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Bremen, Dienstag 10. Februar 2009, 12.45 Uhr

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Es war nicht mehr auszumachen, von wem die Nachricht ursprünglich kam – im Rathaus machte plötzlich das Gerücht die Runde, dass es zu einer Explosion in einer privaten Schule im gehobenen Bremer Stadtteil Schwachhausen gekommen sei. Die Medienvertreter versuchten im Rathaus sofort einen derjenigen zu erwischen, die eben noch die Pressekonferenz abgehalten hatten.

Die Journalisten probierten mit ihren mobilen Geräten im Internet herauszubekommen, um welche Schule es sich handeln könnte. Andere versuchten direkt die Pressestelle der Polizei oder des Innensenators zu kontaktieren. Der Vertreter der regionalen Zeitung schien etwas über die Redaktion herausbekommen zu haben und nannte den Kollegen die Adresse.

Der Medientross machte sich auf den Weg zum möglichen neuen Ort eines Anschlags. Im Grunde musste man nur den Martinshörnern folgen, die plötzlich überall zu hören waren. In der Umgebung der Schule lag Rauch in der Luft. Die Polizei hatte aber bereits mit quergestellten Einsatzwagen die Straßen verengt und ließ nur noch Fahrzeuge der Feuerwehr oder Krankenwagen passieren.

Wer sich nicht als Anwohner ausweisen konnte, wurde nicht herangelassen. Es gab einige Journalisten, die versuchten Anlieger, die gerade aus dem Gebiet kamen, zu bestechen. Sie wollten, dass die Anwohner nochmals umkehrten und sie mit hineinnahmen. Die Polizei ließ aber niemanden passieren der keinen Ausweis hatte.

Diese Anweisung kam direkt vom Polizeipräsidenten – er wollte keine Bilder von Toten oder Verletzten in den Medien sehen. Die Journalisten waren auf die Informationen angewiesen, die sie von den Grundstücksnachbarn erhielten.


*

Rotberg saß mit dem Polizeipräsidenten gerade im Nebenraum des Ratssaales, als ihn der Anruf aus dem Präsidium erreichte. Nur Sekunden später klingelte auch das Telefon des Polizeipräsidenten. Beide hörten zu und sahen gegenseitig an ihrer Mimik, dass der andere gerade dieselbe Nachricht bekam.

Als sie fast zeitgleich aufgelegt hatten, sagte von Berghausen: „Kommen Sie, draußen wartet ein Fahrer auf mich, wir fahren gleich hin. Rotberg und von Berghausen verließen das Rathaus über einen Nebenausgang, an dem die dunkle Limousine mit einem aufgesetzten Blaulicht wartete. Die Straßen waren verstopft, sodass der Fahrer trotz Blaulicht und Martinshorn nicht überall zügig passieren konnte.

Der Polizeipräsident rief noch vom Auto aus den Innensenator an – der hatte bereits davon erfahren. Er sagte, er wolle später auch hinzukommen. Rotberg rief Sabrina Hamm an und fragte, ob sie und die anderen vom Team unterwegs seien.

Der Fahrer fuhr die Limousine so dicht an den Explosionsort heran, wie es ging. Die Straße war übersät mit Bruchstücken und Scherben. Es lagen einige zugedeckte Körper auf der Straße, viele davon waren offensichtlich Kinder.

Rotberg kannte Bremen eigentlich sehr gut. Er versuchte sich zu erinnern, ob er das Gebäude, das hier gestanden hatte, schon einmal bewusst wahrgenommen hatte. Es fiel ihm nicht ein. War es ein Neubau inmitten dieser feinen Gebäude vom Anfang des letzten Jahrhunderts oder war es ein altes Bauwerk? Er sah sich auf der Straße nach Trümmerteilen um und bemerkte an einigen Bruchstücken, dass es ein altes Haus gewesen sein musste.

Er wollte den Rettungskräften nicht im Wege stehen und näherte sich dem Ruinenfeld von der gegenüberliegenden Straßenseite. Er wollte sehen, wie weit nach hinten das Gebäude gereicht haben musste. Es war, soweit er es beurteilen konnte, ein recht großes Haus gewesen.

Wenige Schritte von ihm entfernt sah er den Einsatzleiter Günter Timm. Der gab seinen Männern Anweisungen und lauschte in sein Sprechfunkgerät. Rotberg überlegte, ob er ihn kurz begrüßen sollte. Er nutzte einen Augenblick, in dem Timm dem Geschehen zusah und ging auf ihn zu.

„Mensch, Herr Rotberg“, sagte er, „sagen Sie, dass das alles nicht wahr ist. Wenn ich nicht so beschäftigt wäre, würde ich mich hier hinsetzen und weinen.“

„Haben Sie geschlafen in der vergangenen Nacht?“, fragte Rotberg.

