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»Nun guck dir bloß mal diese Sauerei an!« Heinz Ulferts blieb in der Kellertür stehen, stemmte die Arme in die Hüften und besah sich die ganze Bescherung. Dann steckte er sich erst mal eine an. »He, Justin«, rief er laut über die Schulter, mehr zur Seite als nach hinten, »komm ran, Junge!« Danach rührte er sich ein paar Züge lang nicht von der Stelle, als nähme ihn die Verarbeitung des Gesehenen dermaßen in Anspruch, dass an irgendeine Bewegung überhaupt nicht zu denken war.

Justin Dettmann näherte sich schlurfend, drängte sich an Ulferts vorbei, dessen massige Gestalt den Türrahmen fast ganz ausfüllte, und peilte unter halb geschlossenen Lidern hervor die Treppe entlang nach unten. »Boah!« Das war alles, was er über seine wie immer herabhängende Unterlippe brachte.

Ulferts schüttelte den Kopf. Sein strafend gemeinter Blick drückte vor allem Resignation aus. »Und? Wie konnte das passieren?«, fragte er, ohne auf eine Antwort zu hoffen. Noch einmal sog er heftig an seiner Zigarette, so dass die Glut hell aufleuchtete und beängstigend schnell seinen verhornten Fingerkuppen zustrebte. Dann warf er die Kippe in den Keller. Es zischte, als die Glut in dem See erlosch, der sich unten gebildet hatte. Winzige, ringförmige Wellen leckten an der hölzernen Stiege.

»Bestimmt ein Meter Wasser«, brummte Ulferts und rammte Justin den Ellbogen zwischen die Rippen. »Los, hol die Tauchpumpe. Und vergiss den Schlauch nicht!«

Während sein Praktikant loszottelte, drehte der Klempnermeister erst einmal das Hauptventil ab. Sein Blick schweifte über die Baustelle. Alte Häuser machten grundsätzlich mehr Mühe als neue, stellte er zum wiederholten Male fest, und dieses hier war ein sehr altes Haus. Womöglich sogar eines der ältesten von ganz Leer. Dass es ausgerechnet an der Neuen Straße stand, war eine Ironie, die Ulferts gar nicht auffiel, war ihm diese Straße nahe beim Rathaus und der historischen Waage doch als Bestandteil der malerischen Altstadt seit Langem vertraut.

Ein Glanzstück dieser Altstadt war das Haus derzeit gerade nicht, sollte es aber wieder werden. Nach mehrjährigem Leerstand hatte es den Besitzer gewechselt, gerade noch rechtzeitig, um vor dem vollständigen Verfall gerettet zu werden. Hinter der imposanten Fassade jedoch verbargen sich Zustände, die jedem anständigen Handwerker die Haare zu Berge stehen ließen. Nicht nur, dass es in dem ganzen Gebäude keinen einzigen rechten Winkel gab. Der Giebel, der außen nicht einen einzigen Riss zeigte, sah von hinten so aus, als wäre er aus wild durcheinander vermauertem Schutt errichtet worden, und einige der Balken, die die Zwischendecken trugen, lagen direkt auf den Fensterstürzen auf. Ein Wunder, wie das all die Jahrhunderte lang halten konnte, dachte Heinz Ulferts, während er die Tauchpumpe an ihrem dick gummierten Kabel in den Keller hinabgleiten ließ und sich nach einer Steckdose umblickte.

»Wohin damit?«, fragte Justin und hielt das Schlauchende hoch.

Ulferts war darüber froh, denn ohne solche unterstützenden Gesten hätte er seinen Praktikanten kaum verstanden, so nuschelig sprach der Junge. Als hätte er statt einer Zunge einen Klumpen rohe Leber im Mund, dachte der Klempnermeister, wohlig schaudernd über diesen unappetitlichen Vergleich. »Ins Klo«, antwortete er.

»Hä?« Der schlacksige Junge glotzte verständnislos. Einen Moment lang hoben sich seine Augenlider fast vollständig, und seine Unterlippe hing noch etwas weiter herab als gewöhnlich. Dann kapierte er endlich und schlurfte los in Richtung Badezimmer.

Ulferts seufzte. Wirklich schön, dass die Arbeitslosenzahlen endlich sanken, aber dass er sich deswegen jetzt mit solchen Gestalten als Praktikanten, später womöglich sogar als Lehrlingen abgeben musste, war mehr als lästig. Und dabei war das sogar noch ein Realschüler! Nach außen hin lehnte Ulferts die Idee dieses durchgeknallten Wirtschaftsministers, immer noch mehr ausländische Fachkräfte ins Land zu holen, bei jeder Gelegenheit mit drastischen Worten ab. Im Stillen aber dachte er anders darüber, seit er versuchen musste, Jungen wie diesem Justin das Arbeiten beizubringen.

