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Und wenn ich jetzt sterbe? Wenn ich jetzt tot umfalle? Marian konnte sein rasend pochendes Herz bis in die Mundschleimhäute hinein spüren. Beim Laufen konnte man sterben, das wusste er. Hatte neulich erst wieder in einer Illustrierten gestanden. Immer wieder starben Menschen beim Sport, auch junge Menschen, meist im Wettkampf, meistens Männer. Weil sie sich keine Blöße geben mochten, keine Schwäche eingestehen konnten. Einfach weitermachten, bis die Pumpe genug hatte. Und peng.

Sein Herz tat einen deutlichen Hüpfer. Hatte er nicht letzte Woche erst eine Erkältung gehabt? War das vielleicht ein Infekt gewesen, ein Virus? Konnte es beim Sport nach verschleppten Virusinfektionen nicht zu Herzmuskelentzündungen kommen? Waren nicht schon weit kräftigere Naturen als er an so etwas gestorben? Oh Gott, dachte Marian, ogottogott! Und lief weiter.

Sein Nacken glühte, seine Brust ließ sich einfach nicht mehr weit genug dehnen, um genügend von dem Atem zu fassen, der rasselnd durch seine Kehle schabte, seine wundgescheuerten Achselhöhlen brannten, und seine Beine schienen in zähem Rübensaft zu stecken. Es reichte. Warum hielt er nicht einfach an? Was für ein herrlicher Gedanke: Die verkrampften, schmerzenden Arme aus ihrer Winkelhaltung lösen und langsam, ganz langsam senken, der Erdanziehung nachgeben, sie ausschütteln und dabei der Süße des nachlassenden Schmerzes in den entkrampfenden Muskeln nachspüren. Den Laufschritt verlangsamen, die Fußsohlen noch zwei-, dreimal auf den Asphalt klatschen lassen, dann ausscheren, vielleicht nach links, da war Gras, das sah weich aus, verlockend. Jetzt stehen bleiben, die Hände auf die Oberschenkel stützen und atmen, nur noch atmen, Luft schöpfen und immer weiter schöpfen, bis es reichte, bis er endlich wieder satt war an Sauerstoff, bis das wild trommelnde Herz in einen sanfteren Rhythmus gefunden hatte. Und dann langsam, langsam zu Boden sinken, ins weiche Gras, die Halme an Beinen und Händen spüren und den ausgehungerten Körperzellen bei der Fütterung lauschen. Ein Traum. Ein Traum? Lief er denn überhaupt noch? Ja, allerdings. Noch lief er. Aber musste er denn? Jederzeit konnte er Schluss machen, jetzt gleich, sofort, der Qual ein Ende machen. Arme, Beine, Lunge. Anhalten, hinsetzen, ausstrecken, einfach nur daliegen.

Und die anderen vorbeilaufen sehen?

Kilometer neun. Hier war schon Kilometer neun. Zehn Kilometer war die erste Etappe lang. Dann war er ja fast schon im Ziel. Nur noch einen Kilometer, das war doch so gut wie gar nichts. So kurz vor dem Ziel konnte man doch nicht aufgeben. Marian wiederholte diesen Gedanken, sprach ihn sich lautlos vor, um ihm die Gelegenheit zu geben, seine belebende Wirkung zu entfalten, zu Rhythmus zu werden, wartete ungeduldig darauf, dass ein neuer Energieschub durch Arme, Beine und Lunge prickelte.

Aber das Einzige, was da prickelte, war sein Kopf. Offenbar der einzige Körperteil, dem es etwas ausmachte, womöglich nicht bis ins Ziel getragen zu werden. Typisch. Der Kopf braucht nur zu wollen, der Rest muss dafür arbeiten. Leitendes Anhängsel. Und das Herz macht dann den Abgang. Wie aufs Stichwort glaubte er, wieder Rhythmusschwankungen in seinem Brustkorb zu spüren.

Einen Kilometer noch. Das waren 1.000 Meter. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich in der Sportstunde vor dem 1.000-Meter-Lauf gefürchtet hatte. Schrecklich. Siedend heiß fiel ihm ein, dass diese Etappe außerdem nicht genau zehn Kilometer lang war, sondern gut zehn Kilometer. Also mehr als zehn. 10 Komma nochwas. Dieses kleine Plus war ihm vor dem Start unwichtig vorgekommen. Wie viel genau? 10,8. Also fast elf. Also fast noch 2.000 Meter, oh Gott, nein.

Aber er lief und lief und lief weiter. Das Gras am Streckenrand war noch immer grün, aber die weiche Stelle, die ihm so verlockend erschienen war, die lag schon ein Stück zurück.

