Читать книгу Geschichten aus Thumberg (Band 1) - Peter H. Brendt - Страница 5
ОглавлениеThanas empfing ihre Gäste im ersten Stock eines windschiefen Eckhauses der «Schwanengasse». Nah genug am Rand des berüchtigten Viertels der Stadt, damit die «ehrenwerten» Kunden sich nicht in das Gewirr und den Gefahren des Viertes aussetzen mussten. Aber erkennbar an einer Stelle, die bereits zu den verrufenen Stadtteilen gehörten. Ihre Besucher, so erzählte sie Freunden, mochten das leicht «anrüchige» Ambiente, wenn sie sie aufsuchten.
An ihrem Fenster stand außen ein Blumentopf. Nicht, dass die altersschwache Betonie viel hergab, aber sie signalisierte, dass Thana nicht allein und für zärtliche Dienste zur Verfügung stand. Allerdings irritierte Cryst die Art und Weise, wie sie heute die Pflanze aufgestellt hatte.
Hatte sie Besuch, drehte sie den einzigen Blütenkopf in Richtung Straße. «Das arme Ding muss ja nicht alles sehen, was in meinem Schlafzimmer so passiert», meinte sie. Doch diesmal lugte die Blüte frech in Blickrichtung ihres Bettes. Dass Thana bereits so früh am Tag betrunken war, hielt Cryst für unwahrscheinlich.
Er beschloss, vorsichtig zu Werke zu gehen. Die alte Holztreppe innen knarzte und krächzte bei jedem Schritt. Sie kündigte Besucher lautstark an, was durchaus im Interesse des Straßenmädchens war. Doch dies kam ihm im Augenblick nicht entgegen.
Er beschloss, an der Hauswand hochzuklettern und sich erst mit einem Blick durch das Fenster einen Überblick zu verschaffen. Die Risse und Spalten im Mauerwerk gaben genug Halt für die Fingerspitzen eines Kletterers. Dennoch schob er zwei dünne lange Klingen in eine spezielle Falte der Schuhsohlen, so dass ihre Spitzen eine halbe Handbreit nach vorne heraus ragten. Der beste Stahl aus Mith eignete sich hervorragend als Kletterhilfe. Das war nicht die erste Mauer, die er leise und verstohlen erklettern musste. Mit seiner Erfahrung und der Hilfe der kräftigen Finger erreichte Cryst bald das Fenster.
Langsam hob er den Kopf, um hineinzuschauen. Die Vorsicht war berechtigt gewesen. Im Schlafzimmer rechts und links von der Tür lauerten zwei unangenehm aussehende Kerle. Jeder hielt ein Messer in der Hand, von der Art, wie sie Strabbel der Schmied häufig an Herumtreiber, Straßenräuber und Steuereintreiber verkaufte. Gut, billig und brechen so gern in der Wunde des Gegners ab.
Die Unbekannten lauschten an der Zimmertür. Auf dem üblichen Weg über die Holzstufen hätte ihn das alte Holz rechtzeitig angekündigt.
Cryst suchte mit den Stahlspitzen an seinen Füßen einen festen Stand. Er verkeilte sie in einer Mauerspalte so, dass er beide Hände frei bekam. Thana konnte er nicht sehen. Möglich, dass die Männer sie unschädlich machten, in dem sie in den Schrank eingeschlossen oder gefesselt unters Bett schoben. Er hoffte, dass er sie unversehrt finden würde. Ansonsten mussten die Unbekannten mit mehr als nur Ärger rechnen.
Mit einem lautlosen Fluch suchte er in den Taschen nach einer geeigneten Waffe. Plötzlich begann die alte Holztreppe zu klingen und zu stöhnen. Kein Zweifel, da war jemand auf dem Weg in Thanas Schlafzimmer.
Cryst schüttelte den Kopf. Sollten die Kerle gar nicht hinter ihm her sein. Es gab Straßenmädchen, die betrunkene Kunden in die Fänge von Straßenräubern führten, aber Thana würde diese Idee selbst in bittersten Zeiten weit von sich weisen.
