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6.

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Zum Gallimarkt durfte sie, das hatte Mama ihr erlaubt. Aber von Stinus abholen lassen wollte sich Erika auf keinen Fall, wenigstens nicht zu Hause. Mama würde die Augen zusammenkneifen, Fragen stellen und womöglich ihre Erlaubnis im letzten Moment widerrufen. Das durfte nicht passieren. Der Handel musste erfüllt werden. Stinus hatte seinen Teil erledigt; es blieb abzuwarten, was dabei herauskam. Aber jetzt war erst einmal sie dran.

Also wartete sie bei ihrer Oma auf ihn. Nicht, dass die nicht auch ihre Bemerkungen machte! Sicher noch mehr als Mama. Aber sie moserte nicht, sondern stichelte höchstens. Und auf gar keinen Fall verbot sie etwas. Auch wenn sie von dem Handel zwischen Erika und Stinus überhaupt nichts wusste. Und schon gar nicht, dass dieser Handel auch für sie selbst von größter Bedeutung war.

»Moi süchst du ut, mien Tüt!«, lobte sie Erika. Tatsächlich entsprach ihre Enkelin in ihrem langen Rock, der weißen Bluse unter der dunkelroten Jacke und mit der Schneckenfrisur ziemlich genau dem Schönheitsideal ihrer Jugend. »Moi Tüch! Tja, da kann man mal sehen, es kommt doch alles wieder.«

Erika verzog ihren Mund. »Na toll! Ich laufe rum wie beim BdM, weil der Hitler das so will und Mama mich sonst nicht aus dem Haus lässt, bin angezogen wie eine alte Frau, und dir gefällt das auch noch! Und ich dachte, du kannst die Nazis nicht leiden! Hast du dich etwa bekehren lassen?«

Erikas Großmutter hob abwehrend ihre Hände. »Geh mir bloß weg mit Hitler!« Ihre Weltanschauung war fest gefügt, und zwar schon lange vor der Weimarer Republik und den Nationalsozialisten – allerdings aus ziemlich widersprüchlichen Komponenten. Da war zum einen der Geist der Kaiserzeit, den sie in ihrer Jugend mit der Muttermilch eingesogen hatte. Zum anderen gab es die Ideale der Arbeiterbewegung, für die ihr Ehemann sie begeistert hatte. Und dann war da noch die allgegenwärtige Kirche mit ihrer allsonntäglichen Indoktrination. Für die Nazi-Ideologie gab es da keinen Platz mehr; sie war einfach zu spät gekommen.

Außerdem hatten die Nazis ihr den Mann genommen. Die Braunen hatten bei ihr verspielt, gründlich und für immer. Dieser Abneigung machte sie gelegentlich Luft, obwohl sie wusste, wie riskant das war. Auch jetzt musste ein saftiger Fluch her. »Hitler!« Sie spuckte den Namen förmlich aus. »Hitler, de oll Jööd!«

»Aber Oma!« Erika schlug sich die Hände vor den Mund, teils vor Schreck über solchen Leichtsinn, teils, um nicht laut herauszuplatzen. »Weißt du eigentlich, was du da sagst?«

Es pochte an der Tür. Die alte Frau und das Mädchen, das wie eine alte Frau angezogen war, fuhren erschrocken zusammen. Und gleich darauf noch einmal, denn das laute, fordernde Pochen wiederholte sich. Schutzsuchend drückte sich Erika an ihre Großmutter. Sie konnte spüren, wie Oma zu zittern begann.

Dann flog die unverschlossene Tür auf, und lautes, helles Lachen ertönte. Zweistimmiges Lachen, denn außer Stinus drängte sich noch ein weiterer Junge in den Korridor. Er war etwas größer als der Pimpf, der wieder seine Uniform trug, allerdings mit langen Hosen und einem Mantel darüber. »Ha!«, rief Stinus übermütig. »Rollkommando! Darauf wart ihr nicht gefasst, was? Aber keine Angst, alles nur Spaß.« Er grüßte Erikas Großmutter flüchtig, ohne ihr richtig ins Gesicht zu blicken, und wenn ihm auffiel, dass sie leichenblass war, dann zeigte er es nicht.

