Gegenüber, als handele es sich um einen überquellenden Müllbehälter. Natürlich war es nicht korrekt, solche Vergleiche zu ziehen, trotz der Trümmer in Backes Mund, seiner containerhaften Ausmaße und der fleckigen, kaum noch als weiß anzusprechenden Schürze, die er sich um die massive Leibesmitte geknotet hatte. In seinem übergroßen Fischerhemd sah Beene Pottebakker, genannt Backe, wie ein eingeborener Insulaner aus, noch weitaus mehr Kitsch-Klischee als Lüppo Buss und sämtliche Strandkörbe zusammen. Tatsächlich aber war Backe ein Zugereister und arbeitete erst seit wenigen Monaten auf Langeoog. Lüppo Buss erinnerte sich noch gut an seine beiläufige Routineüberprüfung Beene Pottebakkers, nach der ihm die Haare zu Berge gestanden hatten. Mittlere und schwere Körperverletzung, Rauschmittel- und Eigentumsdelikte in großer Zahl und bunter Folge fanden sich in Backes Akte; ein Wunder, dass dieser Riese immer mal wieder aus dem Strafvollzug entlassen worden war. Aktuell allerdings war kein Strafverfahren anhängig. Kein Grund also, einzuschreiten – Gründe genug aber, diesen Mann im Auge zu behalten.
Was momentan weiter kein Problem war.
»Ja, Müll.« Backe nickte eifrig, als sei er froh, verstanden worden zu sein. »Unser Container. Da hat sich schon wieder einer dran zu schaffen gemacht. Drum herum ist alles siffig, trotzdem ist der Kübel voll. Da entsorgt doch jemand seinen Dreck illegal. Auf unsere Kosten. Sauerei, nicht?«
Der Inselpolizist nickte bedächtig. Auf Langeoog gab es keine Mülldeponie – und natürlich auch keine Verbrennungsanlage. Der Tourismus war die Haupteinnahmequelle, mit weitem Abstand; da musste man mit Wasser, Luft und Landschaft natürlich vorsichtig umgehen. Ebenso wie praktisch alles, was auf der Insel konsumiert wurde, mit Schiffen herangeschafft werden musste, so musste sämtlicher dabei entstehender Müll zurück aufs Festland transportiert und dort entsorgt werden. Das gab es nicht umsonst. Und natürlich achtete jeder Insulaner peinlich darauf, dass er von diesen Kosten nicht mehr zu tragen hatte als unbedingt nötig.
»Und?«, fragte Lüppo Buss. »Wer ist der böse Bube? Hast du schon eine Idee?«
In einer Geste vollkommener Ahnungslosigkeit breitete Backe seine überlangen Arme aus. »Was weiß denn ich? Auf frischer Tat ertappt habe ich noch keinen, und einfach so jemanden beschuldigen, das gehört sich ja nicht, oder?« Seine zwinkernden Augen aber straften Backes Gestik Lügen, als er hinzufügte: »Vor allem nicht die lieben Mitbewerber.«
Der Oberkommissar verzog sein Gesicht. Bloß das nicht! Der Smutje, der Laden, in dem Backe an der Fritteuse stand, war mehr als einem Langeooger Wirt ein Dorn im Auge. Dort speiste man zwar nicht eben edel – »Paniert, frittiert, serviert«, wie Backe es ausdrückte – dafür aber konkurrenzlos billig. Jedenfalls für Inselverhältnisse. Viele Familien waren hier unter den Touristen, und in Zeiten wie diesen wurde mit dem Cent gerechnet. Jeder Panadefisch mit Pommes oder Kartoffelsalat aus dem Plastikeimer entlastete die Reisekasse. Und brachte den umliegenden Restaurants Umsatzeinbußen. Ob tatsächlich oder nur gefühlt, das machte da keinen Unterschied.
