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2.

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Jetzt grinst er schon wieder so blöd, dachte Erika und bückte sich tiefer über ihre Ackerfurche. Doof, dass sie überhaupt hingeguckt hatte, als sie das Schutzblech klappern hörte, und auch noch so ungeschickt, dass ihm der Blick nicht entgehen konnte! Jetzt plierte sie zwischen ihren gespreizten Beinen hindurch, gedeckt durch die schwingenden Falten ihres weiten Rocks. Wie angeberisch er daherkam auf seinem schwarzen Fahrrad! Dabei war das natürlich gar nicht seins, sondern das seiner Mutter, und er konnte auch nur deshalb damit fahren, weil es ein Damenrad war, im Stehen, denn den breiten, blanken Ledersattel mit den großen Spiralfedern darunter konnte er gar nicht so tief einstellen, dass er mit dem Popo draufgekommen wäre. Stinus war ziemlich klein für seine dreizehn, fast schon vierzehn Jahre. Ihn aber focht das nicht an, er stampfte stehend in die Pedale, die Hände am Lenker knapp unter Nasenhöhe, Schulter zurück, Wirbelsäule kerzengerade am Sattelhorn. Stolz, immer so stolz. Und natürlich in Uniform.

»Wat kickst du denn alltied na de dösige Fent daar hen? Sall ik hum torüggropen?«

Omas kratzige Stimme rief Erika zur Ordnung. Stinus zurückrufen, von wegen! Schnell machte sie sich wieder daran, das Unkraut zwischen den noch zarten Kartoffelpflänzchen auszurupfen. »Nee, nee, bloß nicht«, rief sie, ohne den Kopf zu heben, damit ihre Oma nicht sah, wie rot sie geworden war. Erika hörte sie lachen. Nein, Oma war ihr nicht böse. Sie wusste, wie schwer es ihr fiel, in der Nachmittagshitze hier auf dem Acker zu stehen und ihr bei der Arbeit zu helfen. Aber es nützte ja nichts, hatte Mama gesagt, Oma schaffte es nun einmal nicht mehr alleine, und Opa war ja weg. Mama hatte zu Hause selbst genug zu tun, Vater war in Hamburg, in der Kaserne, und sonst war ja keiner da, der Oma zur Hand gehen konnte. Also musste Erika ran, und wenn ihr noch so langweilig war und der Rücken vom ewigen Bücken lahm wurde. Außerdem half sie Oma ja gerne, im Prinzip. Oma war immer lieb zu ihr.

Warum war Opa eigentlich weg? Sie mochte die Frage nicht mehr stellen. Oma hatte geweint, als sie das zuletzt getan hatte, Mama hatte nur leise »schscht!« gemacht und sie nach oben geschickt, und Vater hatte gedroht, ihr den Hintern voll zu hauen, wenn sie nicht Ruhe gäbe. Nichts davon wollte sie noch einmal erleben, also fragte sie nicht mehr. Aber der Gedanke ging ihr trotzdem nicht aus dem Kopf. Opa war ein großer, starker Mann mit riesigen Händen und einem ganz breiten Schnurrbart, das wusste sie noch genau, obwohl es drei Jahre her war, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte, und damals war sie erst zehn gewesen. In der Ziegelei hatte er gearbeitet, da hinten am Jemgumer Hafen, und war dort irgendwas Besonderes gewesen. Nicht Chef, nein, das nicht. In Erikas Familie waren alle Arbeiter oder Hausfrauen, außer Oma, die aus einer Bauernfamilie stammte und immer Bäuerin geblieben war, obwohl sie das Stück Land, auf dem sie heute Kartoffeln und anderes anbaute, lächerlich klein fand. »Blot een Taskendook vull Eer«, sagte sie immer und lachte. »Kiek di daartegen blots maal an, wat de Polderfürsten hebben!«

Ihre Oma sprach fast immer Platt, und Erika verstand jedes Wort, auch wenn sie selbst fast immer Hochdeutsch sprach. Ihre Mutter hatte ihr das Plattsprechen verboten, tat es auch selber kaum noch, weil Erikas Vater es nicht konnte. Er war nicht von hier, stammte aus Hannover und fühlte sich in Ostfriesland immer noch fremd. Vielleicht deswegen.

In der Schule hieß es immer, die Zeit der Fürsten und Grafen sei vorbei. Und die der roten Bonzen auch. Warum wohl gab es diese Polderfürsten immer noch? Erika überlegte, wen sie das wohl fragen konnte, ohne Schläge angedroht zu bekommen. Ist aber auch nicht so wichtig, dachte sie. Wenn Oma und sie mit einem Taschentuch voll Erde schon so viel Mühe hatten, wie viel Arbeit hatte dann wohl erst so ein Polderfürst mit seinen riesigen eingedeichten Marschbodenflächen?