Schnurgeradeaus ging es jetzt, zwischen aufgereihten jungen Birken hindurch, hinter denen sich graubraune Felder erstreckten, weit und eben wie Kuchenplatten. Da links musste irgendwo die Bundesstraße sein. Brannte es da? Nein, ein Bauer eggte sein Feld, und grauer Staub stieg hoch auf wie Rauch. Der Traktor hatte eine geschlossene Kabine, vermutlich klimatisiert und mit Stereo-CD-Player. Dem Mann da drinnen würde es wohl kaum einfallen, bei diesem Wetter draußen in der prallen Sonne herumzurennen. Der war ja nicht blöd. Der saß auf seinem gasdruckgedämpften, gut gepolsterten Treckersitz und hörte Techno, irgend so ein Daggadaggadaggadumpfdumpf, wie man es nachts durchs Schlafzimmerfenster hören konnte, wenn die Tiefergelegten ihre Runden drehten. Daggadaggadumpf. Dadumpf. Macht schön stumpf, daggadaggadumpf. Eins zwo, eins zwo. Daggadaggadumpf. Dadumpf. Dadumpf.

Menschen. Klatschen. Rufe, unverständlich, aber anfeuernd. Die Birkenallee war plötzlich auf einen kleinen Rest zusammengeschrumpft, da war eine Kurve, da standen Leute. Den letzten Kilometer musste er wie in Trance gelaufen sein. Jetzt, jetzt endlich spürte er das Prickeln, auf das er vor anderthalb Kilometern vergeblich gewartet hatte, fühlte neue Kraft in seinen Oberschenkeln, an deren Innenseiten schon seit geraumer Zeit ein gut entwickelter Wolf knabberte, jetzt endlich war er sicher, das Ziel doch noch zu erreichen. Mit dem Kopf und mit dem Rest seines Körpers auch. Lebendig.

Da war das Ziel, da war die Einlaufgasse, da standen die Unentwegten, die aus Prinzip applaudierten, um auch wirklich jede irgendwie erbrachte Leistung zu würdigen, wobei viele Gesichter durchaus andere Motive verrieten. Die Ankunft der Nachhut, der schwankenden Gestalten, der Fußkranken des langen Marsches schien auch eine Menge wohliger Schadenfreude zu bereiten.

Viele der in kleinen Gruppen plaudernd Herumstehenden trugen Sportkleidung, lose um die Schultern hängende Trainingsjacken und kurze Hosen, standen völlig entspannt, atmeten ruhig, Stirn und Haare bereits wieder von der Sonne getrocknet. Die Läufer, die richtigen Läufer. Einige rüsteten schon zur Heimfahrt, winkten Grüße, vorbei an denen, die ein ganz anderes Rennen gelaufen zu sein schienen, das erst jetzt beendet war. Endlich.

Marian entdeckte Stahnke, während er die Ziellinie überquerte und unmittelbar dahinter stehen blieb, unfähig und auch nicht willens, auch nur einen weiteren Meter zu laufen, krebsrot und nach Luft schnappend wie ein Fisch. Der Gesichtsausdruck des Hauptkommissars war schwer zu deuten. Jedenfalls grinste er nicht, was Marian noch am ehesten erwartet hatte. Trotzdem drehte er sich weg. Nein, jetzt nicht. Irgendwer reichte ihm einen Becher, und er trank gierig.

Wo war Sina? In dem Getümmel zwischen Zielraum und Parkplatz, Krankenwagen und Getränkeständen konnte er sie nirgends entdecken. Dafür sah er den weißhaarigen alten Mann, der ihn unterwegs überholt hatte. Jetzt taumelte er zwischen zwei Sanitätern, die Arme um ihre Schultern gelegt, mit hängendem Kopf und eingeknickten Knien, und wurde zum Krankenwagen geführt, interessiert beäugt von zwei knorrigen Uniformierten. Keine Spur mehr von erfolgsgewohnter Führungskraft – ein Wrack.

Marian sah es mit einer Befriedigung, die von keinerlei Scham getrübt war. Immerhin hatte ihn dieser Mensch durch die selbstgefällige Demonstration seiner angeblichen Überlegenheit fast zur Aufgabe getrieben. Einer Überlegenheit, die es wohl vor allem in seinem Kopf gab und deren Demonstration der Körper hatte ausbaden müssen. Was offenkundig über seine Kräfte gegangen war. Alter Angeber. Geschah ihm recht.

Da war Sina. Sie palaverte schon wieder mit diesem schwarzlockigen Büffel, dem man es an der Nasenspitze ansehen konnte, wie sehr ihm gerade der Sinn nach einer gemischten Dusche stand. Die beiden gingen an ihm vorbei, ohne ihn wahrzunehmen, so nahe, dass er nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um Sina zu berühren.

Aber er tat es nicht.

Der Tod läuft mit

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