Kleinere Sabotageakte, und seien es nur ein paar illegal entsorgte Müllsäcke, um den billigeren Konkurrenten in Verlegenheit zu bringen, der natürlich nicht mehr Containerraum vorhielt als unbedingt nötig, waren als Reaktion durchaus vorstellbar. Ein bevorstehender Gastronomen-Krieg auch. Hier ging es ums Geld, und das war den Inselwirten heilig.
»Also dann, wir gehen mal gucken«, entschied Lüppo Buss. Kein leichter Entschluss, zumal mit einer guten Portion Matjes mit Bratkartoffeln im wohltrainierten Bauch, dessen Muskeln schon beim bloßen Gedanken an den Geruch von Fischabfällen zu zucken begannen. Aber wo, wenn nicht im Container selbst, waren Hinweise auf den möglichen Täter zu erwarten?
»Spitze.« Backe rieb sich die Bratpfannenhände. »Ich wette, wir finden Innereien. Von Fischen. Dann ist nämlich klar, wer’s war. Von uns können die auf keinen Fall sein, wir nehmen die Fische ja nicht selber aus.«
»Logisch«, sagte Lüppo Buss. »Den möchte ich auch mal sehen, der tiefgefrorene Panade-Filets noch ausnehmen kann.«
Interessant, dass Backe so selbstverständlich wir sagt, dachte der Inselpolizist, während er sich bemühte, mit dem Riesen Schritt zu halten, der erwartungsvoll in Richtung Smutje eilte. Er scheint sich richtig mit dem Laden zu identifizieren. Dabei gehört ihm der natürlich gar nicht. Und sein Job dort ist alles andere als ein Hauptgewinn. Jeden Tag Überstunden in Hitze, Fisch- und Fettgestank, und das Gehalt ist mit Sicherheit mehr als mau. Sonst hätte der alte Stapelgeld bestimmt jemand anderen dafür gefunden als ausgerechnet einen gewohnheitsmäßigen Knastrologen.
Natürlich hieß der Eigner des Smutje nicht Stapelgeld, sondern Stapelfeld. Thees Stapelfeld. Sein Spitzname, den er seinem einst legendären Geiz verdankte, drückte durchaus nicht nur Spott, sondern auch Anerkennung aus. Stapelfeld war einer, der sich nicht mit dem zufrieden gab, was er geerbt, erworben und erheiratet hatte. Er wollte höher hinaus, er wollte mehr, und mehr bekam man eben nicht durch großzügig gezahlte Löhne. Jahr für Jahr erweiterte Stapelfeld das, was er nicht nur bei sich, sondern auch abends an der Theke »mein Imperium« nannte. Ein Spruch, über den auf Langeoog schon länger keiner mehr lachte.
Backe streckte den Arm aus: »Da hinten steht er.«
In einer schmalen Lohne zwischen dem Smutje und dem Nachbarhaus stand der Abfallcontainer der billigen Fischbraterei. Offenbar nicht genau auf seinem üblichen Platz, wo die Rollen deutliche Spuren auf den Pflastersteinen hinterlassen hatten. Das musste nichts heißen, konnte aber tatsächlich ein Hinweis darauf sein, dass jemand etwas Voluminöses oder Schweres hineingestopft und sich dann eilig entfernt hatte. Dreck und aufgeplatzte Tüten, aus denen Küchenabfall quoll, lagen um den großen Behälter herum, ganz wie von Backe beschrieben. Über allem hing ein Geruch, der den Matjes in Lüppos Bauch zu neuem Leben zu erwecken schien.
»Mach mal auf«, wies er Backe an.
Die Riese packte zu. Die große Metallklappe knarrte nur leise, als er sie ohne Mühe anhob.
Der Container war fast voll. Obenauf lag, teilweise von Müll bedeckt, die Leiche einer jungen, unbekleideten Frau mit weit aufgerissenen Augen, deren narbenbedeckter Körper aussah wie ein mit Haut bespanntes Skelett.
Lüppo Buss spürte, wie eine unsichtbare Müllpresse seinen Magen zusammenquetschte. Er drehte sich weg und krümmte sich zusammen.