Obwohl, die Arbeit verrichteten ja andere für ihn. Stinus’ Vater arbeitete bei solch einem Polderfürsten. War Verwalter oder Aufseher, irgendwas Besseres jedenfalls. Ihn konnte sie fragen. Aber das kam natürlich überhaupt nicht in Betracht. Der würde sich doch sonst was einbilden, wenn sie das tat!

»Kumm her, mien Tüt.« Oma stand plötzlich dicht vor Erika und strich ihr, als sie sich aufrichtete, zärtlich über den dichten braunen Haarschopf. In der Hand hielt sie die gläserne Flasche ohne Etikett, die in der Sonne verheißungsvoll rot funkelte. Johannisbeersaft war da drin, von Oma selbst gekocht, stark mit Wasser verdünnt, aber immer noch süß genug. Erika kannte nichts Besseres.

»Drink man even ’n Kluckje«, sagte Oma, und Erika trank dankbar. In der Flasche war mal Schnaps gewesen, das wusste sie, auch wenn man es nicht mehr schmeckte und das Etikett sorgfältig abgeweicht worden war. Für ihren Vater stand zu Hause auch immer so eine bereit. Diese hier stammte bestimmt von Opa.

Wo war Opa nur? Bloß nicht fragen, dachte das Mädchen, obwohl Oma doch direkt vor ihr stand und niemand sonst in der Nähe war. Nicht fragen, sonst weint sie wieder. Stattdessen nahm sie noch einen Schluck von dem süßen, fruchtigen Saft und reichte die Flasche mit einem Lächeln zurück.

»So, nu geiht dat weer, wat?« Noch einmal strich Omas hornige Hand über ihren Scheitel, diese harte Hand, deren Finger ganz krumm waren und innen dunkel von der Erde, die gar nicht mehr ganz aus all den Rissen und Falten herausging. Dann stapfte die alte Frau zurück zu ihrer Ackerfurche und machte sich wieder an die Arbeit. Erikas Blick ruhte noch ein paar Sekunden auf ihren grau bestrumpften Beinen, die der beim tiefen Bücken hochrutschende Rocksaum ein Stückchen weit freigab, auf den kantigen Knöcheln, den dünnen Fesseln und den knotigen Waden. Ihre Füße in den alten Holzpantinen waren weit gespreizt, um den Rücken etwas zu entlasten. In kleinen Schritten arbeitete sie sich voran, während sie das Unkraut so schnell und zielsicher rupfte, dass es klang, als fräße dort eine hungrige Kuh. Über diesen Vergleich musste Erika grinsen, aber ihr schmales Gesicht wurde gleich wieder ernst. Warum musste Oma eigentlich immer noch so hart arbeiten? War sie nicht eigentlich schon zu alt dafür?

Und wo war Opa? Irgendwann hatte sie doch mal etwas aufgeschnappt, konnte sich aber nicht mehr erinnern. Was war das nur gewesen?

Manchmal schien es ihr, als könnte sie nur Fragen stellen, für die es Ohrfeigen gab oder Tränen oder beides. In der Schule war das genauso. Dabei hatten ihr die ersten Schuljahre doch so viel Spaß gemacht. Bei der Einschulung hatte sie schon lesen können, Mama und Opa hatten ihr viel vorgelesen, da war ihr das so zugeflogen. Schnell war sie der Liebling ihrer Klassenlehrerin gewesen. Dass es dafür in den Pausen manchmal Hauereien gab, aus Neid, hatte sie nicht weiter gestört, denn austeilen konnte sie auch ganz gut, obwohl sie so schmal und zierlich war. Aber dann hatte sich plötzlich alles so verändert. Vor allem die Lehrer. Die redeten auf einmal ganz anders, und was vorher richtig gewesen war, hatte nun Anschnauzer, Ohrfeigen und schlechte Noten zur Folge. Ihre alte Klassenlehrerin änderte sich nicht, aber sie verließ die Schule. Sie müsse sich jetzt ganz ihren Pflichten als deutsche Hausfrau und Mutter widmen, hatte der Rektor verkündet. Und verboten, dass die Klasse ihr zum Abschied ein Lied sang. Die Gedanken sind frei hatte Erika vorgeschlagen, weil Opa das so gerne mochte. Dafür hatte sie einen Klassenbucheintrag bekommen, den ersten ihres Lebens. Abends war der neue Lehrer bei ihnen zu Hause gewesen und hatte lange und sehr ernst mit ihren Eltern gesprochen, und Erikas Vater hatte sie anschließend mit dem Rohrstock verprügelt.