Die Geräusche auf der Treppe klangen etwas seltsam. Ungewohnt leise, als ob jemand vorsichtig und unentschlossen hinauf schlich. Beinahe verlor er vor Schreck das Gleichgewicht, als er erkannte, wer da vor der Schlafzimmertür wartete.
«Pappa. Bist du da. Du must mir bei den Hausaufgaben helfen!»
Vor Überraschung fiel Cryst beinahe von der Mauer. Was machte Thilla hier. Und was faselte sie von «Hausaufgaben».
«Hallo Papa. Ich bin dir gefolgt. Ich weiß, dass du da drin bist!»
Was für ein Tollpatsch. Jetzt drückte sie die Klinge hinunter, und versuchte einzutreten. Zum Glück war die Tür vermutlich aus dem gleichen Baumstamm gezimmert, aus dem auch die Treppe gefertigt war. Das kleine Mädchen vermochte kaum die knarzende Tür zu bewegen. Höchste Zeit für ihn, einzuschreiten.
Hektisch suchte er in den Taschen nach einer geeigneten Waffe. Für die Wurfmesser war sein Stand zu unsicher. Schon jetzt balancierte er auf den beiden Stahlklingen an den Füßen. Er verwarf Totschläger, Sandsack und Wurfbeil. Auch die Schleuder kam nicht infrage. Keine Zeit hineinzuklettern und die Wegelagerer in einen Messerkampf zu verwickeln. Endlich fand er, was er suchte. Ein Freund, der den Dschungel der Lotusesser durchquerte, lobte die unscheinbare Waffe über Maßen. Ein Blasrohr! Klein, leicht und mit der richtigen Munition sehr wirkungsvoll. Cryst lehnte Gift ansonsten ab, ab hier blieb ihm keine Zeit für Rücksichtnahme.
Wenn auch Tilla bestimmt nicht das ursprüngliche Ziel der beiden Dreckskerle in Thanas Zimmer war, so würden sie das Mädchen als lästige Zeugin auf jeden Fall aus dem Weg räumen.
Er überlegte kurz. Die Geschosse mit dem runden Ende hinten wirkten tödlich, die kantigen ließen ihre Opfer in einen tiefen Schlaf sinken. Oder umgekehrt? Die mit dem flauschigen Federn waren zum Üben. Also besser keinen Übungspfeil erwischen.
Egal! Er legte den nächstbesten Pfeil in das Blasrohr. Erinnerte sich daran, dass man beim Zielen einen leichten Bogen der Flugbahn berücksichtigen musste. Ein kurzes Pusten. Bestens! Die Spitze steckte im Hals des linken Kerls.
Ihm blieb keine Gelegenheit, die Reaktion abzuwarten. Den nächsten Pfeil gegriffen und auf den anderen Wegelagerer geblasen. Der hatte bereits die Faust mit dem Messer zum Stoß erhoben. Die Flugbahn schien perfekt, aber es passierte genau das, was er die ganze Zeit befürchtete. Bevor er das Ergebnis beobachten konnte, brach die Stahlspitze am linken Schuh ab. Er probierte noch das Blasrohr in der Hand mit wehenden Armen das Gleichgewicht zu halten, jedoch vergeblich. Fluchend stürzte er eine Etage tief auf die Straße.
Er kam mit einem lauten Poltern auf dem Pflaster auf. Sein Blick verdunkelte sich für einen Augenblick, als er mit dem Kopf aufschlug. Doch zum Glück blieb er bei Bewusstsein. Stöhnend versuchte er, aufzustehen. Alle Glieder schmerzten, aber der Gedanke, dass da oben Thilla immer noch in Gefahr war, trieb ihn an.
Cryst zog ein Messer und eilte in Thanas Zimmer. Diesmal nahm er den Weg über die Holztreppe. Er durfte keine Zeit verlieren. Bevor er das Schlafzimmer betrat, warnte ihn sein Instinkt. Oder besser die Stille, die dort herrschte. Er hatte eine weinende, vielleicht auch hysterische Zwölfjährige erwartet. Doch Thilla hing ganz ruhig in den Armen des Wegelagerers. Der Mistkerl hielt das kleine Mädchen vor seiner Brust, die blanke Klinge an ihrem Hals.
