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ОглавлениеEr hatte überlegt, ob ihm wohl zuerst die Lungenflügel wehtun würden oder die Beinmuskeln und hatte schließlich auf Seitenstechen getippt. Tatsächlich waren es die Arme. Unglaublich, wie schwer es ihm wurde, die Ellbogen angewinkelt zu halten. Immer wieder wollten seine Unterarme, deren gut entwickelte Muskeln seine heimliche Eitelkeit ansonsten erfolgreich stützten, wie schlappe Leberwürste der Schwerkraft nachgeben und die verkrampften Hände kraftlos Richtung Straße baumeln lassen. Schon mehrmals hatte Marian die Hände haltsuchend auf die Hüftknochen gestemmt, was aber einen derart peinlichen Watschelgang zur Folge gehabt hatte, dass er das ganz schnell wieder sein ließ und lieber die Zähne zusammenbiss.
Ein Schal müsste die Lösung sein, dachte er. Ein dünner Schal um den Nacken, beide Enden um die Hände gewickelt. Das hatte er schon einmal irgendwo gesehen, bei einem dieser kostümierten Juxläufer zwar, aber egal, das müsste gehen. Auf der nächsten Etappe würde er das machen, ganz bestimmt. War doch egal, ob die anderen dumm guckten.
Wenn er diese Etappe nur erst überstanden hätte.
Den Julianenpark, ein paar Asphaltstraßen und den Wanderweg vom Leeraner Stadtteil Heisfelde zum Vorort Logabirum hatten sie jetzt hinter sich, und Marian hatte sich an den Klang seines eigenen Keuchens gewöhnt. Immer öfter liefen sie jetzt in der prallen Sonne. Es war heiß, und es schien immer heißer zu werden. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, glitzernde Kügelchen, die sich aufblähten, bis die Oberflächenspannung ihrer Masse nicht mehr Herr zu bleiben vermochte, so dass sie platzten und zu sickernden Rinnsalen wurden, aus deren Zusammenfluss sich kleine Bäche bildeten, die ihm über die Schläfen und in die Augenwinkel rannen. Einzelne Tropfen, durch die Erschütterungen seiner stampfenden Schritte von der Haut katapultiert, fanden den Weg an den Augenbrauen vorbei bis an die Innenseiten seiner Brillengläser, wo sie herabliefen und verdunsteten und dabei breite, salzige Spuren hinterließen, die seinen Blick noch zusätzlich trübten. Das T-Shirt pappte ihm am Rücken wie ein nasser, warmer, vom vielen Wischen klebriger Feudel. Ebenso wie seine Zunge am trockenen Gaumen. Getränke-Stände bei Volksläufen hatte er immer für albern gehalten. Jetzt sehnte er einen herbei.
Längst hatte sich das Feld auseinander gezogen, war der vielbeinige Lindwurm in seine Segmente zerfallen, kleine Pulks, zwischen denen aufholende und zurückfallende Läufer wie keuchende Boten die Verbindung aufrechterhielten. Marian stellte fest, dass diejenigen, die zu ihm aufschlossen und ihn überholten, bei Weitem in der Mehrzahl waren gegenüber denen, die er überholte. Steigerten die anderen das Tempo? Nicht anzunehmen, hier auf der ersten Hälfte der Strecke. Vermutlich wurde er nur langsamer.
Sie waren vom Wanderweg nach rechts auf eine Straße abgebogen. Jetzt ging es erneut nach rechts. Alles in ihm sträubte sich dagegen, wieder zurück in Richtung Leer, in Richtung Start zu laufen, und er musste sich regelrecht dazu zwingen, dem Streckenverlauf zu folgen. Zum Glück ging es wenig später wieder nach links, und der Weg wurde leicht abschüssig, was überraschenderweise aber keine Erleichterung brachte; vielmehr drohten die Beinmuskeln bei dieser ungewohnten Belastung zu verkrampfen.
Wieso ging es überhaupt bergab, hier im pfannkuchenflachen Ostfriesland? Marian schaute hoch und stellte fest, dass sie an einem Friedhof entlangliefen, einem einladend begrünten Platz mit sauberen schwarzen Steinen und ordentlichen hellen Karrees, gesprenkelt mit ein paar Findlingen und fast deplatziert wirkenden Kreuzen. Das musste der Friedhof von Logabirum sein; der lag natürlich direkt neben der Dorfkirche, und die wiederum auf einer Warft, einem künstlichen Hügel, der das Gotteshaus einst bei Sturmfluten vor dem Wasser hatte schützen sollen. Hoch und trocken. Gott und die Toten haben es gut, dachte Marian, während ihm der Schweiß über die Wangen perlte und in den struppigen Bart sickerte.
