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8.

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Niemand hatte den Riesen kommen sehen. Plötzlich war er da wie aus dem Boden gewachsen.

Der Kohlenhändler sah ihn als Erster. Hackes hatte das lose Ende des Taus, das er den beiden Gefesselten um die Leiber geschlungen hatte, schon zu Janssen ins Boot gereicht, und der war gerade dabei, einen Palstek hineinzuknüpfen und es an der eisernen Heckklampe der Motorbarkasse zu befestigen. Jeder seiner Handgriffe wurde erwartungsvoll beäugt. Das Pochen des Bootsdiesels beschleunigte sich. Gleich würde die Barkasse ablegen, die Leine würde sich unter dem Zug straffen und den beiden Männern den Boden unter den Füßen wegreißen. Sicherlich würde ihnen die Kante der Kaimauer noch einen harten Schlag verpassen, ehe das Boot sie unter Wasser zog. Der Zug der Leine würde sie anschließend wieder an die Oberfläche befördern, wo sie verzweifelt nach Luft schnappen würden, ehe es wieder abwärts ging, wieder und wieder. Am Ende würden sie quälend langsam ertrinken, ertränkt von einer Mörderhorde, die heute früh noch eine Ansammlung ganz gewöhnlicher rheiderländer Ostfriesen gewesen war. Letzter Gruß von Jemgum, der Perle des Rheiderlandes, schoss es Erika durch den Kopf. Zum ersten Mal in ihrem Leben schämte sie sich ihrer Heimat.

Aber sie schämte sich auch ihrer selbst. Warum schrie sie nicht, warum rief sie nicht »Halt, ihr Mörder!«? Weil sie wie gelähmt war vor Angst. Weil niemand sonst es tat. Und warum tat es wohl niemand? Weil kein anderer es tat? Ja, dachte Erika, wahrscheinlich funktioniert es so.

Es funktionierte wirklich gut.

Aber dann war der Riese plötzlich da. Hoch ragte er auf vor Hackes, dem Kohlenhändler, der den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. Ein finsterer Blick Fleischhauers trieb den Nazi einen Schritt zurück. Der Riese riss ihm das Tau aus den Händen, ruckte am losen Ende. Janssen, der die Palstek-Schlaufe gerade über die Klampe streifen wollte, griff ins Leere.

Ein Raunen ging durch die Gaffermeute. Was fiel dem Schuster ein, sich mit den Nazis anzulegen, mit der ersten und inzwischen längst einzigen Gewalt im Staate? Was gingen ihn diese Juden an, dass er sein Leben für sie riskierte? Denn sein Leben, so viel stand fest, hatte er verwirkt. Jeder, der den Nazis Widerstand leistete, starb. Das glaubte, das wusste jeder. Entweder er starb an Ort und Stelle, oder er verschwand und blieb verschwunden.

Fleischhauer trug seine blaue Arbeitsschürze über seiner Alltagskluft. Für Markt und Müßiggang schien er keinen Sinn oder keine Zeit zu haben. Die Hemdsärmel hatte er hochgekrempelt, und auf seinen Unterarmen traten Muskeln hervor, dicker als das Tau, das er in seinen Händen hielt. Kein Wunder, dass dem Kohlenhändler das Herz in die Hose gerutscht ist, dachte Erika.

Der erste Schreck aber war schnell überwunden. Die Nazis hatten zwar lange keinen Widerstand mehr erlebt, aber sie erinnerten sich schnell daran, wie man welchen brach. Die erste Regel hieß Überzahl, und die war hier eindeutig gegeben. Zudem trugen einige der Uniformierten Pistolen, während der Schuster allein und unbewaffnet war. Beste Voraussetzungen also, um mutig zu werden.

Janssen sprang aus der Barkasse, die rechte Hand an der Pistolentasche. Von Trunkenheit war nichts mehr zu bemerken. »Wer bist du denn?«, brüllte er Fleischhauer an. »Was bist du denn für einer? Judenfreund, was? Willst deinen Freunden wohl Gesellschaft leisten?« Er beugte sich vor und starrte den Schuster drohend an, verfehlte jedoch die beabsichtigte Wirkung, weil auch er, obgleich größer gewachsen als der Kohlenhändler, zu dem Riesen aufblicken musste. Auch aus einem anderen Grund wirkten seine Worte eher komisch. Fleischhauer und Janssen waren beide in Jemgum aufgewachsen, und jeder wusste, dass der heutige SS-Mann seine Schuhe und Stiefel seit Jahr und Tag beim selben Schuster reparieren ließ wie alle anderen auch. Ihn zu fragen, wer er denn sei, löste trotz der herrschenden Anspannung ein paar Gluckser in der Menge aus.

Erika war nicht nach Lachen zumute. So also geht es zu in den Moorlagern, dachte sie und stellte sich vor, wie Janssen und seine Komplizen ihren Großvater auf diese Weise angingen, um ihn einzuschüchtern und gefügig zu machen. Und was danach wohl noch alles kam. In diesen Lagern gab es ja keine Zeugen, niemanden, der berichten konnte, wie es dort zuging. Nur Täter und Opfer. Die Täter hielten dicht, um sich nicht selber reinzureißen. Und die Opfer …

Das Mädchen schaute zu den beiden gefesselten Juden. Auch sie starrten den tapferen Schuster an, wie alle anderen auch. Auf ihren Gesichtern war keine Hoffnung zu erkennen, schon gar keine Freude über die unerwartete Hilfe. Erika sah nur Traurigkeit. Als hätte sich die Zahl der Opfer gerade um eins erhöht.

