Читать книгу Kenia Leak - Peter Höner - Страница 6

Montag, 2. Mai 2016 Restzeit: 4 T — 9 Std — 27 Min

Оглавление

Der Schweizer Frühling war eine Enttäuschung. Die Begeisterung, ein geradezu rauschhaftes Entzücken, das mit einer Jahreszeit verbunden wurde, die er nicht kannte, erwies sich als ein launisches Hin und Her von heftigem Regen und wenig Sonne. Ein paar Stunden heizten das Land auf, das sich nach einem Gewitter in langen Dauerregen wieder abkühlte und in hinterhältig klaren Nächten erfror.

Seit vierzehn Tagen wohnte Robinson Njoroge Tetu zusammen mit seiner Enkelin Naomi im Haus seines Freundes Jürg Mettler und fror. Trotz Pullover, Strickjacke und dicken Socken.

Ob da draussen Schnee liege, wollte er von Mettler wissen. Er bezweifelte, dass alles um ihn herum grün war, wuchs und blühte. Trotz der saftigen Stängel, die ihm seine Enkelin in den Schoss legte, wehrte er sich dagegen zu glauben, was er nicht sah.

Einmal, er stand zusammen mit Mettler in dessen Hühnerstall – auch wenn es lange her sein musste, dass hier Hühner Eier legten, es roch nach Erde, faulem Holz und Benzin –, trommelte ein Regen aufs Blechdach. Ein Prasseln, das immer heftiger wurde. Das Wasser hatte sich in Eis verwandelt. Mettler legte ihm ein paar Hagelkörner in die Hand. Der Hagelschlag dauerte nur wenige Sekunden, trotzdem jammerte Mett­ler, sein Garten gleiche einer Eiswüste und seine Salate hätten sich in grünen Matsch verwandelt.

Der Hotelier, Hobbypilot und Detektiv als Salatgärtner? Eine merkwürdige Vorstellung, von der sich Tetu ebenso wenig ein Bild machen konnte wie von dem kalten Grün, das ihn angeblich lückenlos umgab.

Kurz danach wurden seine Augen operiert und nun, drei Tage später, durfte er den Verband entfernen und sollte nach über zwölf Jahren wieder sehen können.

Die Erblindung in den Gefängnissen von Kenia hatte ihn seiner Sehkraft beraubt, nicht aber seiner Bilder. Seine Vorstellung der Welt blieb lebendig. Alles, was er einatmete und hörte, stattete sein Kopf mit Licht und Schatten, Farben und Formen aus. Ein Handy zum Beispiel, diese glatte Dose, mit dem sich telefonieren liess. Von überall nach überall. Er kannte die flachen Plastiketuis. Seine Söhne standen damit hinter dem Haus oder in den Feldern und schwatzten zwischen Mais und Bohnen, als hätten sie den Verstand verloren. Auch ihm hatten sie so ein Ding ans Ohr gedrückt, und Naomi wollte ihn noch heute mit seiner Familie in Kenia verbinden, damit er dieser von seiner Heilung berichten könne.

Tetu und Mettler waren allein im Haus auf dem Iselisberg. Moody hatte Naomi zu einer Fahrradtour abgeholt, er wollte ihr die Badeseen zeigen, obwohl es für ein Bad noch viel zu kalt war.

Naomi wollte erst zu Hause bleiben, wollte dabei sein, wenn ihr Grossvater den Verband abnahm, aber Tetu verlangte, dass sie Moodys Angebot annahm. Auch wenn er manchmal fand, Mettlers Enkel kümmere sich etwas allzu eifrig um seine Enkelin, für einmal war er froh darüber.

Naomi hätte ihm alles aufgezählt, wahllos, was ihr gerade aufgefallen wäre. Und genau dies wollte er verhindern. Er wollte selbst erleben, was es zu sehen gab.

Mettler warnte vor dem Sonnenlicht.

«Nach dem Regen ist es geradezu aussergewöhnlich klar heute.» Gleichzeitig versprach er, ihn an einen angenehmen Ort zu entführen. «In den Schatten meines Nussbaums.»

Tetu schmunzelte.

Mettler sprach auffällig oft von seinen Dingen. Von seinem Haus, seinem Wagen, seinen Werkzeugen … Nicht, dass es ihn störte, aber im Zusammenhang mit einem Garten, Salaten oder einem Hund fand er diese Besitzansprüche zumindest merkwürdig.

Gemeinsam mit Mettlers Hund, seinem Busoni, stolperten sie über eine glitschige Wiese hangabwärts zu einem Sitzplatz mit Bank und Tisch.

Im Schatten des Nussbaums war es trotz Sonne ziemlich kühl, und Tetu verkroch sich in die Strickjacke, die ihm Mettler geliehen hatte und von der er sich kaum noch trennen konnte. Er presste die Oberarme an den Körper und hätte sich für einen ersten Blick einen wärmeren Platz gewünscht. Hoffentlich beseitigte das Ende der Dunkelheit auch sein dauerndes Frösteln.

