Читать книгу Sand und Asche - Peter Gerdes - Страница 12
7.
ОглавлениеLüppo Buss hielt sich im Hintergrund, als Doktor Fredermann am Rezeptionstisch der Klinik stand und leise auf eine Frau einredete, die dort Dienst tat und deren schneeweiße Kluft das Diensthemd des Inselpolizisten an Blendkraft noch um eine Nuance übertraf. Was der Arzt sagte, war von hier nicht zu verstehen, aber das machte nichts. Der Oberkommissar wusste auch so, worum es ging. Und um das Überbringen schlechter Nachrichten riss er sich nie.
Der Eingangsbereich der Klinik Waterkant, mehr Saal als Foyer, war durch einen geschlängelten Weg mit Mosaikpflaster, ausgedehnte Blumenrabatten, zwei Paar gläserne Automatiktüren und großzügig bemessene Fußmattenflächen dazwischen vom Straßentrubel abgeschirmt. Alles hier drinnen schimmerte silbrig oder strahlte bunt, alles sah nicht nur neu aus, es roch auch neu. Und ein bisschen teuer. Dabei war dieser Laden, so hatte der Oberkommissar gehört, durchaus nicht nur betuchten Privatversicherten oder Selbstzahlern vorbehalten. Vielleicht lag es daran, dass entsprechende Überweisungen nicht von Krankenkassen, sondern von den zuständigen Rentenversicherungsträgern vorgenommen wurden. Erstaunlicherweise schien in deren Kassen doch noch Geld übrig zu sein.
Unweit des halbrunden Rezeptionstresens saßen zwei junge Frauen vor einem deckenhohen Blumenfenster und unterhielten sich lebhaft. Erst jetzt bemerkte Lüppo Buss, dass eine von ihnen in einem Rollstuhl saß. Ihre Größe war schwer zu schätzen, aber sie schien mehr als mittelgroß zu sein. Sie trug einen überdimensionierten Sommerpullover mit breiten Querstreifen in Schwarz und Weiß, der ihre Schmächtigkeit nur annähernd kaschierte. Ihre Hände waren langfingerig und zart, mit auffällig dicken Adern auf den Handrücken. Halblange, dunkle Haare bauschten sich über ihren Schultern, ihre Wimpern waren lang und dunkel, ihr dreieckiges, fein geschnittenes Gesicht war blass. Sie trug eine Brille mit schmalem, eckigem Rahmen aus dunklem Metall. Lüppos Blick registrierte lange Beine in aschgrauen Hosen, schlanke Füße in schwarzen Sandalen, gepflegte Zehen, farblosen Lack.
Jetzt schlug sie die Beine übereinander. Merkwürdig. Wenn sie gar nicht gelähmt war, weshalb saß sie dann im Rollstuhl?
Die Frau kreuzte die Arme über ihrem Schoß und lächelte ihre Gesprächspartnerin an. Ihre Wangenknochen traten dabei stark hervor, und dünne Falten bildeten sich, die senkrecht hinab zu den Mundwinkeln führten. Es war, als trete ihr Totenschädel für einen Wimpernschlag aus ihrem blassen Gesicht hervor. Lüppo Buss erschrak und wandte seinen Blick ab.
Fredermann redete immer noch leise auf die Diensthabende in Weiß ein, die ihren Kopf in den Nacken legen musste, um dem langen Inseldoktor ins Gesicht schauen zu können, so dass ihr rotbrauner Pferdeschwanz frei an ihrem Hinterkopf baumelte. Jetzt nickte sie und griff zum Telefon. Die Miene der Frau war angespannt, ihre Stirn in Falten gelegt. Das Wesentliche schien der Doc ihr schon erzählt zu haben. Lange würde es hoffentlich nicht mehr dauern.
Der Blick des Inselpolizisten blieb an einem weiteren Rollstuhl hängen, der leer an der Rezeption stand. Ein ungewöhnlich breites Exemplar. Gab es Rollstühle für Paare? Und wenn ja, wie koordinierten die wohl die Fortbewegung?
Ein lautes Geräusch hinter ihm ließ Lüppo Buss herumfahren. Etwas Großes, Massiges bewegte sich da auf ihn zu, auf den ersten Blick ein Bär, der schwerfällig herantapste und -schlurfte, laut schnaufend und seinen Körper mit beiden Vordertatzen an der Wand abstützend, um ihn mühsam halbwegs in der Senkrechten zu halten. Aber Bären trugen natürlich keine ausgeleierten Trainingsanzüge im verblichenen Ethno-Look, und Bärenhintertatzen sahen nicht aus wie Elefantenfüße und steckten auch nicht in Aldiletten, deren Riemen beinahe von quellenden Fettwülsten unter bleicher, haarloser Haut überwuchert wurden.
Der Mann – natürlich war es ein Mann, kein Bär – lächelte Lüppo Buss entschuldigend zu, während er an ihm vorbeistampfte, mit den Armen rudernd, als gingen die wenigen Schritte ohne Wandstütze schon über seine Kräfte. Erschüttert stellte der Inselkommissar fest, dass dieser Koloss noch relativ jung war, trotz seines zerquälten Gesichtsausdrucks; Anfang oder Mitte dreißig vielleicht. Sein Gewicht mochte an die vier Zentner betragen, vielleicht auch mehr. Himmel, wie konnte man nur so fett werden?
Immerhin war damit die Funktion des überbreiten Rollstuhls erklärt.
