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ОглавлениеHandtaschenraub (I): Der Einser-Jurist auf der Anklagebank
Ein Fall, wie er ähnlich gut 40 Mal im Jahr in Kiel vorkommt: Ein 34-Jähriger entreißt einer 78-Jährigen die Handtasche, flüchtet. Das war an einem Nachmittag im Mai an der Bushaltestelle Andreas-Gayk-Straße.
Sechs Monate danach saß der Täter in Neumünster vor dem Schöffengericht auf der Anklagebank: Einser-Jurist mit zweitem Staatsexamen, Doktorarbeit fertig, Prüfungsleistungen „summa cum laude“. Und in seinem Weltbild sah alles anders aus: Die Handtasche habe neben seinem Opfer gestanden, „ohne Körperkontakt; ich sah die Gelegenheit, sie listig an mich zu nehmen“. Dann aber habe die Frau den Taschenriemen in der Hand gehabt, „da hab' ich realisiert, das geht nur mit Gewalt, und das willst du nicht“, ohne Tasche sei er davon gelaufen. Alles in allem also „ein ganz einfacher kleiner Diebstahlsversuch, nicht vollendet“, so der Assessor auf dem Angeklagten-Stuhl.
Und überdies zweifele er die Zuständigkeit des Neumünsteraner Gerichts an, wo doch die Tat in Kiel erfolgt sei. Wobei der Angeklagte noch bis zum Vortag in der Nachbarschaft Quartier bezogen hatte - im U-Haft-Trakt des Neumünsteraner Justizvollzugs.
Ohne Wohnung sei er gewesen, mit den monatlichen 750 Euro vom Vater habe er sich „verkalkuliert“, einen Tag vorher habe er sich die Tat vorgenommen. „Das war wie ein innerer Erregungszustand und ist dann einfach abgelaufen“, schilderte der „summa cum laude“-Jurist emotionslos. Natürlich sei das „eine Dummheit von mir“ gewesen, „es tut mir auch leid“.
Die „listige Wegnahme“ hatten Zeugen anders gesehen, der Vorsitzende Richter Hans-R. P. zitierte aus den Angaben des Opfers: „Die Tasche stand auf meinem Schoß, ich hatte den Riemen um meinen Arm gewickelt.“ Am Taschenriemen sei sie dann „bis zum Kantstein mitgezogen“ worden, hatte die 78-Jährige ausgesagt, was Zeugen bestätigten. Zwei Zeugen hatten den Mann verfolgt, auf der anderen Straßenseite war er kurz gestoppt worden, dort hatte er die Tasche fallen gelassen. Eine Polizeistreife nahm ihn in der Kaistraße fest.
„Schizoide Persönlichkeitsstörung“ bescheinigte eine Gutachterin dem Angeklagten, sprach von Überlastungen während seines Studiums, verwies auf eine abgeschlossene Psychotherapie, auf Aufenthalte in der Kieler Uni-Nervenklinik - alles in allem gebe es aber keine Hinweise auf eingeschränkte Schuldfähigkeit.
Das Opfer des Assessors war dem Verfahren gestern fern geblieben. Für das Polizeiprotokoll hatte die Frau ausgesagt: „Der Bengel tut mir leid, vielleicht ist er arm und hat Hunger - ich hätte ihm doch etwas gegeben.“
Am 26. November wird die 78-Jährige nun doch in Neumünster aussagen müssen - der Einser-Jurist bestand darauf, sein Opfer befragen zu können. Das Gericht hätte durchaus darauf verzichtet. Den Haftbefehl hob das Gericht bis dahin auf: Er könne bei seinem Vater wohnen, hatte der Angeklagte versprochen.
(18. Nov. 2003)
Handtaschenraub (II):
„Schämen Sie sich nicht?“, fragte das Opfer
Da mag er aber tief durchgeatmet haben, der Einser-Jurist mit dem „summa-cum-laude“-Prüfungsergebnis, den das Schöffengericht in Neumünster wegen eines in Kiel begangenen Handtaschenraubes verurteilt hat: Sechs Monate Haft, drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt, lautete das Urteil.