„Drei Stunden in der Feuerwache. Ich bin gerade vom Erdbeerweg wieder zurück in der Wache gewesen und hatte mich geduscht, da kam der Alarm.“

„Wissen Sie schon was?“

„Ne, noch gar nichts. Die Verletzten, die nicht unter den Trümmern begraben wurden, sind noch nicht ansprechbar. Vielleicht gucken Sie mal rum, ob Sie jemanden sehen, der etwas darüber sagen kann, wie viele Menschen im Gebäude waren“, meinte Timm.

„Mach ich“, sagte Rotberg und sah sich um, ob es Personen gab, die nur leicht verletzt aussahen und gerade ärztlich versorgt wurden. Knappe zehn Meter von ihm entfernt saß ein junger Mann auf einem Trümmerstück. Vor ihm hockte ein Sanitäter und versorgte die kleineren Wunden.

„Guten Tag“, sagte Rotberg zu dem Sanitäter, „ich bin von der Kriminalpolizei. Kann ich mit dem jungen Mann mal reden, wenn Sie fertig sind.“

„Da müssen Sie den jungen Mann fragen“, antwortete der Angesprochene.

„Geht das?“, fragte Rotberg den Verletzten.

„Ja, wird schon gehen“, meinte der.

„Du kannst auch Nein sagen.“

„Ne, ne, geht schon.“

Der Sanitäter klappte seinen Koffer zu und ging zum nächsten Verletzten.

Rotberg setzte sich neben den jungen Mann: „Ich heiße Sebastian Rotberg und bin von der Bremer Kriminalpolizei. Ich habe vor einer halben Stunde von der Explosion hier erfahren und bin gleich hergekommen.“

„Kriminalpolizei?“, fragte der junge Mann, war das hier kein Unfall?“

„Das weiß ich nicht – ich hatte gehofft, du könntest mir irgendetwas sagen“, meinte Rotberg. Er holte einen kleinen Rekorder aus der Tasche. „Darf ich das aufnehmen, was wir sprechen?“

Der junge Mann zuckte mit den Schultern, was Rotberg als Zustimmung wertete.

„Bevor wir uns unterhalten, sag’ mir doch bitte deinen Namen.“

„Dominik.“

„Und der Nachname?“

„Falter.“

„Dominik Falter. Du gehst hier zur Schule?“

„Ja, zwölfte Klasse.“

„Wie alt bist du Dominik?“

„Ich bin achtzehn.“

„Kannst du mir sagen, wie du das hier erlebt hast?“, fragte Rotberg und machte eine undifferenzierte Handbewegung über das Trümmerfeld.

„Ich weiß das auch nicht so genau. Das ging alles so schnell.“ Er überlegte. „Ich hatte einen Kurs in Kunst und war der Erste, der das Haus verlassen hatte, ich habe jetzt eigentlich Handballtraining.“

Rotberg schwieg und beobachtete ihn von der Seite. Dominik hatte sich vornüber gebeugt und stützte die Ellenbogen auf die Beine. Er drückte an seinen Fingern und brachte den ein oder anderen zum Knacken. Der Junge war voller Anspannung und Trauer.

„Ich war gerade vorn am Tor, als es knallte. Zwei Sekunden später ein zweites Mal“, fuhr Dominik fort. „Ich habe mich total erschrocken und im Reflex meine Hände an den Hinterkopf gehalten. Dann knackte und knirschte es. Mit einem Getöse fiel die Schule in sich zusammen. Ich habe erst gar nichts gemerkt, nur dass mir eine Flüssigkeit die Wange runterlief. Als ich mit der Hand wischte, waren meine Finger rot von Blut.“

Dominik machte eine Pause. Er versuchte, nicht zu weinen. Rotberg sah aber, dass sich seine Augen mit Tränen füllten.

„Wenn es dir lieber ist, hören wir jetzt auf“, sagte Rotberg. „Ich würde dann morgen bei dir zu Hause vorbeikommen.“

Dominik weinte jetzt. Rotberg legte den Arm um dessen Schulter. Er wolle nach einem Polizeibeamten sehen, der ihn nach Hause fahren könne. Er forderte den Jungen auf, sitzen zu bleiben – er würde jemanden schicken. Damit erhob er sich, ging zu einem Beamten, den er bat, den Jungen aus dem Unglücksbereich zu bringen und nach Hause zu fahren.

Rotberg ging auf das zusammengefallene Gebäude zu. Er achtete darauf, dass er keinem Helfer im Wege stand. Er verharrte einen Moment regungslos und sah ins Nichts. Er war an diesem Ort der überflüssigste Mensch. Er konnte nichts tun.

