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Vorwort

Der Verfasser einer Autobiografie steht zahlreichen Hindernissen und Herausforderungen gegenüber. Besonders hohe Hürden erheben sich im Garten der Kindheitserinnerungen. Wo endet die Familienlegende? Wo beginnt das wirkliche Gedächtnis? Wie erkennt man, wann das Gedächtnis zuverlässig ist und wann es uns Streiche spielt? Darf man mit bunten Farben malen, wo sich die Erinnerung nur schattenhaft und in schwarz-weißen Umrissen darbietet? Die Erzählform mit Dialog würzen? Ist es erlaubt, das Gebäude der Erinnerungen durch ein Fundament aus Recherchen zu untermauern? Kann man getreu porträtieren, was das Kind gedacht hat? Lässt sich die Welt des Kindes überhaupt mit der Sprache des Erwachsenen heraufbeschwören?

Zwei besondere Gründe führten mich dazu, meine Kindheitserinnerungen offen zu legen und niederzuschreiben: dem Leser zu helfen, sich eine entscheidende Epoche der Geschichte aus der Insider-Perspektive zu veranschaulichen, und zu zeigen, wie es im Geist eines Kindes aussieht, das intensiver Gehirnwäsche ausgesetzt ist.

Es gibt verschiedene Definitionen für das Wort „Gehirnwäsche“, und die Literatur zu diesem Thema ist reichhaltig. Ich war nie einer individuellen Hypnose, bewusstseinsverändernden Drogen oder anderen physikalischen Beeinflussungsformen ausgesetzt. Hätten aber clevere psychologische Manipulatoren in einem wissenschaftlichen Labor ein spezifisches Programm entworfen, um meinen Geist im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu modellieren, hätte das Resultat nicht wirksamer sein können. Für optimalen Erfolg war ich im richtigen Alter zur richtigen Zeit am richtigen Platz.

Dieses Buch befasst sich nicht mit Gehirnwäschemethoden, denn von ihnen habe ich nur wenig Kenntnis. Ich weiß aber, welche Resultate sie bei mir in verschiedenen Altersstufen – von fast drei bis fast vierzehn Jahren – erzeugt haben. Einen Teil dieser Last schleppte ich noch lange nach dem Ende der Hitlerzeit mit mir herum. Vielleicht verstecken sich sogar winzige, schon lange aus dem Verstand verdrängte Überbleibsel noch immer in den unergründlichen Höhlen meines Unterbewusstseins. Manchmal gelangen solche Reste an die Oberfläche: Texte und Melodien der damals gelernten Lieder. Marschmusik – von Preußens Gloria bis zum Radetzkymarsch – entfacht immer noch das Gefühl in mir, ich müsse mich straffen und im Gleichschritt mitmarschieren. Mir ist es gelungen, auch die letzten Überbleibsel von Antisemitismus, Rassismus und anderen Wahnsinnsideen abzustreifen. Diese Ideen wurden mir damals im Rahmen einer heute verachtenswerten Ideologie eingeflößt. Letztendlich führten sie zum Holocaust. Ich habe es fertiggebracht, diesen gedanklichen Müll zu entsorgen. Bedauerlicherweise sind nicht alle Deutschen meiner Generation von der Seuche des nazistischen Denkens geheilt worden. Offensichtlich sind selbst Menschen, die lange nach dem „Dritten Reich“ zur Welt kamen, nicht immun gegen diese irreführende „Weltanschauung“. So kann ich mich beispielsweise schwer damit abfinden, dass heute Mitglieder einer Neonazi-Partei ganz legal im Landtag des Freistaates Sachsen – meines Geburtslandes – vertreten sind.

Aufmerksame Leser mögen sich wundern, wie ein Kind Gedanken zum Ausdruck bringen konnte, die für ein gleichaltriges Kind in den heutigen westlichen Ländern total uncharakteristisch wären. Sicher verstehen aber diese Leser, dass meine damalige Welt – das Hitlerdeutschland der 1930er- und 1940er-Jahre – Lichtjahre vom Europa oder Nordamerika der jetzigen Zeit entfernt war. Ich kann höchstens Vergleiche zwischen meiner nationalsozialistischen Indoktrinierung und der fanatisch-militanten Ideologie anstellen, die heute in so vielen Ländern und Regionen in die Gehirne von Kindern und Jugendlichen eingeflößt wird. Dort sind Litanei und Vokabular sehr eng mit dem Stil des Propagandaministers Josef Goebbels verwandt. Die heutigen Kindersoldaten und jugendlichen Suizidattentäter sind Zeugen dafür, dass der Fanatismus auch im 21. Jahrhundert schwelt und entflammt.

Beim Schreiben dieser Memoiren ergaben sich einige schwierige stilistische Fragen. Kann ich mich daran erinnern, was an einem bestimmten Tag vor 70 Jahren wörtlich zu einem Thema gesagt wurde? Die ehrliche Antwort ist: Nein. Das kann niemand. Während ich alle Episoden so schildern kann, wie sie geschahen, habe ich den Dialog zum großen Teil abgeleitet. Diese Taktik erschien mir notwendig, um das Buch lebendig, gut lesbar und überzeugend zu gestalten. Geschehnisse und Gefühle sind wahrheitsgetreu wiedergegeben. Das Gesprochene unterstreicht ihre Wahrheit.

