Читать книгу Der Tod läuft mit - Peter Gerdes - Страница 8
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ОглавлениеEs knallte furchtbar. Marian zuckte zusammen, obwohl er den Schuss doch erwartet hatte. Er hatte ihn sogar herbeigesehnt, wie eine Erlösung hatte er ihn sich erhofft, aber als er dann fiel, ein helles, scharfes, schmetterndes Geräusch, ungedämpfter Schmerz in den Ohren, schallgewordene Unwiderruflichkeit, da war Marian doch erschüttert. Einen Moment lang war sein Körper wie erstarrt, schienen seine Muskeln verkrampft, seine Glieder wie eingefroren. Dann überlief es ihn heiß und er warf sich nach vorn, einem kompromisslosen Fluchtimpuls nachgebend, der älter war als alles, womit sich Menschen über andere Lebewesen erhoben zu haben glaubten. Marian rannte los wie ein gehetztes Tier.
Um ihn herum erklang ein Schnaufen, ein Fauchen, als würde Luft durch poröse Schläuche gesaugt und gepresst, und der Boden unter seinen Füßen begann leicht zu vibrieren. Er fühlte Hände auf seinem Rücken, Finger an seinen Armen, Stöße in seinen Rippen, eine streifende Berührung an seiner rechten Wade von einem nur um Haaresbreite fehlgegangenen Tritt. Von hinten, von allen Seiten drängte es heran. In Panik warf er sich nach vorn, beschleunigte seinen Schritt, ohne es wirklich zu wollen. Etwas schien seine Brust zu umklammern und er riss Lippen und Zähne auseinander, die er seit dem ohrenbetäubenden Knall aufeinander gepresst hatte, ohne es zu spüren. Der Laut, den er dabei ausstieß, ging in einem brausenden Geräusch unter, das an das Näherkommen eines vielbeinigen Untiers erinnerte. Schlagartig brach ihm der Schweiß aus.
Er heftete seinen Blick, eingeengt wie von der Röhre eines Tunnels, an etwas Gelbes, das direkt vor ihm zu tanzen schien, zu wippen und zu wogen, das Falten und Wellen schlug und sich langsam entfernte, Raum schaffend, der schon Sekunden später von weißlich verwischten Keulenschwüngen ausgefüllt wurde, rudernden, bedrohlichen Bewegungen, abwehrend, abschreckend wie die Stacheln eines Igels oder die Zähne im Maul eines Hais.
Unwillkürlich verhielt Marian seinen Laufschritt ein wenig, hob den Kopf leicht an und mit ihm den bisher gesenkten Blick. Im selben Moment traf ihn ein Schlag mitten ins Gesicht, ein Hieb wie von einer Peitsche, blendend über beide Augen, brennende Nässe hinterlassend. Er schrie auf. Ein keckerndes, gehässiges Lachen war die Antwort. Gleich darauf traf ihn ein spitzer Ellbogen von rechts in die kurzen Rippen. Er strauchelte, taumelte, scherte nach links aus, verließ den Strom, konnte wieder sehen, sah eine helle, massige Gestalt vor sich aufragen und prallte dagegen. Zwei mächtige Hände packen seine Oberarme, hielten ihn fest, stellten ihn sich zurecht. Aus.
»Schon fertig?«, fragte eine wohlbekannte Stimme. »Ich dachte, es geht über zehn Kilometer.«
Marian fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, betrachtete seine Handflächen: Wasser, kein Blut. Regenwasser. Ein Zweig mit nassen Blättern, im leichten Wind federnd oder aus der Hand eines Konkurrenten geschnellt.
Fahrig, wie der eines aus einer Trance Erwachten, huschte sein Blick über das breite, füllige Gesicht seines Gegenübers. »Stahnke«, sagte Marian keuchend.
»Klar«, brummte der. »Konnte mir Ihre Premiere doch nicht entgehen lassen.« Er ließ Marians Arme los. »Scheint so, als hätten Sie etwas zu hoch einsteigen wollen. Jetzt wäre wohl der bessere Zeitpunkt.«
Marian drehte sich um. Immer noch rauschte der Strom der Läufer an ihm vorbei, Hunderte und Aberhunderte. Das da jedoch waren nicht mehr die langaufgeschossenen, drahtigen Gestalten der Spitzengruppe, die mit den hohlen Wangen und dem entschlossenen Blick. Die hier waren runder und bunter, liefen verhaltener, als hätten sie den weiten Weg im Sinn, nicht das Ziel. Hier schlenkerten Arme, drehten sich Köpfe, wandten sich Gesichter plaudernd einander zu. Jogger. Richtig um die Wette gelaufen wurde weiter vorne. Dort, wo er jetzt eigentlich hätte sein wollen.