Erika hatte sich von ihrer Oma gelöst und starrte den anderen Jungen an. Er wirkte kräftig, hatte braunes Haar, schmale Hände und ein freundliches Gesicht. Sieht nicht schlecht aus, dachte sie. Aber wer ist das, und was macht er hier? Schließlich hatte sie ein Abkommen mit Stinus und mit niemandem sonst.

»Das ist Fritz«, sagte Stinus, der ihren Blick bemerkt hatte. »Er wohnt jetzt bei Fleischhauers. Ich hab gesagt, er kann mit zum Gallimarkt nach Leer. Hast doch nichts dagegen, oder?«

Erika schüttelte nachdenklich den Kopf. Evert Fleischhauer war Schuster, trotz seines Namens und seiner Erscheinung. Er war der größte und breiteste Mann, den Erika jemals gesehen hatte, hatte das finsterste Gesicht, das sie sich vorstellen konnte, und schien nur aus Muskeln zu bestehen. Es fiel leicht, sich auszumalen, wie dieser Fleischhauer ein totes Schwein oder auch ein Rind mit einem langen Beil in Hälften und Viertel teilte, ohne sich anzustrengen. Tatsächlich aber hockte der Riese von morgens bis abends zusammengekrümmt in seiner Schusterwerkstatt im Tiefparterre unter seiner Wohnung, hantierte mit Leder, Ahle und Garn, reparierte Schuhe und fertigte neue an. Mittags und abends ging er die Stiege hoch in seine Wohnung, wo ihn seine Frau und nicht weniger als neun Kinder erwarteten, davon sieben Jungen. Erika kannte sie alle aus der Schule, wilde Burschen, die keiner Rauferei aus dem Wege gingen, ohne wirklich bösartig zu sein. Keiner davon ähnelte diesem Fritz auch nur entfernt. Na ja, trotzdem konnte er ja ein Verwandter sein, vielleicht ein entfernter. Warum sonst sollte einer bei Fleischhauers wohnen, wo es bestimmt sehr eng und schrecklich laut zuging, noch enger und lauter als in anderen wenig betuchten Familien?

Stinus drängte sich an Erika vorbei und stiefelte ganz selbstverständlich den Flur entlang zur Vorderküche, Fritz im Schlepptau. Offenbar hatte er ihm von dem wunderbaren Schiffsmodell unter dem Glassturz erzählt und wollte es ihm zeigen, ganz so, als sei er hier zu Hause. Fritz schenkte Erika immerhin einen entschuldigenden Blick, während er Stinus hinterhertrottete.

Erikas Großmutter schien sich inzwischen wieder einigermaßen gefangen zu haben. »Machst du uns noch einen Kakao?«, fragte das Mädchen. »Dann haben wir wenigstens etwas Warmes im Bauch, wenn wir gehen. Ist ja schon ziemlich kalt draußen.« Immerhin war es bereits Mitte Oktober.

»Kannst mir helfen dabei.« Oma lächelte schon wieder, stellte Erika erleichtert fest. Wenn auch etwas dünn. Aber das war ja nach dem Schreck kein Wunder.

Erika fischte ein Steertpanntje aus dem Topfschrank, goss etwas Milch hinein, stellte es auf die heiße Platte und ließ es nicht aus den Augen, während ihre Großmutter das exotisch bedruckte Paket mit dem kostbaren braunen Pulver aus dem Küchenschrank holte. Kakao war Luxus, wie alles, was aus Übersee kam, und er schien immer teurer zu werden. Angeblich waren die Engländer schuld, hieß es, weil sie den Deutschen die afrikanischen Kolonien weggenommen hatten, die ihnen doch rechtlich zustanden, und damit den Platz an der Sonne. Die Strafe dafür werde das perfide Albion schon bekommen, hatte Erikas Schulleiter erst kürzlich wieder verkündet. Erst nach und nach hatte sie verstanden, dass Albion England bedeutete und Strafe wohl Krieg. Da hatten ihre Schulkameraden schon lauthals gejubelt.