Rotberg ging zurück zur Straße und setzte sich auf ein Trümmerstück. Er merkte jetzt, dass er zu zittern begann. Seine Hände wurden feucht und er bekam eine Hitzewallung – im nächsten Moment war er am ganzen Körper schweißnass. Er rieb sich mit den Handflächen übers Gesicht. Ein Sanitäter bemerkte ihn.

„Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie Hilfe?“, fragte der und legte Rotberg eine Hand auf die Schulter.

„Was haben die hier angerichtet?“, Rotberg sah den Sanitäter mit großen Augen an. „Ich habe völlig falsch entschieden! Harald hatte recht mit seiner Skepsis.“

Der Sanitäter sah ihn überrascht an. „Geht es Ihnen gut?“, fragte er nochmals.

„Haben Sie eine Kopfschmerztablette?“, fragte Rotberg.

„Bleiben Sie sitzen, ich hole Ihnen etwas.“

Rotberg blieb, wo er war. Der Sanitäter kam nach einer Minute zurück. Er hatte zwei Blisterverpackungen in der Hand. Noch im Kommen drückte er die Tabletten heraus und bedeutete Rotberg, dass er seine Hand öffnen solle.

„Was ist das?“, fragte Rotberg.

„Das eine ist gegen Kopfschmerzen und das andere hilft Ihnen ein wenig gegen Stress. Sollen wir Sie in eine Klinik fahren?“

„Unsinn“, sagte Rotberg, „ich habe zu arbeiten.“

„Arbeiten?“, fragte der Sanitäter. „Hier? In Anzug und Mantel?“

Rotberg kippte sich die beiden Tabletten in den Mund, nahm den Plastikbecher mit Wasser vom Sanitäter entgegen und spülte die Tabletten runter.

„Danke“, sagte er. „Ich bitte um Entschuldigung – ich wollte Sie nicht so anraunzen. Ich bin von der Kriminalpolizei. Wir haben fast die ganze Nacht mit dem Fall von gestern verbracht. Und jetzt das hier ...“ Rotberg stand auf und sah über die Trümmerwüste. „Das hält ja keine Sau aus.“

„Vielleicht sollten Sie ein nach Hause fahren und mal zwei Stunden die Beine hochlegen“, meinte der Sanitäter.

Rotberg legte ihm eine Hand auf die Schulter: „Sie sind wirklich sehr freundlich. Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl. Ich glaube aber, es gibt hier genügend Menschen, die Ihre Hilfe viel nötiger brauchen.“

Rotberg sah, dass Wesselmann und Sabrina Hamm auf ihn zukamen. Er drückte dem Sanitäter die Hand und verabschiedete sich.

„Derselbe Täter?“, fragte Wesselmann.

Rotberg zuckte die Schultern. „Ich habe gerade mit einem Jungen gesprochen, der die Sache haarscharf überstanden hat. Er hat es kurz nacheinander zweimal knallen gehört.“

„Das muss nichts heißen“, meinte Wesselmann.

Rotberg sah ihn an: „Harald, ich hätte gestern Abend auf dich hören sollen.“

„Was habe ich denn da gesagt?“

„Du hattest ein schlechtes Gefühl gegenüber meinem Vorschlag, dass wir Verhandlungen verzögern sollen.“

„Ich habe immer ein schlechtes Gefühl – bei allem“, meinte Wesselmann. „Das hat nichts zu bedeuten.

„Was hätten wir anderes tun sollen?“, meinte Sabrina Hamm. „Hundert Millionen von der Bank holen und in einem Papierkorb deponieren?“

„Außerdem wissen wir überhaupt nicht, was hier eigentlich passiert ist“, ergänzte Wesselmann.

„Das war garantiert derselbe Täter, das habe ich in der Nase“, meinte Rotberg. „Ich hätte nie gedacht, dass jemand zu solch einer Kälte fähig ist.“

„Die Spurensicherung habe ich schon auf die Reise geschickt“, sagte Sabrina Hamm, „die müssten gleich hier sein.“

„Ich muss euch ehrlich sagen, dass ich im Moment nicht in der Lage bin, einen klaren Gedanken zu fassen“, Rotberg sah die Kollegen an. „Ich weiß überhaupt nicht, wo wir anfangen sollen. Wir haben keine eigenen Optionen. Der Täter treibt uns mit einer Brutalität vor sich her – wir können jetzt jeden Tag an solch einen Tatort fahren oder wir müssen zahlen.“

Die drei standen nebeneinander am Rand des Geschehens und sahen dem Treiben zu, ohne ein Wort zu sprechen. Nach einer Minute des Schweigens merkte Rotberg, dass der Polizeipräsident von hinten an sie herangetreten war.