Nach Feststellung des Gerichts hatte der Assessor im Mai an der Bushaltestelle Andreas-Gayk-Straße einer 78-Jährigen die Handtasche entrissen und war damit zunächst geflüchtet (wir berichteten über den Prozess-Auftakt).
Sollte das Urteil rechtskräftig werden (ohne Berufungs- oder Revisionsantrag), dürfte der 35-Jährige - weil zu weniger als einem Jahr verurteilt - sogar noch Staatsanwalt werden können, rein theoretisch, wenn man ihn denn nehmen würde. „Wir wollen Ihnen ihr Leben ja nicht verbauen“, gab der Vorsitzende Richter Hans-R. P. ihm mit auf den Weg; in der Urteilsbegründung hatte P. die Übereinstimmung der Zeugenaussagen hervorgehoben, die von einer Wegnahme der Tasche mit Gewalt gesprochen hatten - was eine Verurteilung wegen Raubes begründe. Nach allem, was man gehört habe, aber „mag man zu dem Ergebnis kommen, es ist ein minder schwerer Fall“, sagte der Vorsitzende.
„Ich bin nach wie vor Jurist, und ich möchte auch wieder gesetzestreuer Bürger sein“, hatte der Assessor mit der Befähigung zum Richteramt (und von einer Gutachterin bescheinigten gelegentlichen „schizoiden Persönlichkeitsstörungen“) in seinem Schlusswort gesagt - war aber bei der Version der Tat-Darstellung geblieben, die sich offenbar in seinem Weltbild zur Realität verdichtet hatte: Er habe keine Gewalt angewandt, die Tasche auch gar nicht an sich genommen.
Das Opfer des Jung-Juristen konnte das gestern bei allem zuvor geäußerten Verständnis für den „armen Bengel“ gar nicht so nachempfinden. Am Arm ihrer Tochter war die betagte Kielerin nach zwei vergeblichen Vorladungen nun doch zur Verhandlung in Neumünster erschienen - auf Verlangen des Angeklagten; Schöffen, Richter und Staatsanwältin wären wohl eher geneigt gewesen, der 78-Jährigen die Konfrontation mit dem Täter zu ersparen.
Die nahm denn auch grotesk-peinliche Züge an: Als sei er Staatsanwalt, Richter oder Strafverteidiger nahm der Jurist auf dem Anklagestuhl sein Opfer in die verbale Zange: „Wo wohnen Sie jetzt?“, wollte er wissen, bezweifelte die Glaubwürdigkeit seines Opfers, gar den Antrag auf Vereidigung: Es sei gelogen, was die Frau sage, „deshalb wollte sie auch gar nicht kommen“. Von einer Entschuldigung war nicht einmal die leiseste Andeutung zu hören.
Dem Opfer, das eigentlich überhaupt kein Interesse an einer Strafverfolgung gehabt hatte („Der Bengel tut mir leid“) und jetzt gewissermaßen auf gerichtlichen Zwang hin als Zeugin auftreten musste, ging das denn doch über die Hutschnur: „Schämen Sie sich gar nicht, meine Knie sind heute noch blau“, schleuderte sie ihrem Peiniger nun entgegen.
Der blieb unbeeindruckt; mit „so wahr mir Gott helfe“ („ich bin katholisch“) beeidete die betagte Kielerin auf sein Verlangen ihre Aussage.
(1. Dez. 2003)
Handtaschenraub (III)
Der junge Jurist hat den Richterspruch nicht angenommen, das Urteil ist nicht rechtskräftig geworden. Die nächste Runde fand danach vor dem Landgericht statt; ich habe sie leider nicht mitverfolgen können, ich wüsste auch niemanden unter meinen damaligen Kollegen, der diese Geschichte für die Zeitung weiter verfolgt hätte.