Oma gab mit einem Teelöffel Kakaopulver und Zucker in die schnell wärmer werdende Milch und wies Erika an, immer kräftig zu rühren, damit nichts anbrannte. Dann angelte sie Becher von den Haken unter dem Tellerbrett und wischte sie mit einem Tuch aus. Dabei zwinkerte sie Erika verschmitzt zu. »Zwei gleich, was?«, raunte sie. »Du gehst ja ran wie Blücher an der Katzbach!«

»Was meinst du?« Erika braucht einen Moment, ehe sie die Anspielung verstand. Dann lief sie tiefrot an. »Also Oma, nun hör mal! Was denkst du denn von mir? Ich hatte doch keine Ahnung!«

Erikas Großmutter lachte gutmütig. »Mach dir bloß keine Gedanken! Was glaubst du denn, wie ich früher war! Zugegeben, ganz so früh wie du habe ich nicht angefangen. Aber dafür dann richtig. Als ich siebzehn war, da habe ich mich zum Gallimarkt nämlich gleich mit drei jungen Männern verabredet.«

Erika bekam runde Augen. »Drei? Etwa am selben Tag?«

Ihre Oma kicherte wie ein Backfisch. »Na klar, am selben Abend, zur selben Zeit. Sie hatten mich alle drei gefragt, und ich dachte, na ja, wenn sie so gerne wollen, warum soll ich sie enttäuschen?«

Fast hätte Erika den Zeitpunkt verpasst, als die erhitzte Kakaomilch zu schäumen begann. Im letzten Moment zog sie den Stieltopf zum kühleren Rand des Herdes, goss Milch nach und rührte energisch. »Und … und was dann?«, fragte sie atemlos. »Sind die dann alle drei gekommen? Und was haben sie denn dazu gesagt?«

»Keine Ahnung.« Erikas Großmutter nahm ihr das Steertpanntje aus der Hand und verteilte den Inhalt auf drei Becher, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. »Ich war pünktlich am vereinbarten Treffpunkt«, sagte sie dann, »und bin mit dem ersten der drei, der dort auftauchte, mitgegangen.«

»Aber Oma!« Erikas Ohren waren immer noch heiß. »Wie das klingt. Was hätte Opa wohl dazu gesagt?«

»Kindchen, der Erste, der kam, war doch dein Opa!«

Die Küchentür flog auf. »Ah, lecker!« Stinus kam hereingepoltert, griff ohne Umstände nach einem der dampfenden Becher und trank, ohne sich an der Haut zu stören, die sich bereits auf der braunen Flüssigkeit gebildet hatte. Fritz schien besser erzogen zu sein, er wartete, bis ihm ein Becher angeboten wurde, und bedankte sich höflich. Die Milchhaut schob er mit einem Löffel beiseite. Nach dem ersten Schluck zog er anerkennend die Augenbrauen hoch. Wie erwachsen das aussah! Und so … kultiviert. Gar nicht so, wie es bei den Fleischhauers zugehen musste, wenn man Stinus Glauben schenkte.

Stinus, bei sich zu Hause der einzige Junge, hielt sich gerne bei der Schusterfamilie auf, weil es dort an Spiel- und Raufkameraden nie mangelte. Und er aß auch öfter am großen Tisch mit, Milchsuppe mit Haferflocken oder Karmelkbreei, Arme Ritter oder, wenn es hoch kam, Speckendicken. Daheim auf dem Polderhof wartete weit edleres Essen auf ihn, zubereitet von einer Köchin, die ihr Handwerk verstand. Stinus aber hatte lieber bei karger Kost seinen Spaß, als zu Hause mit steifem Rücken Filet oder Lammbraten zu speisen, immer wieder zurechtgewiesen von seinen gestrengen Eltern, die sich, trotz ihres bescheidenen Wohlstands, ihrer eigenen Herkunft schämten. Was ihr Sohn ausbaden musste.

Manchmal aber, wenn es die Jungs bei Fleischhauers zu toll trieben, verdunkelte sich das ohnehin meist finstere Gesicht des Hausherrn noch mehr. Dann erhob er seine imposante Gestalt vom Kopf der langen, aus selbst gehobelten Brettern gezimmerten Tafel und nahm unter dem Türrahmen Aufstellung, den Kopf geduckt, um überhaupt Platz zu finden. »Alle Mann raus!«, knurrte er dann mit tiefer Stimme; jeder tat gut daran, diesem Kommando ungesäumt Folge zu leisten. Und jeder, der sich an dem Riesen vorbei nach draußen drückte, erhielt eine krachende Kopfnuss, egal ob mehr oder minder schuldig, ob eigener Sohn oder Gast. Auch Stinus bezog stets seinen Anteil, nicht selten hochverdient. Und trotzdem kam er immer wieder.