„Meine Güte“, sagte er, „so was habe ich noch nicht erlebt. Er machte eine Gedankenpause: „Der Innensenator und der Bürgermeister werden gleich hier sein. Sie werden uns fragen, wie wir vorgehen wollen.“

„Tja ...“, Rotberg überlegte: „ ... Herr von Berghausen, ich weiß es nicht. Jetzt kommt gleich die KTU und sieht nach den Spuren, die ein erneutes Verbrechen bestätigen könnten. Der Täter wird sich vermutlich wieder melden.“

„Ich möchte meine Kompetenzen nicht überschreiten ...“ sagte Sabrina Hamm, „... aber darf ich etwas dazu sagen?“

„Wieso sollten Sie Ihre Kompetenzen überschreiten, wenn Sie etwas sagen?“, fragte der Polizeipräsident.

„Na ja“, meinte sie, „ich bin hier das Küken in der Runde.“

„Also, legen Sie los!“

„Ich habe nach dem Krisenstab gestern Abend gedanklich durchgespielt, wie die Täter das Geld übernehmen wollen. Per Banküberweisung auf ein Nummernkonto wird nicht funktionieren.“

„Warum nicht“, fragte Rotberg.

„Mit diesem Tathintergrund erhalten wir überall auf der Welt sofort Amtshilfe. Es dauert keine zwei Tage, dann haben wir sie.“

„Ist das so?“, fragte Rotberg.

„Wahrscheinlich“, antwortete der Polizeipräsident.

„Ich bin überzeugt, dass wir eine Bargeldübergabe haben werden“, setzte Sabrina Hamm ihre Spekulationen fort. „Einhundert Millionen Euro in gemischten Scheinen – je nachdem in welcher Notenmischung der Täter das Geld will, ist es ein kleiner oder ein größerer Lieferwagen voll.“

„Sie wollen damit sagen, das ist soviel Geld, dass er damit nicht einfach verschwinden kann, ohne dass wir ihn erwischen“, meinte von Berghausen.

„Genau!“, sagte sie, „wenn er es geschickt anstellt, könnte er uns entkommen. Mittels GPS kann man ihm auf der Fährte bleiben.“

„Aber nur bis zum ersten Umladen“, gab Wesselmann zu bedenken.

„Spätestens dann haben wir ihn“, sagte sie.

„Und wenn es Komplizen gibt?“, fragte Rotberg. „Komplizen, die ihn freipressen. Wie die das machen, können wir uns ausmalen.“

„Das ist wahr“, setzte Sabrina Hamm ihre Überlegungen fort. „Hundert Millionen Euro ist eine sehr große Geldmenge, wenn die Scheinnummern notiert werden, kommen wir ihnen auf die Spur. Falls nicht gleich, dann eben erst in ein paar Monaten.“

„Von hundert Millionen willst du die Nummern notieren?“, fragte Rotberg.

„Das geht heute ganz einfach“, meinte sie, „das geschieht elektronisch.“

„Meinen Sie, dass die uns genügend Zeit dafür lassen?“, wollte von Berghausen wissen.

Sie nickte: „Ich hatte mir überlegt, dass sofort damit begonnen werden könnte. Wir erfassen ausreichend Nummern von jeder Notensorte. Wenn bekannt ist, in welcher Kombination ausgezahlt werden soll, wird das Geld von diesem notierten Depot genommen. So kann man schnell reagieren.“

„Welche Bank tut das?“, fragte Wesselmann.

„Die Landesbank.“

Die drei Männer sahen schweigend über das Ruinenfeld.

„Im Moment weiß ich auch nichts Besseres“, meinte der Polizeipräsident. „Die Geldscheinnummern zu notieren kann ja zunächst nicht schaden. Ich setzte mich jetzt gleich mit dem Innensenator in Verbindung und der kümmert sich dann hoffentlich um die Landesbank.“

Rotberg und sein Team verteilten sich auf dem Gelände. Sie schauten nach Menschen, die eventuell vernehmungsfähig waren. Rotberg erblickte einen Mann von etwa vierzig Jahren, der am Rande der Trümmer saß. Er ging zu ihm.

„Ich sehe, Sie sind bereits ambulant medizinisch versorgt worden“, dabei deutete er auf ein Pflaster, dass mit Mullstoff offensichtlich eine Kopfverletzung des Mannes abdeckte. „Haben Sie fünf Minuten Zeit für mich oder geht es Ihnen sehr schlecht?“

Der Mann sah zu Rotberg auf und musterte ihn.