Ursprünglich wollte ich das Buch aus der heutigen Perspektive schreiben, mit allen im Laufe meines Lebens erworbenen Kenntnissen und unter Verwendung historischer Informationen. Damit gelang es mir aber nicht, überzeugend darzustellen, was ich als Kind gedacht, empfunden und erlebt hatte. Auch wollte ich das Buch nicht mit Fußnoten oder Endnoten versehen. Stattdessen entschloss ich mich, in das Gewebe meiner Erinnerungen auch einige Fäden einzuknüpfen, die nicht meinem eigenen Gedächtnis entstammen. Zu diesem Zweck benutze ich im Buch Redewendungen wie „Großmutter sagt“ oder „es gehen Gerüchte um“ oder „ich habe gelernt“. Für diesen Kunstgriff bitte ich den Leser um Verständnis. Dadurch konnte ich einzelne Gegebenheiten in ihren historischen Rahmen einfügen. Häufig habe ich auch mein Gedächtnis mit Eintragungen aus den Tagebüchern meiner Mutter und einer Tante, insbesondere aber aus Rundbriefen aufgefrischt, mit denen meine Großmutter, meine Mutter und ihre fünf Geschwister jahrelang vor dem Krieg und auch im Kriege regelmäßig korrespondiert haben. Diese Rundbriefe waren besonders nützlich, um meine erinnerten Daten und den zeitlichen Ablauf von Ereignissen zu korrigieren beziehungsweise zu bestätigen. Wie durch ein Wunder haben diese broschierten Familiendokumente alle Wirren jener Zeit überstanden. Ich selbst begann mit zwölf Jahren, Tagebuch zu führen. Die meisten dieser Büchlein sind leider verloren gegangen. Jedoch im März 1951, im Alter von neunzehn Jahren, begann ich, alles ausführlich niederzuschreiben, was ich damals über meine Kindheit und frühe Jugend noch wusste. Diese Aufzeichnungen beendete ich innerhalb von einigen Monaten, und ich habe sie noch. Ebenfalls überlebt hat mein Tagebuch von 1944. Außerdem habe ich mehrere Briefe und Postkarten, die ich als Kind an Verwandte geschrieben hatte und die mir später zur Verfügung gestellt wurden. Ich besitze auch Durchschläge von Briefen meiner Mutter an ihre Mutter und Geschwister. Diese Unterlagen dienten als wertvolle Gedächtnisstütze.

In Kanada wurde ich öfters gebeten, zu Highschool-Klassen über mein Leben unter Hitler und im Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Bei den anschließenden Diskussionen stellten Schüler immer wieder die Frage: „Do you feel any guilt about the Holocaust?“ (Haben Sie irgendwelche Schuldgefühle über den Holocaust?) Diese Frage musste ich mit Ja beantworten. Ja, ich fühle mich schuldig, weil ich zur Menschheit gehöre, die zu solchen Unmenschlichkeiten fähig ist. Ich fühle mich schuldig, weil ich einer Gesellschaft angehörte, die sich so stark korrumpieren ließ, dass Wahnsinnshandlungen wie Genozid in unerhörtem Ausmaß möglich wurden. Ich trage keine persönliche Schuld, weil ich zu jung war, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen, aber auch ich fühle mich von „Allgemeinschuld“ und Scham belastet. Ich ahne nämlich, dass ich selbst vielleicht zum Mörder oder Mittäter geworden wäre, wenn das „Dritte Reich“ noch einige Jahre fortbestanden hätte. Ich schäme mich für die Generationen meiner Eltern und Großeltern, deren Tätigkeit und Untätigkeit den Ruf aller Deutschen verschmutzte und noch den meiner Generation und sogar den meiner Kinder und Enkel schädigte. Besonders schäme ich mich auch dafür, dass ich einmal mit ganzem Herzen Adolf Hitler ergeben war. Aber natürlich fehlten mir nicht nur die Mittel, sondern vor allem der Wille, mich zu widersetzen.

Warum beendete ich das Buch abrupt am 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation gegenüber den „Westmächten“? Dieser Tag gilt allgemein als Kriegsende (obwohl die deutsche Führung erst einen Tag später gegenüber der Sowjetunion kapitulierte). Der 8. Mai 1945 war der Tag, an dem eine kritische Phase meines Lebens endete. Er war Tag eins meiner ideologischen Umerziehung. Tag eins meiner Rebellion gegen Familie und Umwelt. Tag eins meiner langen Reise vom Tunnel des blinden Gehorsams zum Licht einer Welt des freien Denkens. Ich war noch keine vierzehn Jahre alt, aber der 8. Mai 1945 beendete meine Kindheit ein für alle Mal. Er war der Beginn meiner durch die verheerenden Zustände verfrühten Adoleszenz.

Wird es eine Fortsetzung meiner Memoiren geben? Vielleicht.

Hitlers Junge

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