Ihre Lehrerin hatte sie seither nur einmal wiedergesehen, nämlich als sie eines Abends bei ihnen zu Hause erschienen war und versucht hatte, Erikas Eltern davon zu überzeugen, ihre begabte Tochter nach Leer aufs Gymnasium zu schicken. Damit aber biss sie bei Vater auf Granit. Erikas Enttäuschung hielt sich in Grenzen; sie hatte nichts anderes erwartet. Das Gymnasium war etwas für reicher Leute Kinder, und sie waren arm. Nicht umsonst wohnten sie in der Arbeitersiedlung Neu-Jemgum.

Schön war das alles nicht. Was sie aber wirklich nicht verknusen konnte, war, dass in ihrer Klasse seit Kurzem plötzlich Stinus Plöger Primus und Lehrers Liebling war. Ausgerechnet Stinus, der doch bis vor drei Jahren nur in Sport und Religion Einsen gehabt hatte und sonst nur Dreien und Vieren!

Wie auf Bestellung hörte sie wieder das Schutzblech klappern. Tatsächlich, da kam Stinus schon wieder angeradelt auf seinem viel zu großen Fahrrad, mit seiner viel zu großen kurzen Hose und dem kinderkackebraunen Hemd mit den Schulterstücken und diesem lächerlichen Riemen quer über der Brust. Erika achtete diesmal darauf, ihn nur aus den Augenwinkeln zu beobachten, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Hatte das Jungvolk denn gar keinen Dienst oder Appell oder wie die ihr lächerliches Herumgeschreie und -gestampfe nannten? Anscheinend nicht. Interessiert mich ja auch überhaupt nicht, dachte Erika und riss wütend an der nächstbesten Pflanze. Erschrocken stellte sie fest, dass sie eine Kartoffelstaude in der Hand hielt. Kleine Knollen hingen an den bleichen Wurzeln, richtige Kartoffelbabys, die jetzt nicht mehr groß werden würden. Die Erdklumpen dazwischen sahen bräunlich aus, wie der Torf, den Oma im Küchenherd verfeuerte und der so intensiv roch. Der Torf, der aus dem Moor kam.

Und jetzt fiel es ihr wieder ein. Moor, das war das Wort. Mama hatte mit Oma geflüstert, nachdem einer von Vaters Freunden zu Besuch gewesen war, ganz kurz nur und sehr verstohlen, als dürfte Vater nichts von seiner Anwesenheit wissen. Aber Vater war gar nicht zu Hause gewesen, sondern in der Kaserne in Hamburg, wie meistens. Erika hatte hinter der Tür gestanden, hatte Mama flüstern gehört und Oma weinen. Moor. Moorlager. Und dann noch irgendwas mit Ems. Emsland?

Erika drückte die Kartoffelbabys zurück in ihr Bett aus Erde, deckte sie vorsichtig zu. Ob das noch etwas nützen würde? Vielleicht nicht. Aber einfach nur nichts tun, das ging doch auch nicht!

Ruckartig richtete Erika sich auf. Warum tat denn bloß keiner was? Sie wohnten hier doch dicht an der Ems, der Fluss war gleich da drüben, hinter dem Deich. Richtung Norden waren Ditzum, der Dollart und Emden, dahinter die Nordsee, und in der anderen Richtung lag das Emsland. So weit weg war das nicht, also musste es doch möglich sein, Opa zu finden! Aber es traute sich ja keiner, ihn zu suchen. Warum waren denn alle nur so feige?

»He, Erika!« Plötzlich stand Stinus vor ihr wie aus dem Boden gewachsen. »Mensch, hast du gehört? Wir haben schon wieder Gold! Schon die achte Goldmedaille!« Er packte sie an den Oberarmen, als ob er mit ihr tanzen wollte, und begann herumzuhopsen. Erika aber stand stocksteif vor Überraschung, und weil sie fast einen Kopf größer war als Stinus, schaffte er es nicht, sie mitzureißen.

Klar, in Berlin waren ja gerade Olympische Spiele, und Stinus’ Eltern hatten natürlich ein Radio. Erikas Vater hatte auch schon davon gesprochen, wenigstens einen Volksempfänger anzuschaffen, aber noch war daraus nichts geworden. So erfuhren sie immer erst einen Tag später von den Erfolgen der deutschen Athleten in Berlin, nämlich aus der Rheiderland-Zeitung. Erika fand das früh genug.