Die Frau in Weiß mit dem rotbraunen Pferdeschwanz stand plötzlich vor Lüppo Buss. »Doktor Fredermann hat mich so weit informiert. Natürlich können Sie Angelas Zimmer sehen, auch ohne Durchsuchungsbeschluss. Die Klinikleitung ist einverstanden. Wir sind alle tief erschüttert.«
»Danke«, sagte der Oberkommissar und streckte seine Hand aus. »Mein Name ist Lüppo Buss.«
»Angenehm«, sagte die Frau. Sie mochte knapp über dreißig sein; ihre goldbraunen Augen waren wach und unbefangen auf ihr Gegenüber gerichtet. »Ich bin Sina Gersema.«
Angela Adelmunds Zimmer lag an einem Korridor, der mehr an ein Hotel erinnerte als an eine Klinik. Auch hier lag dieser typische Geruch nach kürzlich verlegtem Teppichboden und frischer Farbe in der Luft, ein Geruch, der eine neue oder zumindest gerade erst generalüberholte Umgebung signalisierte. Allerdings war er durchmischt mit etwas schärfer Riechendem, das an etwas anderes erinnerte. Autowerkstatt, dachte Lüppo Buss. Gummi. Tatsächlich, die kleinen Rampen, mit denen alle Stufen und Treppchen überbrückt waren, hatten einen Belag aus schwarzem Gummi. Anscheinend waren Rollstuhlfahrer hier nichts Ungewöhnliches.
Das Zimmer war recht geräumig, die Einrichtung im Schleiflack-Stil wirkte solide und ebenso praktisch wie schematisch. Eine schmale Glastür führte zu einem winzigen Balkon. Lüppo Buss spähte hinaus: Hochparterre. Also eher eine Terrasse.
»Natürlich konnte Angela leicht dort hinaus«, sagte Sina Gersema scharf. Sie schien Lüppos Blick sofort bemerkt und gedeutet zu haben. »Aber ebenso gut konnte sie das Gebäude auch durch den Haupteingang verlassen. Schließlich sind wir hier keine geschlossene Psychiatrie, sondern eine Klinik für Essstörungen. Unsere Patienten sind hier, weil sie hier sein wollen.«
»Aber sie müssen sich bestimmten Regeln unterwerfen, stimmt’s?«, konterte Fredermann. »Und die Einhaltung dieser Regeln wird überwacht. Wer dagegen verstößt, hat Ausgangssperre, soviel ich weiß. Oder arbeiten Sie hier etwa nicht mit Sanktionen?«
Die junge Frau errötete leicht. Eine steile Falte erschien über ihrer Nasenwurzel. »In der Tat, es gibt Sanktionen«, bestätigte sie. »Obwohl längst nicht jeder hier von der Richtigkeit solcher Maßnahmen überzeugt ist. Und natürlich werden die Patienten überwacht, in mehr als einer Hinsicht. Das brauchen sie, sonst wären sie nicht hier. Aber das bedeutet nicht, dass irgendjemand mit Gewalt daran gehindert würde, mal an die frische Luft zu gehen.«
Fredermann schnaubte geringschätzig. »Inkonsequenz hilft doch niemandem«, grummelte er. »Außerdem haben wir es hier nicht mit einer illegalen Spaziergängerin zu tun, sondern mit einer toten Patientin. Ihrer Patientin.«
Lüppo Buss hielt sich aus dem Disput heraus. Solange die beiden nichts anfassten, sollten sie sich seinetwegen über den richtigen Umgang mit Essgestörten zoffen. Er schaute sich lieber um.
Der Raum sah aus wie frisch verlassen, recht ordentlich, aber mit den üblichen kleinen Anzeichen, dass er bewohnt war: Zeitschriften, ein Buch neben dem Bett, ein leerer Teebecher auf dem Beistelltisch. Keine Wäsche auf dem Boden, und auch die Schuhe standen säuberlich beieinander neben dem Kleiderschrank. Angela Adelmund schien eine Ordentliche gewesen zu sein. Hätte sie ihr Zimmer verlassen, um es nie wieder zu betreten, wäre es gewiss picobello aufgeräumt gewesen.
»Dieses Zimmer muss kriminaltechnisch untersucht werden«, sagte der Inselpolizist. »Ich werde es versiegeln, sobald die erste Inaugenscheinnahme beendet ist.«
Fredermann schaute ihn konsterniert an; es schien eine Weile zu dauern, ehe er merkte, dass sich das Wortungetüm Inaugenscheinnahme auf das bezog, was sie hier gerade taten.
Sina Gersema hingegen nickte sofort.
Lüppo Buss zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche und streifte sie über. Wo beginnen? Bei der Schreibtischschublade, entschied er. Der wahrscheinlichste Aufbewahrungsort für Schriftstücke. Vorsichtig zog er die Lade auf.
Papiere, sorgfältig gestapelt. Obenauf lag ein gefalteter Zettel im DIN-A4-Format, liniert, offenbar aus einem Schreibblock gerissen. Etwas stand darauf, in großen Blockbuchstaben.
Lüppo Buss zog den Zettel heraus und las laut vor: »WENN ICH TOT BIN«.
Selbst Fredermann bekam runde Augen. »Doch ein Abschiedsbrief?«, fragte er. »Wie passt das denn …«
Der Oberkommissar brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er faltete das Blatt auseinander. Der Text war kurz.
»Wenn ich tot bin, will ich eingeäschert werden. Mein Körper soll brennen. Meine Asche soll am Osterhook verstreut werden, am Strand und in den Dünen. Alles, was ich besitze, soll mein Bruder bekommen.« Und eine kindlich wirkende Unterschrift. Angela Adelmund.
»Kein Abschiedsbrief«, sagte Lüppo Buss, »sondern ein Testament.«
»Und was für eins«, ergänzte Fredermann, der mitgelesen hatte.
»Ach«, sagte Sina Gersema. »Sie hatte einen Bruder?«