Obwohl Stinus gierig trank, hatte Fritz seinen Becher als Erster leer. »Vielen Dank, Frau Albers«, sagte er so wohlerzogen, dass Erikas Großmutter erstaunt blinzelte. »So was Feines bekommt man nicht alle Tage.«

Stinus knallte nur seinen leeren Becher auf den Tisch; bei ihm zu Hause schien Kakao keiner Erwähnung wert zu sein. »Los jetzt, kommt!«, rief er. »Wir müssen endlich aufbrechen, sonst wird es dunkel, ehe wir überhaupt in Leer sind.«

Das war zwar weit übertrieben, denn noch war es früher Nachmittag, aber inzwischen hatte das Gallimarktfieber auch Erika gepackt. Sie griff nach ihrem Mantel – und stellte überrascht fest, dass ihre Großmutter im Begriff war, Kopf und Schultern in ein großes schwarzes Umlegetuch zu hüllen. »Was ist, willst du auch noch los?«

»Ich bringe euch natürlich bis zur Fähre«, erklärte die alte Frau bestimmt. »Was sollen denn sonst die Leute denken.« Auch lautes Stöhnen konnte sie von diesem Entschluss nicht abbringen. Reichte es nicht, dass Stinus verdonnert worden war, gleich nach der Ankunft seinen in Leerort wohnenden Onkel aufzusuchen, der sie zum Gallimarkt und anschließend zurück zur Fähre begleiten sollte? Als ob sie noch Kleinkinder wären, die ständiger Aufsicht bedurften! Dabei behaupteten die Nazis doch stolz, Deutschland so viel sicherer gemacht zu haben.

So schoben sie ihre Räder, anstatt zu fahren, denn Erikas Oma besaß kein eigenes Rad. Auch Erika nicht; ihre Großmutter hatte für sie eins bei einem Nachbarn erbettelt, der in Ditzum auf der Werft arbeitete und täglich dorthin radelte. Weil er an diesem Samstag frei hatte, konnte er darauf verzichten, wenn auch nur zögernd; gleich mehrmals hatte er Erika und ihrer Großmutter eingeschärft, das gute Stück ja nicht zu beschädigen oder sich etwa stehlen zu lassen. Zum Glück handelte es sich um ein altes Damenrad, und der Sattel ließ sich niedrig genug einstellen, dass Erika mit den Zehenspitzen an die Pedale kam.

Beim Ausprobieren hatte sie festgestellt, dass sie seit letztem Jahr beträchtlich gewachsen sein musste. Ein Gedanke, der sie mit einer Zufriedenheit erfüllte, die sie nicht recht zu deuten wusste. Wie sich auch ihre Vorfreude auf den Gallimarkt zwiespältig und verwirrend anfühlte. Einerseits war ihr nach Hüpfen und Juchzen zumute, andererseits wäre ihr das albern und kindisch vorgekommen. Also ging sie gesittet neben ihrem Fahrrad her. Aber ihre Wangen brannten.

Was es wohl auf dem Jahrmarkt alles zu sehen und zu erleben gab? Klassenkameradinnen, die letztes Jahr mit ihren Eltern nach Leer gefahren waren, hatten in höchsten Tönen geschwärmt. Bodenkarussells und Schiffsschaukeln, Kettenkarussells und »Lustige Tonnen«, in denen sich einem der Boden unter den Füßen wegdrehte, sollte es dort geben, außerdem Schieß- und Losbuden, Ringewerfen, Rhönräder, Ponys und Buden mit Schmalz- und Honigkuchen und Zuckerzeug. Glänzende Augen hatten die Mädels beim Erzählen gehabt – und sie hatten auch damit geprahlt, wie viel Geld sie dort in wie kurzer Zeit ausgegeben hatten.

Erika fand das alles teils mehr, teils weniger interessant. Was sie aber wirklich faszinierte, waren die abenteuerlichen, die exotischen, die kuriosen Attraktionen. Zauberkünstler zum Beispiel, ein Marionettentheater oder gar Liliputaner. Von Lebendem Meissner Porzellan war die Rede; was das wohl zu bedeuten hatte? Und ob man auch Tiere mit zwei Köpfen zur Schau stellte oder Damen mit Vollbärten?