Die Nazis hatten sich jetzt alle von ihrem Schock erholt, machten Front gegen Fleischhauer, griffen nach dem Seil, versuchten es dem Schuster wieder zu entwinden. Der Riese hielt eisern fest, musste aber zurückweichen. Janssen tänzelte ein paar Schritte seitwärts, versuchte in Fleischhauers Rücken zu gelangen. Es sah schlecht aus für den mutigen Mann.

Fritz stieß einen eigenartigen Laut aus, wie ein getretenes Kätzchen. Niemand achtete darauf. Niemand außer Erika. Er schluchzt, dachte sie. Ihr Blick streifte wieder die Gesichter der Gefesselten. Und traf genau auf den des Mannes mit den Ärmelschonern. Jedenfalls glaubte sie das einen Moment lang. Tatsächlich aber schaute der Mann zu Fritz, der direkt vor ihr stand. Sie sah den Mann seine Stirn runzeln und leicht, fast unmerkbar den Kopf schütteln.

Und Fritz verstummte.

»Was soll das denn werden hier? Düvel noch mal, seid ihr denn jetzt ganz und gar van d’ Padd of?« Eine neue Stimme zerteilte den Tumult, der sich gerade aufs Neue erheben wollte. Eine trainierte, befehlsgewohnte Stimme, deren Besitzer durch die Gaffermeute pflügte und auf die Gruppe zuhielt, die den Kreis um Fleischhauer schon fast geschlossen hatte. Heinz Lüchte war es, der Dorfgendarm, allem Anschein nach direkt vom Küchensofa hochgeschreckt, auf dem er gewöhnlich seinen Mittagsschlaf hielt, denn sein spärliches Haar hing ihm wirr um den Kopf, und seine Finger hatten noch damit zu tun, die letzten Jackenknöpfe über dem Bauch zu schließen. Lüchte war ein bekennender Nazi, mindestens ebenso glühend wie der Kohlenhändler, und Erika stöhnte innerlich auf. Wie schlimm sollte es denn noch kommen?

Lüchte stieß Janssen beiseite, ignorierte dessen empörten Protest und stellte sich neben Fleischhauer. »Zurück«, sagte er leise, aber unerwartet bestimmt. »Alle zurück. Das Tau loslassen. Sofort.«

Fleischhauer wechselte einen Blick mit dem Gendarm, dann ließ er los. Als Erster. Wie geschickt das war, ging Erika erst nach und nach auf. Formal war der Ortspolizist nach wie vor die höchste Autorität am Platz, auch wenn er seine Befehle längst von der Partei bekam, deren Repräsentanten ihm hier gegenüberstanden. Diese Partei jedoch verkündete Gehorsam gegenüber der Obrigkeit als eines der obersten Prinzipien. Der Schuster hatte, scheinbar brav, Folge geleistet. Wer sich jetzt etwa weigerte, setzte sich ins Unrecht, und zwar in aller Öffentlichkeit.

Der Kohlenhändler löste seinen Griff, hob mit übertriebener Geste die Hände halbhoch, Flächen nach vorn. Die anderen folgten seinem Beispiel. Das Tau fiel zu Boden.

»So, und jetzt macht die beiden hier los.« Lüchte strich sich die Haare glatt, war jetzt eindeutig Herr der Lage. »Schluss mit dem Blödsinn. Hier ist Deutschland, hier herrschen Recht und Ordnung. Wenn hier jeder machen würde, wozu er gerade Lust hat, wo kämen wir dann hin!« Er stemmte seine Fäuste in die Hüften und wandte sich halb der Nazigruppe, halb den Zuschauern zu: »Was wir von den Juden zu halten haben, wissen wir, und zwar alle. Die werden kriegen, was sie verdienen, das könnt ihr mir glauben! Da wird der Führer schon für sorgen. Früher oder später. Aber das wird ordentlich geschehen, verstanden? Nach Recht und Gesetz. Nicht wie bei den Hottentotten. Geht das in eure Köpfe?!«

Erika sah die wütenden Mienen, aber sie sah auch gesenkte Häupter und verlegene Blicke. Zumindest für den Moment hatte der Gendarm erreicht, was er wollte. Wer die beiden Juden losgebunden hatte, sah Erika nicht. Aber als sie das nächste Mal dorthin blickte, wo sie gestanden hatten, waren die Männer fort. Das Seil lag schlapp am Boden. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. »Komm, lass uns nach Hause gehen«, sagte ihre Großmutter leise. Erika nickte. Die Lust auf einen Jahrmarktsbesuch war ihr gründlich vergangen. Fritz und Stinus ebenfalls, wenn auch wohl aus unterschiedlichen Gründen.

Als Erika noch ein letztes Mal zu der Gruppe bei dem großen Auto schaute, blickte sie genau in die wütenden Augen ihres Vaters.

Zorn und Zärtlichkeit

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