Der Weg knickte erneut nach rechts ab, führte um den Friedhof herum und tauchte dann wieder nach links weg, hinein in einen niedrigen Tunnel, der unter der Bundesstraße hindurchführte. Marian genoss die dämmerige Kühle, die nur wenige Schritte weit andauerte. Dann ging es wieder hinaus in die Hitze und den Lärm der Straße, der die Laufstrecke nun folgte.
Eins zwo, eins zwo, eins zwo. Längst hatte sich seine Atem-Schritt-Frequenz vom Idealwert entfernt und der rauen Realität angepasst. Die Lungen verhalfen dem Körper eigenmächtig zu seinem Recht, und er merkte, dass ihm diese Anpassung, dieses Gehenlassen beim Laufenmüssen durchaus Erleichterung verschaffte. Inzwischen hatte er es aufgegeben, sich um seinen Laufstil oder seine mutmaßliche Platzierung auch nur einen feuchten Schmutz zu scheren. Es war, als folge er seinem eigenen Schritt wie in Trance, als beobachte er die Anstrengung, statt sie selbst zu leisten.
Bilder, die im Rhythmus seiner Schritte vorbeihüpften, fesselten seine Aufmerksamkeit jeweils für Sekunden, lenkten ihn ab, während seine Schuhsohlen über den immer gleichen grauen, glatten Asphalt schurrten. Dieser Mann zum Beispiel, der da am Rand der Laufstrecke stand und den Läufern seinen Rücken zuwandte, als wollte er ihnen tiefste Verachtung demonstrieren, dabei versonnen einen gekrümmt dahockenden Rauhaardackel betrachtend, der gerade auf den Grasstreifen zwischen Radweg und Fahrbahn kackte. Die beiden Frauen in dunkelblauen Kittelschürzen, die eine weiß gepunktet, die andere weiß geblümt, die den Zug der Läufer anstarrten, als würde er jeden Augenblick verschwinden, dem unsichtbaren Befehl einer zappenden Fernbedienung folgend, und einer anderen Sendung Platz machen. Der dicke, stoppelhaarige Mann da neben dem knallgelben Fahrrad, das aussah, als hätte er es seinem jüngsten Sohn weggenommen. Die beiden Typen, die breit grinsend an ihm vorbeischauten und irgendjemandem hinter ihm zuriefen: »Hol ihn dir!«
Wer soll sich wen holen, überlegte er. Wer, wer, wer, wen, wen, wen. Irgendwer mich, irgendwer mich. Irgendwer holt mich. Worte. Worte haben Rhythmus. Rhythmus ist gut. Gute Worte. Marian lief im Rhythmus der Worte, die keine Bedeutung zu haben schienen.
Die nächste Richtungsänderung warf ihn wieder zurück in die Realität des Leidens. Ein Streckenposten mit orangefarbener Weste, vollkommen bewegungs- und teilnahmslos dastehend, markierte durch seine schiere Existenz einen 90-Grad-Knick der Strecke in den Wald hinein. Harter Asphalt wurde von weichem Waldboden abgelöst, die stechende Sonne von kühlendem Schatten, all das aber war nichts gegen die Tatsache, dass er sich des Laufens schlagartig wieder bewusst wurde. Seinem Hintermann schien es ebenso zu gehen; Marian hörte ihn husten und stöhnen.
Mehr als ein Gehölz konnte das hier eigentlich nicht sein, aber es sah wahrhaftig nach Wald aus, und es roch auch nach Wald, was Marian vor allem deswegen angenehm fand, weil er schon seit geraumer Zeit einen Geruch wie von Klobeckensteinen in der Nase hatte. Verwitterte Baumreste ruhten rechts und links des Weges auf braunen Nadelteppichen, einer an eine Riesenschildkröte erinnernd, ein anderer an ein stachelbewehrtes Fabeltier. Schön, dachte er. Eins zwo, eins zwo.
Schon wurde das Wäldchen wieder lichter, und zwischen schlanken, kahlen Nadelbaumstämmen konnte er einen Wall aus Erde und zusammengeschobenen Baumstümpfen erkennen, überragt von Hausdächern. Also doch nur ein Gehölz. Aber immerhin.
Vor ihm tauchten vereinzelt Zuschauer auf, und ihm wurde bewusst, dass er minutenlang vollkommen allein gelaufen sein musste. Na ja, relativ allein; die Kurven des gewundenen Waldwegs verbargen die vor ihm Laufenden, und wer hinter ihm war und wie nah, wusste er nicht, denn sein Atem übertönte jedes Laufgeräusch, und sich umzudrehen traute er sich nicht.
Plötzlich erklang eine Trommel, ein Paar Kongas vielmehr, von kundigen Händen geschlagen in einem stimulierenden Rhythmus. Die Strecke schnitt jetzt die Siedlung, und ein paar Leute hatten nicht nur für Musik gesorgt, sondern tatsächlich auch einen Erfrischungsstand aufgebaut. Trotz seiner brennenden Augen überkam Marian ein Glücksgefühl, getragen von tiefer Dankbarkeit.