Rotberg zeigte dem Mann seinen Dienstausweis: „Sebastian Rotberg, ich bin Polizeihauptkommissar.“

„Marco Gleisner, ich bin Lehrer an dieser Schule. Mir geht es zwar nicht sonderlich gut, ich kann Ihnen aber ein paar Fragen beantworten.“

„Vielen Dank, Herr Gleisner“, Rotberg notierte den Namen. „Sie sagen mir einfach, wann Sie genug haben und dann hören wir sofort auf, okay?“

Gleisner nickte und sah über den Platz, auf dem vor kurzem seine Schule gestanden hatte. „Waren das dieselben Verbrecher, die gestern auch in den Kindergarten eine Bombe gelegt hatten?“

Rotberg machte eine vage Handbewegung. „Es ist zu früh, um uns festzulegen“, antwortete er. „Es kann natürlich ebenso gut eine andere Explosion gewesen sein und es ist einfach ein zufälliges zeitliches Aufeinandertreffen.“

Gleisner blickte ihn skeptisch an.

„Ich frage Sie einfach einige Dinge, möglicherweise kommen wir der Wahrheit ein Stück näher.“

Der Lehrer verzog keine Mine – Rotberg wartete einen Moment und fragte: „Was glauben Sie, wie viele Personen sich zum Zeitpunkt der Explosion im Gebäude aufhielten?“

Gleisner rieb sich über den Mund. Er überlegte. „Wir haben achtundneunzig Schüler – wir sind eine kleine Privatschule, müssen Sie wissen.“

Der Kommissar nickte und notierte die Zahl.

„Es sind zwanzig Lehrkräfte beschäftigt.“ Er zählte vor dem inneren Auge, „vier Personen in der Verwaltung, das Hausmeisterehepaar, ich glaube, vier Frauen in der Küche. Theoretisch also hundertachtundzwanzig. Praktisch vielleicht einhundert.“

„Das ist ja schon eine ziemlich perfekte Einschätzung.“

Rotberg sah den Lehrer an: „Sie hatten offenbar viel Glück, Herr Gleisner. Befanden sie sich außerhalb des Gebäudes, als das hier passierte?“ Dabei beschrieb Rotberg eine Bewegung mit dem Stift über die Ruine der Schule.

„Fast“, antwortete Gleisner, „ich hatte auf dem Gang ein paar Worte mit einem Schüler gewechselt ...“

Rotberg blätterte in seinem Heft zurück: „Mit Dominik Falter?“

„Ja, genau“, Gleisner sah ihn überrascht an. „Er war auf dem Weg nach draußen. Wir haben einige Sätze geredet. Ich bin ihm wenige Sekunden später gefolgt. Die Tür war noch nicht vollständig ins Schloss gefallen, als es diesen lauten Knall gab.“ Gleisner drückte sich bei diesen Worten die Mittelfinger aufs Ohr. „Ich weiß nicht genau, was dann passierte, im nächsten Augenblick lag ich im Freien auf der Erde. Blut lief mir von der Stirn, dann gab es eine zweite Explosion. Ich duckte mich instinktiv flach an den Boden und schütze meinen Kopf mit den Armen. Es fielen Trümmerstücke herunter. Ich bin grün und blau.“

„Sie sollten sich in eine Klinik bringen lassen“, Rotberg sah in besorgt an.

„Sie haben recht“, meinte der Lehrer. Er zögerte einen Moment: „Könnten Sie mir Ihr Telefon leihen, um meine Frau anzurufen. Meines ist irgendwie im Chaos verschwunden.“

Rotberg griff in die Tasche, holte sein Mobiltelefon raus, er reichte es ihm. „Herr Gleisner, bevor Sie telefonieren, habe ich noch zwei Fragen – dann sind Sie entlassen. Ich würde Sie morgen nochmals aufsuchen.“

Der Lehrer hielt das Telefon in den Händen und sah ihn abwartend an.

„Gibt es in der Schule einen Gasanschluss – Gasheizung oder Gasherde? Wenn ja, können Sie mir in etwa zeigen, wo die Heizanlage gewesen war? Die zweite Frage: Haben Sie vor der Explosion Gasgeruch wahrgenommen?“

„Ja, wir hatten eine Gaszentralheizung“, antwortete Gleisner. Er schaute zu den Trümmern. Er zeigte ungefähr in die Mitte der Ruine: „Sehen Sie dort das Stückchen Rohr aufragen? Das ist mit Sicherheit der Kamin gewesen – darunter wird die Anlage gelegen haben.“

Rotberg sah das Rohrstück: „Das ist einleuchtend. Und Gasgeruch?“ Er tippte dabei an die Nase.