»He, Marian!« Pink über Dunkelblau wippte es an ihm vorbei, gekrönt von einem kastanienroten Haarbusch, der auswehte wie die Heckflagge einer frechen kleinen Piratenschaluppe. Sina. Sie winkte, hielt aber nicht an. Marian holte tief Luft, winkelte die Ellbogen an, lief erneut los und reihte sich ein paar Plätze hinter ihr ein.
Der kühle Wind ließ ihn spüren, wie seine Wangen brannten. Anstrengung konnte das noch nicht sein, eher Scham. Marian Godehau, der Traumtänzer. Sieben Kilo abgespeckt, ein bisschen auf dem Ergometer gestrampelt, sich an lang vergangene Fußballerzeiten erinnert, mutig für den Ostfrieslandlauf angemeldet – und natürlich gleich Flausen im Kopf gehabt. In die Startergruppe der Spitzenläufer reingedrängelt, na klar. Wie es die Deppen tun, die unbedingt mit aufs Startfoto wollen und nur alles durcheinander bringen. Die angerempelt und nach hinten durchgereicht werden, weil sie stören und nerven. Wenn die Langläufer wirklich die große Familie waren, als die sie immer gepriesen wurden, dann eine mit Problemkindern.
Marian spürte, dass er die Lippen zurückgezogen hatte und mit gefletschten Zähnen lief. Seine Armmuskeln waren viel zu stark angespannt, seine Schritte zu stampfig, und das Herz pochte Alarm. Er versuchte sich auf seine Atmung zu konzentrieren: Ein – zwo, drei, vier, und aus – zwo, drei, vier. Er konnte spüren, wie sich sein Puls nach und nach normalisierte. Seine Schritte wurden länger und weicher. Ein gutes Tempo, es schien ihm zu entsprechen. Genau das Tempo der Jogger um ihn herum. Marian begann sich damit abzufinden.
Wieder heftete er seinen Blick an ein vor ihm tanzendes, wippendes, wogendes, Falten und Wellen schlagendes Läufertrikot, ließ sich von seinen Bewegungen beruhigen und ziehen. Ein pinkfarbenes Trikot über einer dunkelblauen Radlerhose. Marians Blick rutschte ein Stückchen hinunter über den dünnen, glatten Stoff der eng anliegenden Hose, der sich im Laufrhythmus mal links, mal rechts aufwölbte. Ein netter Anblick, der ihn dazu bewog, noch ein paar Meter aufzuschließen.
Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass er hinter Sina lief, dass er heute Morgen an genau diesen Po geschmiegt aufgewacht war. Sie lief mit unbekümmerter Lockerheit, federnd, fast schwebend, wie von Instinkten gesteuert. Marian wischte sich den Schweiß von der Stirn und wunderte sich über Sinas unruhige Armführung, bis er merkte, dass sie sich offenkundig angeregt und immer wieder heftig gestikulierend mit dem Läufer zu ihrer Rechten unterhielt, einem dunkellockigen, breit grinsenden, etwas übergewichtigen Kerl mit der animalischen Ausstrahlung ungetrübter Selbstgefälligkeit, der trotz seiner vielleicht 50 Jahre ziemlich fit wirkte und ganz bestimmt nicht deshalb hier im hinteren Teil des Feldes neben dieser bildhübschen Frau lief, weil er nicht schneller gekonnt hätte. Marian kannte diesen Mann, kannte ihn nur zu gut, und es behagte ihm gar nicht, gerade ihm auf einem Terrain zu begegnen, auf dem er offenkundig nicht mithalten konnte.
Man sollte nur Sachen machen, die man kann, dachte Marian. Aber wer wusste schon, was er konnte, ohne es zu versuchen? Laufen, um die eigenen Grenzen zu erkunden. Ha! Dafür, so schien es, würde er wohl nicht allzu weit laufen müssen.