Endlich fand Ulferts eine Steckdose, eine altmodisch runde, hohe und schon ziemlich brüchige, zu der eine ebenfalls über Putz verlegte Leitung führte, und steckte den Stecker mit gemischten Gefühlen ein. Aber nirgendwo sprang eine Sicherung heraus, stattdessen begann es aus dem Keller zu schlürfen und aus dem Bad zu gurgeln. Die Pumpe arbeitete also. Dieses Badezimmer bereitete Ulferts ebenso viel Kopfzerbrechen wie der stumpfsinnige Junge. Natürlich nachträglich eingebaut, hatte das Bad einen schlauchartigen Grundriss, war völlig unzureichend beleuchtet und belüftet, die Leitungen waren kreuz und quer verlegt, und nach dem Bild, das sich dem Betrachter schon auf den ersten Blick bot, mochte der Klempnermeister gar nicht daran denken, wie es innerhalb der Wände und unter den Bodenfliesen aussah. Abreißen und neu bauen ist das einzig Vernünftige, dachte Ulferts. Aber das ging hier natürlich nicht, da waren der Denkmalschutz und die Leeraner Tourismusinteressen vor.

Wie das mit dem Keller passiert sein musste, darauf hatte sich Ulferts inzwischen seinen Reim gemacht. Bestimmt kein Frostschaden, trotz des zurückliegenden harten Winters. Immerhin war es schon Anfang Juni, da wäre ein Rohrbruch lange vorher aufgefallen. Nein, wahrscheinlicher war, dass die Wasserleitungen einfach von Grund auf marode und gleich an mehreren Stellen durchgegammelt waren, ein Prozess, der schleichend begann und sich dann langsam steigerte. Begünstigt natürlich durch den Leerstand des Gebäudes, sonst hätte sicher schon früher jemand die Wasserlecks bemerkt und Alarm geschlagen.

Der Wasserspiegel im Keller sank nur langsam; der gewölbeartige Raum schien ziemlich ausgedehnt zu sein. »Nun hol doch schon mal den Bautrockner rein!«, herrschte Ulferts den Praktikanten an, der bewegungslos neben der Badezimmertür stand, den leeren Blick auf einen Punkt weit links vom Gesicht seines Meisters gerichtet. Erst nach einigen Sekunden schlurfte Justin los. Wo hat der bloß seinen Kopf, dachte Ulferts. Sollte vielleicht nachts mal schlafen, zur Abwechslung.

Der weiße Middent-Manssen-Kastenwagen stand direkt vor der Haustür. Ulferts hörte Justin darin poltern und rumoren, während er langsam die Kellertreppe hinabstieg. Das raue Holz der Stiege war schwarz vor Nässe. Faulig schien das Holz aber nicht zu sein; der typische Camembertgeruch fehlte, und auch das Knarren der Stufen klang vertrauenerweckend.

Unten war es nicht so dunkel wie befürchtet. Das Kellergewölbe hatte einen Hintereingang. Oberhalb einer kurzen steinernen Treppe befand sich eine Tür mit kleinen blinden Fensterscheiben, von denen einige eingeschlagen waren. Die Tür stand einen Spalt offen. Ulferts verzog den Mund. Hatten sich auch hier schon die Penner breitgemacht? Seit die Saufbrüder vom Bahnhofsvorplatz vertrieben worden waren, schienen sie überall in der Stadt aufzutauchen. Der Anblick dieser abgerissenen Gestalten machte den Klempnermeister aggressiv, und so war er oft unfreundlicher zu ihnen, als es seiner Natur entsprach. Aber wenn er an seine eigenen Sorgen dachte, seine ungebärdigen Söhne, das teure Haus und das ständig überzogene Konto, dann machte ihn die Nähe von Obdachlosen nun einmal sehr unruhig. Wer konnte schon wissen, was die eigene Zukunft brachte?

Die Tauchpumpe begann Luft zu ziehen und zu röcheln. Ulferts hatte den Kellerboden erreicht, seine schweren Arbeitsschuhe patschten durch tiefe Pfützen, an die die Pumpe nur noch schwer herankam. Gab es hier vielleicht einen Pumpensumpf? Im Rheiderland jenseits der Ems, wo er geboren war und immer noch wohnte, wo auch sein Segelboot im Jemgumer Hafen lag, hatten viele ältere Häuser eine solche Vertiefung im Kellerboden, in der sich eingedrungenes Wasser sammelte und bequem abgepumpt werden konnte. Aber dort, in der tief gelegenen, stets feuchten Marsch, war Wasser im Keller auch ein häufiges Problem. Die Leeraner auf ihrem Geestrücken hatten diese Sorge normalerweise nicht. Hier jedenfalls konnte Ulferts keinen Pumpensumpf entdecken.