Bloß gut, dass sie genug Taschengeld gespart hatte, um sich das eine oder andere leisten zu können, dachte Erika. Von ihrer Großmutter hätte sie für den Gallimarkt bestimmt keinen Pfennig bekommen. Als echte Rheiderländerin war Oma »sühnig«, was so viel wie sparsam bedeutete. So nannte sie das jedenfalls selbst. Andere, vor allem die Leeraner von jenseits der Ems, nannten ihre Nachbarn unverblümt »grannig«, nämlich geizig. Was sicherlich ungerecht war, denn die Rheiderländer waren in der Mehrzahl schlicht arm und hatten nichts zu verschenken. Ihre Oma allerdings, das musste Erika im Stillen zugeben, konnte zuweilen schon ziemlich grannig sein. Dem Mädchen war es jedes Mal unheimlich peinlich, wenn die alte Dame in einem Geschäft das gesamte Sortiment ausgiebig musterte, nur um dann zu erklären: »Schade, dass ich mein Knippke heute nicht einstecken habe.«

Wenn ihre Oma etwas außer der Reihe kaufte, dann oft beim »Koffermann«, einem Juden, der als fliegender Händler öfters nach Jemgum kam und Wolle, Garn, Nähnadeln und allerhand andere Kurzwaren günstig auf der Straße anbot. In letzter Zeit schien sie das sogar besonders oft zu tun, überlegte Erika. Dabei war das direkt gefährlich geworden, seit Jan de Bruin, ein fanatischer Nazi, alle Kunden des »Koffermanns« fotografierte und drohte, sie als Judenfreunde anzuprangern: »Morgen stehst du im Stürmer!« Auch ihre Großmutter hatte dieser Kerl schon bedroht. Trotzdem ging sie immer wieder zu dem Juden, als sei das ein riskantes, aber reizvolles Spiel. Oder vielleicht eine Mutprobe? Aber wem wollte ihre Oma denn etwas beweisen?

Das Wetter war genau richtig für den Gallimarkt, recht kalt, aber sonnig; der Septemberregen war klarer, herber Spätsommerwitterung gewichen. Das Haus von Erikas Großeltern lag praktisch auf der Grenze zwischen Neu-Jemgum und dem alten Ortskern, so war es zur Emsfähre nicht weit.

Doch kaum hatten sie die Oberfletmerstraße erreicht, wurden sie durch einen Menschenauflauf gestoppt. »Nun mal Platz hier, wir müssen zur Fähre, die wartet nicht«, rief Stinus laut mit heller, schon befehlsgewohnter Stimme. Niemand achtete auf ihn, auch nicht, als sich der Pimpf mit Hilfe seines Rades durch den Pulk zu drängeln begann; die Leute traten ohne sich umzublicken gerade weit genug beiseite, um ihre Mäntel in Sicherheit zu bringen. Erika und die anderen hielten eilig Anschluss. So peinlich ihnen Stinus’ Verhalten auch war, ihre Neugier überwog.

Vor ihnen auf der Straße stand ein großes schwarzes Auto, ein Personenwagen mit langer Motorhaube, hohem Kühlergrill und rundem Kofferraumbuckel. So etwas sah man in Jemgum nicht alle Tage. Das allein aber war es nicht, was die Leute so zum Gaffen brachte. Auch nicht, dass der Wagen schräg auf der Fahrbahn stand, als hätte sich die Besatzung an keinerlei Regeln zu halten. Vor dem Auto stand eine Gruppe von Männern, einige in braunen SA-Uniformen mit Hakenkreuz-Armbinden, andere in Zivil. Erika erkannte Janssen in seiner schwarzen SS-Kluft, der weit ausholend gestikulierte, den drohenden Blick ebenso unstet wie seine Haltung, den Mund von gehässigem Lachen verzerrt. Anscheinend hatte er mal wieder dienstfrei, und er war betrunken, obwohl es heller Nachmittag war. Ebenso wie der Mann neben ihm. Erika zuckte zusammen, als sie ihn erkannte. Es war ihr Vater. Seit wann war der denn aus Hamburg zurück?

Sie spürte die Hände ihrer Großmutter auf ihren Schultern, fühlte sich vorwärtsgedrängt. Aber sie kamen nicht an Stinus und seinem Rad vorbei. Der Junge besah sich die Szene mit großen Augen, als sei sie die Ouvertüre des Jahrmarktprogramms, und dachte gar nicht daran, den Weg fortzusetzen oder freizugeben.