„Gas?“ Gleisner dachte nach. „Nein, das wäre mir aufgefallen“.

„Danke“, meinte der Kommissar. „Jetzt rufen Sie am besten Ihre Frau an. Ich kümmere mich darum, dass Sie in die Klinik kommen – ich bin gleich wieder bei Ihnen.“

Er wandte sich zum Gehen: „Ach, nur noch eine Frage – gab es eine Videoüberwachung im Haus?“

„Ja, ich glaube, es gab drei oder vier Kameras rund ums Gebäude.“

„Nur außen?“, fragte Rotberg.

„Ja, innen hatten wir uns dagegen ausgesprochen.“

„Vielen Dank, nun lasse ich Sie endgültig telefonieren.“ Rotberg ging zu einem Rettungswagen, er bat einen Sanitäter, Herrn Gleisner in ein Krankenhaus zu fahren.

Rotberg hatte die Kollegen in den weißen Anzügen bemerkt. Er erzählte von dem Gespräch mit dem Lehrer und stolperte, begleitet von den Beamten in Weiß, über das Trümmerfeld in Richtung des ehemaligen Kamins.

„Wir müssen es machen wie gestern am Kindergarten“, meinte der Leiter der Forensik. „Mit einem Bergungskran tragen wir Schicht um Schicht ab.“

Rotberg ging auf die Suche nach Günter Timm, dem Einsatzleiter der Feuerwehr. Er sah ihn gestikulierend in einer Gruppe seiner Männer.

„Wahrscheinlich haben Sie es bereits veranlasst“, sagte der Kommissar zu Timm, „ich möchte, dass die Anwohner von hier weggebracht werden. Insbesondere die, die auch noch fotografierend herumlaufen. Wir könnten Sie mit dem Hinweis auf Einsturzgefahr ihrer Häuser von hier fortkomplimentieren.“

„Wir haben alle aus den Gebäuden herausgeholt“, antwortete Timm. „Die laufen aber hier natürlich noch rum.“

„Sehen Sie, ich dachte mir, dass Sie das getan haben.“ Rotberg legte ihm die Hand auf den Unterarm. „Ich schnappe mir jetzt ein paar uniformierte Kollegen, die bringen die Leute weg von hier.“

Es gab Unmut unter den Anwohnern. Einige waren einsichtig, andere argumentierten, dass Sie Angst hätten, dass Einbrecher dieses Chaos nutzen könnten, um in die Häuser einzusteigen. Die Polizei ließ nichts gelten und sorgte innerhalb von zwanzig Minuten dafür, dass niemand mehr in dem Gebiet herumlief, der hier nichts verloren hatte.

In der Zwischenzeit bahnte sich der Bergungskran den Weg bis an die Trümmer heran. Nach einer halben Stunde war er aufgebaut und begann unter Anleitung der Feuerwehr die großen Trümmerteile beiseite zu räumen. Man hatte zuvor einige verletzte und auch tote Personen aus den Trümmern geborgen. Der schwere Dachstuhl lag jedoch wie ein Deckel auf der Ruine. Der Kran räumte das Dach Stück für Stück fort.

Die Schüler, die sich zum Zeitpunkt des Einsturzes im Dachgeschoss befunden hatten, fand man zuerst. Einige lebten und waren mehr oder weniger stark verletzt, bei anderen konnten die Ärzte nur noch den Tod feststellen. Es gab dramatische Rettungsszenen. Ärzte und Sanitäter rangen darum, schwerstverletzte Schüler zu stabilisieren. Einige Versuche schlugen fehl. Man merkte den Medizinern ihren hilflosen Zorn an, wenn sie es nicht schafften. Auch die Helfer würden in den nächsten Tagen schlecht schlafen.

Rotberg wusste, dass die Zahl der Toten zunehmen würde, je tiefer man suchte. Er sah Sabrina Hamm am Rande stehen – sie sah den Bergungstrupps bei der Arbeit zu. Er ging zu ihr.

„Wie geht es dir?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern, ohne zu antworten. Er sah sie von der Seite an, sie schien innerlich aufgewühlt zu sein. Würde sie jetzt sprechen, kämen ihr die Tränen. Er wartete ab.

„Wenn du dich ausruhen willst, mach doch Schluss für heute. Wir können hier sowieso nichts ausrichten“, versuchte er sie zu beruhigen.

Sabrina Hamm schüttelte den Kopf. Sie schob die Unterlippe vor und zog die Mundwinkel nach unten. Sie sagte immer noch nichts. Rotberg sah, dass ihre Augen feucht wurden.