Im selben Augenblick nahm er eine Bewegung links neben sich wahr. Der Mann, der ihn da überspurtete, mochte gut doppelt so alt sein wie er, 60 Jahre oder mehr, mit fast weißen, gewellten Haaren über einem borstigen Nacken und altersfleckiger, an Oberarmen und Schultern erschlaffter Haut. Aber er war schlank und groß, hatte lange, sehnige Arme und Beine, und er war ganz offensichtlich fit. So fit, dass er Marian beim Überholen ein freundliches, aufmunterndes Lächeln widmen konnte, dazu einen dieser Blicke, die bei aller Freundlichkeit vor allem Überlegenheit transportierten und ein wenig Hohn. Marian sah in ein markantes Gesicht, dessen dominanter Ausdruck von senkrechten Falten noch betont wurde. Das Gesicht eines gewohnheitsmäßig Erfolgreichen. Ein Chefgesicht. Ein wohlbekanntes Gesicht, das Marian alle paar Tage aus seiner eigenen Zeitung entgegenzulächeln pflegte. Wie lautete doch gleich der dazugehörige Name? Ein merkwürdiger Name, hinten schlicht und vorne albern. Er war da, irgendwo dort hinter seinen Augen, holpernd im Rhythmus seiner Laufschritte, und es hätte nur einer kleinen Anstrengung bedurft, ihn sich vor Augen zu führen. Aber wozu? Er hatte keine Energie zu verschenken.
Der Überholer ignorierte den Tapeziertisch mit den Wasserbechern, lief weiter mit vorbildlich gestreckter Wirbelsäule und geraden Schultern. Fast wäre Marian ihm gefolgt, plötzlich beflügelt vom Trotz, der ihm schon über manche Klippe geholfen, ihn aber auch in manche Klemme getrieben hatte. Dann jedoch siegten Durst und Vernunft, und er bremste ab.
»Möchtest du so eine Figur haben?«, fragte eine Stimme auf der anderen Straßenseite. Marian, der seinen Becher in einem Zug halb geleert hatte, schaute misstrauisch hinüber, während er sich den Rest des Wassers über den glühenden Nacken schüttete. Aber die beiden grün uniformierten, knorrigen Männer, die dort standen, meinten nicht ihn; sie starrten dem großgewachsenen Überholer nach, dessen extrem schlanken Körperbau sie nicht für erstrebenswert zu halten schienen. Tatsächlich wirkte der Mann von hinten übermäßig leptosom, fast dürr, seine Beine unnatürlich lang und knotig, die Oberarme mager. Die Schönheit liegt eben doch im Auge des Betrachters, dachte Marian, und wo nichts ist, da ist nichts. Dankbar grinsend ergriff er einen nassen Schwamm, der ihm hingehalten wurde, nahm die Brille ab und wischte sich über Stirn und Augen. Dann ließ er den Schwamm fallen und lief weiter.
Auch der lange, dürre Mann bekam seine Erfrischung. Im Vorbeilaufen drückte ihm ein Helfer einen nassen Schwamm in den Nacken. Marian bekam es gerade noch mit, während er sich seine Brille wieder aufsetzte. Der Erfolgsmensch schien nicht gerade erfreut zu sein. Marian sah, wie er den Kopf zur Seite wandte und etwas rief. Der freundliche Helfer drehte sich weg.
War wohl nicht die richtige Wassersorte, dachte Marian, der Herr bevorzugt offenbar »Evian«. Wahrscheinlich aber gefiel diesem Menschen grundsätzlich nichts, was er nicht selber bestellt und angeordnet hatte. Und wenn eine Kühlung nicht von ihm befohlen war, dann fiel es ihm eben überhaupt nicht ein, sie zu genießen.
Da lag der Schwamm im Gras am Rand der Laufstrecke, nicht weit von der Stelle, wo er zu Boden gefallen war. Ein orangefarbener Schwamm, dunkler als der gelbe, den Marian zuvor bekommen hatte, und auch etwas größer. Vom Streckenposten keine Spur. Dem war wohl die Lust vergangen; Marian konnte es ihm nicht verdenken. Ob er den Schwamm ins Gebüsch kicken sollte? Nein, lieber nicht. Gerade war er wieder im Rhythmus, da wollte er lieber nichts riskieren.
Merkwürdig nur, dass dieser Helfer trotz der Hitze eine langärmlige Jacke getragen hatte. Und merkwürdig blasse Hände hatte er gehabt. Aber das lag wohl daran, dass die Haut vom vielen Anfeuchten schon ganz aufgequollen war.
Das erinnerte Marian daran, dass die Spitzengruppe vermutlich schon lange im Ziel war. Und das Schlusslicht nicht mehr fern.
Sofort war der Durst wieder da. Ächzend stolperte er weiter.