Ob alle Männer angetrunken waren oder nur die beiden, konnte Erika nicht ausmachen. Jedenfalls wurde mit erhobenen Stimmen geredet, erregt, wütend und durcheinander. Zu verstehen war nicht viel. Die Männer bildeten einen Halbkreis vor dem großen Auto und wandten ihrem Publikum zumeist den Rücken zu. Warum? Erika stellte sich auf die Zehenspitzen. Da waren noch zwei Männer; sie standen mit dem Rücken zum Auto, so dass Erika einen Blick auf ihre Gesichter werfen konnte. Gesichter, die sie hier noch nie gesehen hatte. Gesichter, aus denen die nackte Angst sprach.

»Die haben zwei Juden am Wickel«, sagte ihre Großmutter mit unterdrückter Stimme. »Los, seht zu, dass wir weiterkommen. Stinus, mach voran!«

»Aber wieso denn?«, fragte der Junge störrisch und rührte sich nicht vom Fleck. Auch Fritz starrte wie gebannt auf das Geschehen.

Gerade war Janssens Lachen besonders laut zu hören. Der SS-Mann taumelte, fuchtelte scheinbar unkontrolliert. Im nächsten Moment zuckte seine rechte Hand vor und klatschte einem der beiden Bedrängten ins Gesicht, so hart, dass dem sein kleines Käppchen vom Hinterkopf flog. Erika hörte Stöhnen, schnell übertönt von lautem, beifälligem Gelächter. Verspätet hob der Geschlagene seine Arme vors Gesicht, Arme in langen weißen Ärmeln mit schwarzen Schonern über den Manschetten. Ein Bürohengst, dachte das Mädchen, unwillkürlich den Ausdruck benutzend, den sie von ihrem Vater kannte. Was machte der hier? Und wie sollte sich so einer gegen diese vierschrötigen Kerle wehren?

Die Männer, die den Wagen umstanden, schienen sich durch das Gelächter angefeuert zu fühlen. Weitere Ohrfeigen, Schläge, Stöße, auch Tritte prasselten auf die beiden in die Enge Getriebenen ein, die sich so gut es ging zu decken versuchten, ohne sich ernsthaft zu wehren. Dann wäre es ihnen gewiss noch schlimmer ergangen. Oma hat schon recht, dachte Erika, die Olympischen Spiele sind vorbei, niemand muss sich mehr für das Ausland verstellen, jetzt zeigt Deutschland, wie es wirklich ist.

Die Schläger johlten wie spielende Jungen. Und genau wie kleine Jungs schienen sie die Lust an ihrem Spiel schnell wieder zu verlieren. Prügeln allein führte offenbar zu nichts – etwas Neues musste her. »Raus mit den Kerlen!«, brüllte Janssen los. »He, ihr Judenbengel, jetzt schmeißen wir euch raus aus dem Dorf!« Erika lief es kalt über den Rücken, als sie hörte, wie ihr Vater grölend mit einstimmte.

»Ja, raus mit ihnen, aber richtig!«, schrie ein braun Uniformierter. Erika kannte ihn nur flüchtig. War das nicht der Holz- und Kohlenhändler? Alle nannten ihn nur Hackes, keine Ahnung, wie der richtig hieß. »Wir schicken die beiden auf Transport! Hier, mit dem Auto. Und zwar so, dass wir die ein für alle Mal los sind.«

»Mit dem Auto? Du spinnst wohl!«, rief ein Mann, der Erika unbekannt war; vermutlich der Fahrer des großen Wagens. »Die kommen mir nicht da rein. Glaubst du, ich lasse dreckige Juden auf die guten Polster?«

»Wer redet denn von deinen Polstern?« Der Uniformierte schlug auf die Kofferraumhaube, dass es dröhnte, und lachte noch dröhnender. »Die kommen natürlich hier hinten rein! Abteilung für Gepäck und Viehzeug, da gehören sie hin!«

Wieder lautes Gelächter, diesmal in der ganzen Runde. Die beiden Juden, die anscheinend schon gehofft hatten, das Schlimmste überstanden zu haben, tauschten einen schnellen Blick. Dann rannten sie los, die Köpfe gesenkt. Ein verzweifelter Fluchtversuch, der zum Scheitern verurteilt war. Im Nu waren die beiden von zahllosen Händen ergriffen und zu Boden gezerrt. Auch viele der Zuschauer beteiligten sich jetzt, hielten die beiden Männer fest, schlugen und traten sie, während Janssen und Erikas Vater ihnen Gürtel und Hosenträger abnahmen und sie damit fesselten. Die Kofferraumklappe des Wagens öffnete sich wie ein gefräßiges Maul, und die beiden Gefangenen wurden hineingestopft wie die Opfer eines blutrünstigen Molochs. Zwei der SA-Männer drückten die Klappe herunter.