Er hakte sie unter: „Komm, wir gehen irgendwo einen Kaffee trinken.“

„Diese Schweine!“, presste sie heraus, „lauter Kinder – heute schon wieder.“ Es waren zornige Tränen, die ihr die Wange hinunterliefen. Sie wischte sie mit dem Handballen fort. Dadurch hatte sie nun große Flecken von Schmutz im Gesicht.

„Komm“, wiederholte Rotberg. Er zog sie mit. Er erblickte Wesselmann einige Meter entfernt. Rotberg deutete mit der freien Hand eine Bewegung an, als würde er aus einer Tasse Kaffee trinken.

Wesselmann bemerkte, dass es Sabrina Hamm nicht gut ging und nickte ihm zu, dass er verstanden hatte.

Sie entfernten sich vom Ort des Geschehens. Rotberg schlug den Weg in die Richtung ein, von der er glaubte, dass es dort eine Gaststätte geben müsste. Sie gingen eine Weile stumm nebeneinander her.

„Entschuldige“, sagte Sabrina Hamm. Sie hatte sich wieder gefangen.

„Mir geht es nicht besser als dir“, meinte Rotberg, „ich bin bloß schon viel zu viele Jahre als harter Kerl unterwegs, um jetzt Tränen zuzulassen. Du machst es richtig – ich werde stattdessen nächtelang wach liegen.“

„Wie kann ein Mensch so etwas tun? Für Geld.“ Sie machte eine Pause. „Für diese Arschlöcher ist eine Gefängnisstrafe viel zu harmlos.“

Rotberg kannte solchen Zorn. Auch er hatte schon einige Male darüber nachgedacht, ob er einen besonders grausamen Täter nicht einfach erschießen sollte. Es gab Menschen, die so boshaft waren, dass sie die niedrigsten Instinkte in einem hervorriefen. Vor manchem Verbrechen stand man in hilfloser Wut. Er hatte mit Jutta immer wieder darüber gesprochen. Es hatte ihm in diesen Momenten geholfen, seine Gefühle zu kanalisieren.

„Da ist die Gaststätte, in die ich wollte“, sagte er. „Wenn wir dort sind, würde ich gern zuerst von Berghausen anrufen und fragen, ob das mit dem Geld läuft.“

„Okay“, antwortete sie.

„Du gehst am Besten auf die Toilette, um dir dein Gesicht zu waschen. Du siehst aus, als kämst du geradewegs aus einem Bergwerk“, er zwinkerte ihr zu. „Ich bestelle uns einen Kaffee.“

Er griff in die Tasche und merkte, dass der Lehrer noch sein Telefon haben musste.

„Ach Sabrina, kannst du mir dein Telefon geben? Ich habe meines leider verliehen?“

In der Gaststätte ging sie sofort in Richtung Toilette. Rotberg bestellte im Hereinkommen am Tresen zwei Kaffee. Er setzte sich an einen Tisch und wählte die Mobilnummer des Polizeipräsidenten. Unter normalen Umständen hätte er zuerst in dessen Sekretariat angerufen – jetzt nahm er sich die Freiheit.

Hans von Berghausen nahm nach dem fünften Klingeln ab. Rotberg sagte, er wolle nicht drängen. Er versuche nur die nächsten Schritte zu planen und möchte wissen, ob der Senator die Sache ebenso sähe wie sie. Der Polizeipräsident berichtete, dass der Innensenator sich gerade in einer Telefonkonferenz mit dem Bundesinnenminister und dem Bürgermeister abstimme. Er hätte das Gefühl, dass Senator Franke der Gedanke gefalle. Er sei optimistisch, dass die Sache laufen werde. Er würde sich melden, sobald er etwas wisse.

In der Zwischenzeit hatte Sabrina Hamm am Tisch Platz genommen, die Kaffees standen vor Ihnen.

„Ich will nicht herzlos erscheinen“, meinte Rotberg, „ich muss aber eine Kleinigkeit essen.“ Er gab der Bedienung ein Zeichen. Sie brachte die Speisekarte.

Er las die Karte quer. „Knipp!“, sagte er, „das hält eine Weile vor.

Sabrina Hamm schüttelte sich. Ihr war diese Grützwurst zuwider. Sie bestellte sich einen großen Salat mit Hühnchenfleisch.

„Der Innensenator führt gerade ein Abstimmungsgespräch mit dem Bürgermeister und dem Bundesinnenminister“, sagte Rotberg.

„Dann läuft die Sache?“, fragte sie.

„Von Berghausen ist optimistisch.“ Rotberg machte eine Pause, er drehte die Kaffeetasse geistesabwesend zwischen den Fingern. „Wie geht’s dir?“

„Na ja, es geht so.“

Er druckste herum. „Sabrina, wenn es möglich ist, will ich dich bei dem Fall an meiner Seite haben.“

Sie antwortete nicht – sie ahnte, was er sagen würde.