«Janss kommot! We wollens dem Kinds net wähtun!» Der Mistkerl zischte ihn an. Was für ein Dialekt? Wo kam der Kerl her?
«Lass das Mässa fallen, Scheissseman!»
Was war das für eine Feder im Hals des Messerhelden. Verdammt, er hatte einen Übungspfeil erwischt. Besser ihm zu gehorchen. Aber nicht sofort.
«Wenn du der Kleinen was tust, schlitze ich dich auf.»
«Mässa wech!»
«Und steck dir Ratten in den Bauch!»
«Dass Mässa!»
Cryst zwang sich, nicht in die Augen des Mädchens zu sehen. Wenn sie überleben sollte, musste er ganz ruhig vorgehen.
Wütend und mit einem wilden Schrei schleuderte er seine Klinge in den Holzrahmen des Fensters. Es geschah wie geplant. Von der schnellen Reaktion überrascht, folgte der Blick des Fremden dem Messer.
Blitzschnell trat ihm Cryst zwischen die Beine. Mit dem rechten Fuß. Dem mit der intakten Stahlklinge.
Mit runden Augen starrte ihn der Unbekannte an. Er ließ sofort seine Waffe fallen und verschränkte die Hände vor dem Unterleib. Thilla rannte im nächsten Augenblick los und versteckte sich hinter ihrem Vater.
Cryst schmeckte Galle. Er hatte seine eigenen Pläne mit einem Mann, der einem kleinen Mädchen ein großes Messer an den Hals hielt.
«Thilla! Geh in den Schrank!» Was jetzt kam, war nicht für ihre Augen bestimmt.
«Aber Pappa ...!»
«Geh in den Schrank!»
Zu seiner Erleichterung löste sich Thilla von ihm. Gelegenheit, auch nach dem zweiten Mann zu schauen. Der lag regungslos. Kein Schnaufen oder Atem. Da hatte er wohl den Giftpfeil erwischt.
«Pappa?»
«Was ist? Geh in den Schrank!»
«Da liegt schon ne Frau drin.»
Damit klärte sich auch die Frage, wo Thana geblieben war. Da offenbar von beiden Gegnern keine Gefahr mehr ausging, half er dem Freudenmädchen, aufzustehen, und legte sie auf das Bett. Mit dankbaren Augen verfolgte sie seine Bemühungen, ihre Fesseln zu lösen. Doch bevor er den Knebel entfernte, hob er warnend einen Zeigefinger: «Keinerlei Flüche vor der Kleinen!»
Erst als Thana ihr Einverständnis nickte, zog er das Tuch heraus. Im gleichen Augenblick blickten sich die zwei Erwachsenen an. Nach einem kurzen Nicken kam es wie aus einem Mund: «Thilla! In den Schrank!»
In dem Moment, in dem sich die Schranktür knarzend schloss, sprang das Straßenmädchen auf, griff mit der Rechten unter ihr Bett. Von dort zog sie ein langes dünnes Messer heraus.
«Ich stech die Mistkerle ab! Wo die ihre Hände überall hatten. Ohne zu bezahlen. Was für Schweine!»
Cryst warf einen Blick auf den Mann, dem er die Klinge in den Unterleib rammte. «Ich fürchte, die Gelegenheit, um deine Wut auszulassen, ist vorbei. Der Kerl hat sich zu seinem Komplizen ins Totenreich verpisst!»
Da kochte die Wut des Straßenmädchens nur höher. «So ein Widerling. Gönnt mir nicht meine Genugtuung!» Dann brach die Geschäftsfrau in ihr hervor.
«Sie haben mich begrapscht. Mich eine Stunde in den Schrank gesperrt. Ich verlange Schadensersatz und den Lohn fürs Anfassen. Und zwar für überall anpacken.»
«Meinetwegen schau nach, was du findest. Doch ich glaube, sie waren nicht hinter dir her. Auf irgendjemand warteten sie hier.»