Dafür allerhand anderes. Das eingedrungene Wasser hatte allen möglichen Krempel aus den verstecktesten Winkeln hervorgespült. Torfstücke lagen herum, Holzabschnitte, Eierkohlen, alte Schuhe, fleckiges Arbeitszeug, ein Gartenschlauch, sogar ein paar schrumpelige, ausgekeimte Kartoffeln waren zu erkennen. Stapel aufgeweichter Zeitungen und Illustrierten waren in Auflösung begriffen; zum Glück hatte die Schnürung den halbfesten Brei noch so weit zusammengehalten, dass er die Pumpe nicht verstopfte.

Mit routiniertem Blick machte der Klempnermeister die am tiefsten gelegene Ecke des unebenen Kellerbodens aus und ließ die Pumpe so viel von dem restlichen Wasser absaugen, wie ohne Sumpfloch möglich war. »Stecker raus!«, brüllte er dann die Treppe hoch. »Und bring jetzt den Trockner!« Die Pumpe schlürfte noch ein Weilchen, bis alles erreichbare Wasser abgesogen und fast überall der bucklige Zementboden zum Vorschein gekommen war, dann erst kam sie zur Ruhe. Ulferts hatte Justins Reaktionszeit genau richtig eingeschätzt.

Wenig später kam der Praktikant die Treppe heruntergepoltert, den ungeschlachten Bautrockner vor dem Bauch. Das Ding war eigentlich nichts anderes als ein großer Heizlüfter mit extrastarkem Gebläse. Oder, wenn man so wollte, eine Art Wäschetrockner, nur dass er die Feuchtigkeit nicht aus gewaschener Kleidung zog, sondern direkt aus der Raumluft. Ulferts registrierte, dass Justin ein schwarz glänzendes Stromkabel hinter sich herzog, das er offenbar bereits oben eingestöpselt hatte. Ein Punkt für ihn, dachte der Klempnermeister. Hier unten fand sich bestimmt keine funktionierende Steckdose mehr.

Justin blieb stehen und schaute seinen Meister fragend an: »Wohin?«

Tja, wohin das Ding? Ulferts rieb sich das Kinn. In das Knistern seiner Bartstoppeln mischte sich ein anderes Geräusch. Irgendwo plätscherte es leise. Der Klempner drehte sich um, vorsichtig, als fürchtete er, ein scheues Lebewesen zu verscheuchen. Da waren die Frischwasserrohre, offen verlegt, bestimmt unendlich lange nach dem Bau dieses alten Kastens. Aber auch das war bestimmt schon wieder eine Ewigkeit her. Dort, wo die Rohre aus der äußeren Wand in den Keller mündeten, sickerte ein Rinnsal hervor. War das bloß Nachlauf, oder befand sich mindestens eine der Leckstellen genau dort, wo man am schlechtesten herankam? Das wäre ja wieder mal typisch.

Dann sah er den Wasserhahn mit dem ausgeblichenen Gartenschlauch daran. Er drehte prüfend und fand seinen Verdacht bestätigt; jemand hatte den Hahn nicht richtig zugedreht. Mit kräftigem Griff holte Ulferts das nach. So eine Nachlässigkeit, dachte er. Auch das könnte sehr wohl die Ursache für diese Schweinerei hier sein.

»Dahin«, sagte Ulferts und zeigte in Richtung Außenwand. »Aber nee, setzt erst mal ab. Da steht was im Weg.«

Eine Kiste war es, die da stand, triefend nass wie alles in diesem Keller. Vielleicht auch ein umgefallener Spind, dachte der Klempner, eintürig, die Form könnte passen, lang und schmal. Aber dann hätte das da oben drauf ja die Tür sein müssen, und eine Tür war das eindeutig nicht, sondern ein Deckel, bestehend aus zwei rissigen Brettern mit darübergenagelten Lattenenden und mit einem primitiven Verschluss gesichert. Was hatten die früheren Hausbewohner wohl in dieser Kiste aufbewahrt? Hoffentlich nichts Schweres, dachte Ulferts, das Ding muss nämlich da weg. Prüfend trat er gegen das ihm zugewandte Ende der Kiste.

Es gluckste laut, und aus einem Loch im Deckel schoss eine kleine Wasserfontäne hervor. Ulferts, der gerne Tiersendungen guckte, fühlte sich an einen auftauchenden Wal erinnert. Zugleich registrierte er, dass die Kiste sich keinen Millimeter gerührt hatte.

»Hä?« Ach ja, Justin war ja auch noch da. »Der Strahl, wie geht das denn?«, nuschelte der Schüler.