»Passt nicht«, rief einer der beiden. »Das Ding geht nicht zu!« Zwar steckten die Körper der Gefesselten im Frachtraum, ihre Köpfe jedoch schauten noch durch einen Spalt heraus, am Hals eingeklemmt zwischen Klappe und Karosserie.

»Haut ihnen welche auf den Dassel!«, schrie jemand aus der Menge. »Dann passen sie schon rein, wetten?« Und eine andere Stimme grölte: »Schneidet ihnen die Rüben doch einfach ab!«

Wieder lachte der Kohlenhändler dröhnend. »Wieso denn? Sieht so doch gut aus. Kann wenigstens jeder sehen, was Juden blüht, die sich in Jemgum blicken lassen.« Er fixierte die Kofferraumklappe mit einem Stück Seil am Griff, so fest, dass die Hälse der beiden Gefangenen schmerzhaft gequetscht wurden. Einer von ihnen schrie auf; die Gaffer antworteten mit höhnischem Geheul. Der andere, dem das Blut aus der zerschlagenen Nase lief, biss die Zähne zusammen und schwieg.

Umso mehr johlten die Umstehenden. Der Fahrer setzte sich hinters Steuer, die anderen Nazis drängten sich auf Vorder- und Rücksitze, und wer keinen Platz mehr fand, stellte sich auf die äußeren Trittbretter und hielt sich an den Fensterrahmen fest. Eine Qualmwolke quoll aus dem Auspuff, als der Motor dröhnend ansprang. Langsam und auf dem unebenen Pflaster schwankend, setzte sich der Wagen in Bewegung. Jetzt schrien beide Geschundenen laut auf; ihre Hälse wurden mit jedem Schaukeln stärker und schmerzhafter zwischen den Metallkanten gescheuert und gequetscht. Einige Halbwüchsige und auch ein paar erwachsene Männer trabten hinterher, als hätten sie Sorge, auch nur einen Moment dieser schaurigen Prozession zu verpassen.

Erika schaute auf Stinus, der sich nur mit Mühe zu beherrschen schien, um sich nicht stracks in den Sattel zu schwingen und dem Auto mit den Gefolterten zu folgen. Sein Mund stand vor Begeisterung halb offen, und sein gespannter Blick verriet keine Spur von Mitleid.

Ganz anders Fritz. Überrascht bemerkte Erika, dass dessen Unterlippe bebte, dass sich der Junge sogar über die Augen wischte. Keiner außer ihr schien das gesehen zu haben, alles starrte immer noch dem Wagen nach, der sich langsam entfernte.

»Disse Düvels«, zischte Erikas Großmutter halblaut. »Disse naare Düvels.«

Stinus nickte, ohne sich umzudrehen. »Ja, das ist wahr«, stimmte er zu. »Die Juden sind Deutschlands Unglück, das steht mal fest.«

Gott sei Dank, dachte Erika und hoffte, dass ihre Großmutter nicht daran denken mochte, Stinus’ Irrtum aufzuklären.

»Nun macht mal voran«, sagte die stattdessen. »Sonst verpasst ihr noch die Fähre.«

Die Leute um sie herum gingen noch nicht auseinander, sondern besprachen laut und erregt das Geschehene, hämisch zumeist und ohne einen Ton des Bedauerns. Trotzdem kamen sie jetzt mit ihren Fahrrädern leichter durch. Schnell brachten sie die Oberflethmerstraße hinter sich und erreichten den Fährpatt. Schon hatten sie die Deichlinie hinter sich; vor ihnen glitzerte das Hafenbecken in der kalten Oktobersonne. Allerhand Boote dümpelten an ihren Festmachern. Die Fähre lag abfahrtbereit.