«Na auf dich», erzählte Thana, während sie die Taschen de Toten durchsuchte. «Jedenfalls fragten sie nach dir. Sie meinten, du müsstest jeden Moment eintreffen.» Mit diesen Worten hob sie ein frisch geprägtes Silberstück hoch. «Ein Silbertaler aus der Hellermark! Ganz neu!»
«Zeig her. Die sieht man selten in Thumberg.»
«Blödsinn. Sorm, der Weinhändler zahlt regelmäßig damit.» Thana steckte das Geldstück ein und zeigte ihm frech die Zunge. «Er bringt sie von seinen Weinkäufen in der Mark mit.»
«Er bezahlt dir einen Silbertaler? So viel! Was machst du dafür?»
«Bist du jetzt mein Zuhälter. Das geht dich gar nichts an!»
Cryst sah ein, dass er zu weit gegangen war. Er sollte sich auf das besinnen, wofür er hergekommen war. In der Stadt wusste jeder von seinem Verhältnis zu Thana. Gelegentlich hinterließ jemand sogar bei dem Straßenmädchen Nachrichten und Informationen für ihn. Wenn ein Unbekannter ihn treffen oder in diesem besonderen Fall auflauern und töten wollte, war der in der Schwanengasse an der richtigen Adresse.
Doch ihn irritierte, dass die Mörder auf ihn in Thanas Schlafzimmer direkt nach seinem Aufbruch aus dem «Roten Pony» erwarteten. Da musste es einen Zusammenhang geben.
Aus dem Schrank klang ein leises Klopfen: «Die Luft ist nicht gut hier drin. Und es ist dunkel. Kann ich heraus?»
«Warte noch!» Cryst beobachtete Thana, die weiter in der Kleidung der Eindringliche nach Wertgegenständen suchte. Dann kam ihm eine Idee.
«Kennst du den Dialekt dieser Kerle. Er kommt mir bekannt vor. Aber ich kann ihn nicht einordnen?»
Das Straßenmädchen beendet ihre Suche. «Die Schuhe von dem Kleinen hier sind neu. Dafür könnte ich was bekommen.»
«Ich brauche eine Antwort!»
«Du hängst zu viel im «Pony» rum. Geh mal unter die Leute!» Mit einem Ruck zog sie einen der begehrten Schuhe aus. «Oh, sie mal da. Eine halbe Kupfermünze.»
«Kennst du den Dialekt oder nicht?»
«Na klar. Aber es kommen nicht viele von ihnen zu mir. Arme Flößer aus den Kohlebergen. Sie bringen die Kohle auf zusammengebunden Baumstämmen in die Stadt. Verkaufen Ladung und Holz. Dann ziehen sie zurück in die Berge. Mist!»
Der Fluch galt dem Ergebnis der Suche in dem zweiten Schuh. «Wo steckt die andere Hälfte. Mal sehen, ob sie der große Kerl hat.»
Während sie ihre Erkundung in den Stiefel des letzten Mörders fortsetzte, meinte sie: «Die Zeit, in der sie in der Stadt sind, verbringen sie in der «Schwarzen Brücke». Du weißt schon. Das Gasthaus an der gelben Brücke, aber ...»
«... «Schwarze Brücke» heißt. Ich kenne die Bruchbude.»
«Sie gehört übrigens Soma, dem Weinhändler. Doch erzähl ihm nicht, dass du es von mir erfahren hast. Ich soll es auf keinen Fall verraten.»
«Und woher weißt du davon?»
«Er plapperte es nach dem zwanzigsten Peit...! Das geht dich gar nichts an.» Sie hob die halbierte Münze hoch. «Mist. Was fang ich mit so was an. Wo ist die andere Hälfte versteckt? In den Stiefeln ist sie nicht. Wem könnte ich ein halbes Kupferstück andrehen? «
«Mir», entgegnete Cryst. Bevor Thana antwortete, klopfte es heftig an der Schranktür. «Ich will hier raus. Oder ich sag alles Mamma!»
***