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ОглавлениеDer Mensch hat sich auf treibende Baumstämme gesetzt, überlegte Stahnke, während er dem Ende der vielbeinigen Läuferschlange nachschaute, das gerade zwischen den dicht belaubten Bäumen des Julianenparks verschwand. Flöße hat er sich gebaut, dann Schiffe. Pferde hat er gefangen und gezähmt, Wagen gebaut, Kutschen, Eisenbahnen und schließlich sogar Flugzeuge. Alles, um nicht mehr laufen zu müssen. Und was passiert? Kaum muss er nicht mehr laufen, schon tut er’s gerade. So sind sie, die Menschen. Da kann ja nichts draus werden.
Wie zum Trotz blieb er noch ein Weilchen stehen, massig und massiv wie eine Litfaßsäule in seinem hellen, knitterigen Trenchcoat, der dünn war und doch schon viel zu warm für diesen unerwartet sonnigen Spätnachmittag im Mai. Dieser Tag gab sich alle Mühe, den nasskalten Herbst, den ebenso nasskalten Winter und die kaum weniger nasskalte erste Frühlingshälfte, die ihm vorangegangen waren, vergessen zu machen. Schöne Tage konnte es geben hier in Ostfriesland, herrliche Tage sogar, nur eben nicht im Überfluss, und wenn man mal einen erwischte, einen wie diesen, trotz der Schauer am Vormittag, dann musste man ihn auch nutzen. Und nicht weglaufen. Stahnke stand, mit der ganzen Ortsfestigkeit seiner zwei Zentner, drückte die breiten Schultern nach hinten, streckte seine Wirbelsäule und atmete tief ein. Und nutzte. »Carpe diem«, nutze den Tag, ach ja.
»Na Chef, gar nicht mitgelaufen?«
»Wir dachten, Sie sind längst in Holtland.«
Stahnke gestattete sich ein halbes Grinsen und grüßte die beiden grün uniformierten, knorrigen, graubärtigen Gestalten, indem er den dicken Zeigefinger seiner rechten Hand in die Nähe seiner weißblonden Haarstoppeln hob, dorthin, wo die Krempe eines großen, aber wirklich sehr großen, tief ins Gesicht gezogenen Borsalinos gewesen wäre, wenn er denn einen getragen hätte. Was er nie tat. Natürlich, Rieken und van Dieken, die Schupo-Zwillinge. Die beiden ließen wirklich keine Sportveranstaltung aus. Wie sie es schafften, immer wieder auch dann zum Sicherungsdienst eingeteilt zu werden, wenn es nach menschlichem Ermessen nichts, aber auch gar nichts zu sichern gab, war ihr seit Jahren wohlgehütetes Geheimnis.
»Fahren Sie nur vor, meine Herren«, sagte Stahnke. »Zielraum sichern. Oder?«
»Genau, Herr Hauptkommissar«, sagte Rieken. »Aber erst noch die Strecke observieren.«
»Man weiß ja nie, Herr Hauptkommissar«, sagte van Dieken.
Die beiden schlenderten Richtung Parkstreifen, wo ein VW-Bulli in Mint und Weiß durchs helle Blattgrün hindurch zu erahnen war, und auch Stahnke setzte sich nun in Bewegung, ging langsam zwischen dicken Bäumen hindurch zur Bolzwiese, die wie eine Lichtung am Rand des Julianenparks lag.
Jedes Jahr wurde hier der Ostfrieslandlauf gestartet, liebevoll Ossiloop genannt, und mit jedem Jahr wurde das Starterfeld größer. Inzwischen war man nicht mehr weit von tausend Teilnehmern entfernt. Sicher, viele Cityläufe hatten mehr Resonanz vorzuweisen. Der Ossiloop aber war etwas Besonderes, ein Sechs-Etappen-Lauf quer durch Ostfriesland von Leer bis nach Bensersiel, ein Unternehmen von insgesamt fast 70 Kilometern, zu absolvieren an sechs Tagen innerhalb von drei Wochen, jeweils dienstags und freitags. Als echter Ossilooper galt nur, wer wirklich alle Etappen hinter sich brachte. Die Zeit, so lautete die offizielle Version, war dabei Nebensache. Das aber galt längst nicht mehr für alle. Schadenfroh dachte Stahnke daran, wie Marian Godehau das vorhin zu spüren bekommen hatte.