»Na und?«, gab sie zurück und ruderte mit den Schultern, um Stinus’ Griff abzuschütteln. »So toll sind deine Helden auch nicht. Die werden ja nicht einmal mit diesem Neger fertig, diesem Jesse Owens. Von wegen Übermenschen!« Erika erschrak über ihre eigenen Worte, kaum dass sie ihr entschlüpft waren, getrieben von Ärger und von Zorn, der tiefere Ursachen hatte als bloß Stinus Plögers Dreistigkeit. Mit solchen Bemerkungen war nicht zu spaßen, das wusste sie, da durfte man schon eher den lieben Gott lästern. Wenn Stinus sie nun verpetzte?

Aber der schien gar nicht richtig zugehört zu haben. »Ich mache jetzt regelmäßig Leibesübungen!«, verkündete er strahlend. »Das Fahrradfahren gehört auch dazu. Die richtigen Anlagen habe ich, sagt Herr Köster, und der war immerhin schon mal Riegenführer der deutschen Turnerauswahl! Wenn ich nur fleißig genug bin und an meiner Form arbeite, dann bin ich in acht Jahren auch mit dabei. Mensch, Erika, ist das nicht toll?«

»Wo willst du dabei sein?« Erika schüttelte den Kopf. In acht Jahren – wer dachte denn schon so weit voraus? Dann waren sie beide einundzwanzig, also erwachsen. Stinus hatte dann sicher schon einen Beruf, und sie war bei irgendeiner Bauernfamilie in Stellung, den Haushalt führen und lernen für ihr künftiges Leben als Hausfrau und Mutter. Erika schauderte bei diesem Gedanken. Wenn man Pech hatte, dann waren diese Jahre beim Bauern eine einzige Tortur, das erzählten sich die älteren Mädchen im Dorf. Sieben Tage die Woche schuften, frei nur zur Kirche und über Weihnachten, und wenn der Bauer zudringlich wurde, durfte man noch nicht einmal den Mund aufmachen. Kein Wunder, dass viele Mädchen heirateten, sobald sich jemand fand, irgendwer, nur um dieser Schinderei zu entkommen! Nein, so weit mochte Erika nicht denken, noch nicht. An die Zukunft denken, das sollten ruhig die Jungs tun, die hatten davon sowieso mehr zu erwarten.

»Na, wo will ich dann wohl sein? Bei den Olympischen Spielen!« Stinus warf sich in die magere Brust, was unter seinem weiten Jungvolk-Hemd nur zu erahnen war. »Turner oder Leichtathlet, kommt drauf an, wie viel ich wachse, sagt Herr Köster. Können tu ich beides! Bin ein richtiges Bewegungstalent.«

Sportler bei Olympia! Das war so vermessen, dass Erika nicht einmal darüber lachen konnte. Und verglichen mit dem, was ihr selbst bevorstand, fand sie Stinus’ Hirngespinste sogar zum Heulen. »Wo sind denn die Spiele in acht Jahren überhaupt?«, fragte sie, um überhaupt etwas zu sagen.

Der kleine Pimpf zuckte die Achseln. »Was weiß ich? Irgendwo halt. Wenn Deutschland bis dahin die Welt beherrscht, wie der Führer sagt, dann bestimmt wieder in Berlin. Wenn’s damit länger dauert, dann eben woanders. Ich schaffe es überall!«

Und ehe Erika noch etwas erwidern konnte, hatte Stinus seine Hände an ihre Wangen gelegt, sich auf die Zehenspitzen gestellt und ihr einen Kuss aufgedrückt. Auf den Mund! Erika stand starr vor Ekel und Entsetzen, während der kleine Pimpf lachend über die Ackerfurchen zu seinem Fahrrad rannte. Auch Oma lachte. Sie stand zwar weit entfernt, denn sie hatte sich inzwischen einen großen Vorsprung beim Jäten erarbeitet, aber den entscheidenden Augenblick hatte sie nicht verpasst. Schelmisch drohte sie mit dem Zeigefinger.

Erika machte sich wieder an die Arbeit. In ihren Wangen pochte die Schamesröte. Mit jedem Rupfer aber ließ das Gefühl des Ekels nach. Immerhin, sie hatte ihren ersten Kuss bekommen. Zwar von Stinus, diesem Dreikäsehoch, dem sie das von allen ihren Klassenkameraden am wenigsten zugetraut hätte. Aber – wenn schon!

Und je länger sie darüber nachdachte, desto interessanter kamen ihr die Möglichkeiten vor, die sich daraus ergeben mochten.

Leise summend, begann sie den Vorsprung ihrer Oma aufzuholen, rhythmisch und gleichmäßig arbeitend wie eine Maschine. Erst nach einiger Zeit wurde ihr bewusst, was sie da summte: Die Gedanken sind frei.

Zorn und Zärtlichkeit

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