Erika war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch Lust auf den Jahrmarkt hatte, so voll war ihr Kopf von den fürchterlichen Bildern, die noch kaum verblasst waren. Sollte sie einfach umkehren? Aber da war diese Abmachung mit Stinus, so bindend wie ein Vertrag. Gut, sie konnte Übelkeit vorschützen, ein plötzliches Unwohlsein. Unterleibsbeschwerden. Da würde Stinus nicht nachfragen, das würde er sich nicht trauen. Alle Jungs hatten eine heilige Scheu vor den Mysterien des weiblichen Körpers, das wusste Erika genau. Zwar brannten sie alle darauf, mehr, viel mehr darüber zu erfahren, aber fragen würden sie nie. Lieber sich die Zunge abbeißen.

Unwillkürlich war sie langsamer gegangen. Stinus, dem es nach dem spannenden Aufenthalt nun nicht schnell genug gehen konnte, hatte schon ein paar Meter Vorsprung. Auch vor Fritz, der ebenfalls seinen Schritt verhalten hatte, den Blick zu Boden gerichtet. Dieser Fritz kam Erika immer eigentümlicher vor. Warum benahm er sich so … so … anders als andere Jungen?

Als erneut Motorengeräusch ertönte, dachte Erika zunächst, es käme von der Fähre, die gleich abfahren würde. Dann erst registrierte sie, dass das Geräusch von hinten kam. Und lauter wurde. Das große Auto war wieder da, hatte seine Rundfahrt durch den kleinen Ort offenbar beendet. Dröhnend bog es in den Fährpatt ein, die Nazis immer noch auf den Trittbrettern, die beiden Geschundenen immer noch eingeklemmt im Kofferraum. Direkt am Hafenbecken, nur wenige Schritte von Erika und ihren Begleitern entfernt, hielt der Wagen an. Sekunden später hatte sich auch die Traube der Gaffer wieder versammelt.

Der Kohlenhändler stieg aus, ein aufgeschossenes Tau über dem Arm. Woher hatte er das plötzlich? Mit breitem, fettem Grinsen wandte sich der Mann an die Umstehenden. »So, Volksgenossen«, tönte er, »jetzt wollen wir diesen Judenlümmeln mal zeigen, wie wir Ostfriesen mit solchen Schädlingen umgehen. Vorwärts, holt die Schweine mal raus da!«

Eifrige Helfer lösten die provisorische Vertäuung des Kofferraumdeckels. Die beiden Gefesselten, die aus Schnitt- und Schürfwunden am Hals bluteten und kaum noch bei Bewusstsein waren, wurden herausgezerrt, auf die Füße gestellt und unsanft aufrecht gehalten, Rücken an Rücken. Der Kohlenhändler nahm ein Tauende in die Hand und reckte den Arm in die Höhe. »Passt alle gut auf!«, brüllte er. »Jetzt werden die beiden Juden hier mal mit Emswasser Bekanntschaft machen! Nachher werden sie sauberer sein als vorher, denn so gründlich haben die sich bestimmt noch nie gewaschen! Vor allem aber wird Ostfriesland hinterher viel sauberer sein. Wir spülen den Dreck weg, und zwar endgültig, das verspreche ich euch.« Mit diesen Worten bückte er sich, schlang das Tau den beiden bereits Gefesselten um die Leiber und knotete die Schlinge fest zusammen. »Janssen, was ist nun mit dem Boot?«, rief er über seine Schulter.

»Kommt!«, ertönte die militärisch knappe Antwort. Janssen treidelte bereits eine schlanke Motorbarkasse die Kaimauer entlang in Position, unterstützt von Erikas Vater, der, nachdem er den achteren Festmacher provisorisch belegt hatte, den Glühkopf des schweren Diesels mit einer Lötlampe auf Temperatur brachte.

»Sie wollen die beiden hinter das Boot binden!« Stinus’ Gesichtsausdruck wechselte zwischen Unglauben und Gier. »Sie wollen die Juden durchs Wasser schleifen! Mensch, die meinen es ernst.«

»Das überleben die beiden nicht«, stöhnte Erikas Großmutter und verbarg ihr Gesicht in den Handflächen.

Fritz schwieg. Tränen liefen über seine wachsbleichen Wangen.

Zorn und Zärtlichkeit

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