Ulferts holte Luft, wollte ansetzen zu einer Erklärung, die mit Physik zu tun hatte, schüttelte jedoch nur den Kopf und winkte ab. »Das Ding ist voll Wasser«, sagte er. »Vollgelaufen, wie der ganze Keller hier. Stell den Trockner lieber erst mal auf die Treppe, wir müssen das Ding hier ausleeren, sonst kriegen wir’s bestimmt nicht von der Stelle.« Zum Beweis bückte er sich und versuchte, die Kiste mit beiden Händen zur Seite zu ziehen. Auch auf diese Art war sie kein Stückchen zu bewegen. »Siehst du?«

Ulferts richtete sich auf. Justin stellte sich neben ihn. Ehe der Meister ihn daran hindern konnte, hatte er schon mit voller Wucht zugetreten. Wieder spritzte Wasser aus dem runden Loch nahe der entfernten Schmalseite des Deckels. »Geil!«, murmelte der Praktikant, ein abwesendes Lächeln auf den auseinanderklaffenden Lippen.

»Du spinnst doch«, schalt Ulferts. Aber er tat es halbherzig, denn der Großteil seiner Aufmerksamkeit galt dem Verschluss des Deckels. Ein einfacher rechtwinkliger Überwurf, der über eine Öse an der Längsseite geklappt und dort mit einem Stückchen Holz arretiert worden war. Ein simpler Verschluss aus schwarz lackiertem Blech. Ziemlich verrostet, genau wie die beiden Scharniere. Kam das von der Feuchtigkeit? Aber wahrscheinlich war die Kiste einfach schon ziemlich alt.

Der Zementboden rundherum begann bereits abzutrocknen. Dort, wo das Wasser aus dem Loch im Deckel gespritzt war, hatte sich ein neuer dunkler Fleck auf dem Untergrund gebildet. Nur dort – ansonsten schien die Kiste, die randvoll mit Wasser sein musste, dicht zu halten. Das war erstaunlich, handelte es sich doch um ein Behältnis aus schlicht zusammengenagelten, rauen, schon deutlich verwitterten Brettern. Konnten die im Wasser aufgequollen sein und ihre Stöße sich dadurch von alleine geschlossen haben, wie ein gut gebautes hölzernes Boot? Nicht sehr wahrscheinlich, dachte Hobbysegler Ulferts. Der Deckel jedenfalls schloss nicht wasserdicht, lag nur einfach auf der oberen Kistenkante auf, und seine Bretter standen leicht über. Die Scharniere waren nicht eingelassen, sondern einfach von oben aufs Holz geschraubt. Außerdem war da dieses kleine runde Spritzloch. Insgesamt war diese Kiste ein merkwürdiges Ding, auf das sich der Klempner keinen Reim machen konnte. Obwohl es ihn an irgendetwas erinnerte.

Er bückte sich und löste den rostigen Verschluss. Warum er sich danach aufrichtete und Justin mit einer Kopfbewegung anwies, den Deckel anzuheben, anstatt das selbst zu tun, vermochte er sich später nicht zu erklären.

In der Kiste war tatsächlich Wasser. Außerdem war da ein Mensch. Er schien in dem klaren, unbewegten Wasser zu schweben, so knapp unterhalb der Oberfläche, dass seine Nasenspitze sie gerade eben nicht durchstieß. Der Mensch war ein Mann, ein alter Mann, seinem weißen Haar nach zu schließen, das seinen Kopf umschwebte wie eine Wolke. Seine Augen waren dunkel, was man sehen konnte, weil sie weit geöffnet waren und starr zur Kellerdecke blickten. Der Mann war tot, auch das kam Ulferts zu Bewusstsein, als eine in einer ganzen Reihe von Beobachtungen, die sein praxisgeschulter Verstand nahezu selbstständig traf, solange ihn das Entsetzen, das parallel dazu aufquoll, noch nicht lahmgelegt hatte. Der Mann war tot, ein toter alter Mann in einer Holzkiste voll Wasser im Keller dieses uralten Hauses. Der Tote trug Unterwäsche, weiße Trikotunterwäsche, wie auch Ulferts sie trug, sonst nichts. Seine Hände waren nicht zu sehen, und seine bloßen Füße …

»Kabelbinder.« Das war Justins Stimme. Mein Gott, der Junge, dachte Ulferts, der arme Junge, der guckt das jetzt alles mit an. Den Gedanken an seine Fürsorgepflicht als Ausbilder begrüßte er dankbar. Ein rettender Gedanke schien das zu sein, einer, an den er sich klammern konnte, der ihm Anlass gab, seinen Blick von diesem Grauen abzuwenden, ehe er in Panik verfiel. Ulferts schaute zu Justin.

Aber als er bemerkte, wie die Augen seines Praktikanten glitzerten, als er sah, dass sich Justins Mund mit der hängenden Unterlippe zu einem Grinsen verzerrt hatte, packte ihn die Panik erst recht.

Zorn und Zärtlichkeit

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