Seinetwegen war Stahnke überhaupt hergekommen. Schließlich waren sie sich in den letzten Jahren oft genug über den Weg gelaufen, da hatte sich einiges an gemeinsamer Erfahrung angesammelt. Die meiste Zeit war ihr Verhältnis nicht gerade positiv gewesen; Stahnke hatte sich darüber geärgert, dass sich dieser vorwitzige, fast 20 Jahre jüngere Journalist immer wieder in seine Fälle eingemischt hatte, Marian Godehau hatte dem Hauptkommissar nicht nur anfänglich stark misstraut und sich mehr als einmal von ihm benutzt gefühlt. Sie siezten sich immer noch, aber eine gewisse Verbundenheit war dennoch nicht zu leugnen. Eine kumpelhafte Vertrautheit, anders als Freundschaft, aber nicht minder intensiv. Ob es das war, wovon alte Kriegskameraden immer faselten? Grinsend schüttelte Stahnke den Kopf.
Das Fahrrad war noch da. Grellgelb leuchtend lehnte es an einem der alten Bäume zwischen Bolzwiese und Fahrradweg, der hier die Peripherie des Parks schnitt. Ein Anblick wie ein Willkommensgruß, fand Stahnke, erfüllt von frischem Besitzerstolz und der Erleichterung darüber, dass sein neues Spielzeug noch nicht Eingang in die alarmierende Fahrraddiebstahl-Statistik gefunden hatte. Na ja, das Stahldrahtschloss war ja auch nicht eben billig gewesen.
Ein bisschen war dieses Fahrrad – 21 Gänge und optisch einem Mountainbike nachempfunden – eine Antwort auf Marian Godehaus sportliche Aktivitäten und damit Ausdruck jener unterschwelligen Rivalität, die sich zwischen den beiden Männern entwickelt hatte. Die stämmige Figur und die in mehrfacher Hinsicht belastenden Gewichtsprobleme hatte Stahnke eigentlich immer als verbindende, dauerhafte Gemeinsamkeit zwischen ihnen betrachtet, waren sie doch nicht nur Ausdruck einer ähnlichen Veranlagung, sondern auch eines vergleichbaren Lebensstils.
Als Marian dann eines Tages seine Diät- und Sportpläne verkündet hatte, fand Stahnke das lächerlich. Dass er diese Pläne tatsächlich umzusetzen begann, hatte etwas Provokantes. Sein Erfolg aber war Verrat.
Also hatte Stahnke sich dieses Fahrrad gekauft, um zu beweisen, dass er noch viel mobiler sein konnte und dabei mit Sicherheit eine bessere Figur machte als so ein hoppelnder Jogger mit steifen Hüften. Um das Geld – weit über 500 Euro hatte das Schmuckstück gekostet – tat es ihm nicht leid. Allerdings war er bei dieser Gelegenheit darauf gestoßen, dass bei ihm zu Hause im Keller ein Rudergerät, ein Hometrainer und ein Satz Hanteln gründlich eingestaubt herumstanden. Offenbar neigte er dazu, Taten durch Käufe zu ersetzen. Jedenfalls, wenn es um körperliche Fitness ging.
Wie hieß das noch: »The difference between man and boy is in the price of his toy.« Tja, vermutlich. Jedenfalls würde er jetzt nach Holtland radeln und Marian Godehau dort am Ziel bei der Mühle erwarten. Vielleicht mit einer Flasche Wasser in der Hand. Der würde gucken.
So ein Trenchcoat war nicht sehr praktisch auf dem Rad, außerdem schien es immer wärmer zu werden; unter dem feuchten Blätterdach des Parks begann sich sogar sommerliche Schwüle zu verbreiten. Stahnke zog den Mantel aus und rollte ihn zusammen, um ihn auf den Gepäckträger zu klemmen, wobei er sorgfältig darauf achtete, dass nichts aus den Taschen fallen konnte. Vor allem dieser komische Brief nicht, der rechts außen steckte und durch vernehmliches Knistern an seine Existenz erinnerte.
Heute früh hatte der Brief bei der Dienstpost gelegen, ausdrücklich an ihn adressiert, »z. Hd. Hauptkommissar Stahnke«. Ohne Absender. Inhalt: ein Gedicht.
Jedenfalls eine Art Gedicht, ziemlich kurz und ungereimt, irgendwas von brennendem Wasser und einem Ende im Frühling. Nichts, was irgendeinen Sinn ergab. Stahnke konnte sich keinen Reim darauf machen. Möglicherweise etwas Privates, trotz der dienstlich klingenden Anrede. Aber was? Ging es um seinen Hang zu Feuerwasser? Schnaps trank er doch kaum, im Gegensatz zu Wein und Bier. Und Schluss gemacht hatte er in diesem Frühling mit niemandem. Da war ja gar nichts gewesen, was hätte beendet werden können. Traurig genug, aber wenigstens in diesem Fall halbwegs beruhigend.
Vielleicht ein blöder Scherz. Jedenfalls hatte Stahnke den Brief nicht weggeworfen. Man wusste ja nie, ganz recht, Kollege van Dieken.