„Das, was in den vergangenen sechsunddreißig Stunden passiert ist, übersteigt die Kräfte von uns allen.“

„Du meinst, ich hätte nicht ausrasten sollen.“

Rotberg sah sie an. „Natürlich darfst du mir alles sagen und deinen Zorn auf die Täter bei mir abladen. Wir sollten dann allerdings unbeobachtet sein.“

Sabrina rührte wortlos im Kaffee.

„Da draußen können überall Kameras und Mikrofone lauern. Eine Polizeibeamtin, die die Todesstrafe fordert, die ihre Emotionen scheinbar kaum im Griff hat, ist genau das Futter, auf das sie warten.“

„Verstehe.“

„Sabrina, wenn dich der Fall so stark belastet, sage es mir bitte gleich.“

„Nein“, sagte sie, „geht schon. Die vielen getöteten Kinder, die schweren Verletzungen und der Schlafmangel haben mich mitgenommen. Entschuldige.“

„Es geht nicht um Empathie“. Es geht um Aggression. Das dürfen wir uns nicht erlauben.“ Er machte eine Pause. „Wie gesagt, ich hätte dich in der nächsten Zeit sehr gern an meiner Seite.“

„Verstanden. Wenn es mich umhaut, ziehe ich mich zurück.“

In der Zwischenzeit kam das Essen. Das Knipp verbreitete einen deftigen Geruch. Sabrina Hamm verdrehte die Augen beim Anblick der gigantischen Portion.

„Wenn ich das gegessen habe, brauche ich hinterher einen Liter Wasser gegen den Durst.“

Sie lächelte vorsichtig. Beide begannen zu essen.

„Nachher gehen wir noch mal zurück“, meinte er. „Wir improvisieren ein Koordinationsgespräch und fahren danach ins Präsidium.“

Sabrina Hamm war dankbar, dass Rotberg nicht weiter auf ihrem Zornesausbruch herumritt. Er war nie nachtragend, machte niemals Vorwürfe. Hatte er gesagt, was er wollte, hatte sich das Thema für ihn erledigt und man konnte weiterarbeiten. Das schätzte sie an ihm.

Rotberg war mit seinem deftigen Gericht fertig und bestellte sich eine Flasche Mineralwasser. Er aß nicht nur schnell – er schlang das Essen hinunter. Bei offiziellen Anlässen musste er sich stets bemühen, langsam zu essen. Jeder konnte sehen, dass er kein Genießer war. Wenn Jutta ein gutes Essen in stundenlanger Arbeit zubereitet hatte und er sich das nicht bewusst machte, tat ihm seine Achtlosigkeit hinterher leid. Auch jetzt saß er am Tisch und sah zu wie Sabrina Hamm ihren Salat verspeiste.

„Ich brauche noch einen Augenblick“, sagte sie, „oder soll ich aufhören?“

Er sah sie überrascht an und hob entschuldigend beide Hände: „Nein, um Gottes Willen. So viel Zeit muss sein. Du weißt ja, dass ich immer zu schnell esse.“

In diesem Moment klingelte ihr Telefon. Sie blickte auf das Display, sah Rotberg an und zog dabei die Augenbrauen hoch. Es war Hans von Berghausen, das hatte er verstanden. Sie reichte es ihm.

„Rotberg!“, meldete er sich. Er lauschte. „Verstehe – bleiben wir dabei?“ Rotberg hörte zu. „Gut, wann und wo?“ Er sah auf seine Armbanduhr. „Das schaffen wir. Ich bringe Frau Hamm mit – bis nachher.“ Er legte auf.

„Die Sache läuft, so wie du es vorgeschlagen hast. Die Landesbank muss von verschiedenen Stellen noch weitere Geldmengen heranschaffen – sie haben aber bereits losgelegt. In einer Stunde treffen wir uns im Rathaus.“

„Wer kommt noch?“, wollte sie wissen.

„Der Bürgermeister, der Innensenator, der Finanzsenator, der Innenminister kommt später dazu und das BKA.“

„Und die Kollegen?“

„Die noch nicht.“

Sabrina Hamm legte das Besteck beiseite: „Gehen wir!“

„Du kannst gern zu Ende essen – wer weiß, wann du wieder dazu kommst.“

„Nein, geht schon“, ich danke dir für die Zeit, die du dir genommen hast“, sie lächelte ihn an.

Rotberg stand auf, schritt an den Tresen und bezahlte. Sie gingen zur Unglücksstelle. Er wollte die Kollegen informieren und eine Polizeistreife bitten, sie zum Rathaus zu fahren.

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