Sie sassen auf der Bank und schwiegen. Tetu verfolgte Mettlers regelmässigen Atem, hörte die leisen Geräusche der Blätter des Baumes. Mücken summten. Manchmal schoss brummend eine Fliege aus dem Nichts, kurvte um den Tisch und war wieder weg. Im Tal war ab und zu ein Auto zu hören, es roch nach einer saftigen Wiese, nach Kräutern, nach Blumen und dem bitteren Saft des Nussbaums, nach Feuchtigkeit, die in der Sonne verdampfte.

Dann spürte er Mettlers Hand auf dem Rücken.

«Ich knüpfe dir jetzt die Binde auf. Das Ablösen der Pflaster überlasse ich dir. – Bist du bereit?»

Tetu nickte und Mettler nestelte hinter seinem Kopf an ­Fäden und Klammern. Der Druck um Stirn und Schläfen liess nach, die Binde erschlaffte, und Mettler zog ihm das Tuch über die Ohren und aus der Stirn.

Den frischen Wind empfand er als angenehm. Dass der Verband ihn nicht mehr einengte. Die Pflaster spürte er nicht. Seine Augen blieben geschlossen, er sass am Tisch, stützte den Kopf in die Hände und wartete. Er löste die Pflaster. Er war­tete, weil er sich nicht getraute, die Augenlider anzuheben. Er wartete, weil er sich vor dem Licht fürchtete, der Helligkeit, die genauso gut eine Blendung bedeuten konnte. Er wartete, weil er wusste, dass mit dem Schauen ein neues Leben anfing, ein Leben, von dem er nicht sicher war, ob er es überhaupt noch einmal wollte.

Doch dann, vorsichtig und mit einer Anstrengung, als müsste ein festverklebtes Gewebe mit Kraft durchtrennt werden, wagte er einen ersten Blick.

Nach einem blitzartigen Lichteinfall sah er, stark verschwommen, aber ohne Zweifel, über die Rundung seines Bauchs in die Tiefe. Sah auf Mettlers Hund, auf das struppige Fell eines ausgestreckten Hinterlaufs. Ein Moment totaler Entspannung, und in jäher Aufwallung kaum gekannten Überschwangs presste er die Augen zusammen, um sie kurz darauf erneut zu öffnen und auf das Bild zu schauen, den schlafenden Hund zwischen seinen Schenkeln, die Pfote, das Bein, dar­unter die Kalkadern der dunklen Steinplatte.

So etwas Schönes wie das Fell Busonis glaubte er noch nie gesehen zu haben. Die feinen, gelbbraunen, auch grauen Härchen entlang der Biegung des Beines und wie sie dann immer dichter und länger wurden und sich auf dem Rücken zu einem struppigen, festen Pelz verbanden, erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl, das ihn in seine Kindheit versetzte.

Sein ganzes Erwachsenenleben kannte keine solche Freude.

Er schloss die Augen, richtete sich auf und lehnte sich gegen die Rückenlehne der Bank. Das also bedeutete Sehen! Er hatte es bei allen Bildern doch vergessen.

Es dauerte eine Weile, bis Tetu ein weiteres Mal die Augen öffnete. Die Freude am Sehen auszuhalten, war gar nicht so einfach.

Tetu griff nach der Hand Mettlers, der neben ihm sass und sein Erwachen schweigend begleitete, und er wünschte, er könnte den Freund teilhaben lassen an seiner Begeisterung.

Obwohl sie einander gemeinhin nicht berührten, überliess ihm Mettler seine Hand, zumindest für ein paar lange, sehr lange Augenblicke, die er wohl brauchte, um die neue Welt zu erfassen und mit seiner alten zu verbinden.

Tetu schaute ins Grün des Blätterdachs, in die Wiese, durch die Reihen der Rebstöcke auf die Ufer der Thur, über die grünen Karrees der Felder, die sich scheinbar in Wäldern verloren. Über Hügelzüge und Bergkämme in einen Alpenkranz, der noch schneebedeckt war und hinter dem die Welt zu Ende ging, zumindest die sichtbare, wenn er von den Wolken absah, die vielleicht endlich regenleer und leicht durch den Himmel über ihn hinweg in die Ferne segelten.

Das Schauen forderte Zeit und jeder Augenblick löste ein immer grösseres Staunen aus. Die grünen Hügel Afrikas liessen sich mit dieser Vielfalt auf engstem Raum nicht vergleichen, die neuen Bilder verbanden sich nicht mit den alten und sie reihten sich nicht erfahrungsgemäss aneinander, Wunder stand neben Wunder, als müssten sie das Laufen noch lernen. Und hatten bei aller Weite etwas Kleinräumiges, Putziges.

Tetu hatte keine Ahnung, wie er seine Eindrücke einordnen sollte.

Bis er die Kamele entdeckte.

Drei Kamele trotteten auf der Böschung des Flusses an einem Uferwald entlang. Eines nach dem andern schaukelte durch das grüne Meer, und nicht nur das Grün, nein, auch der Flusskanal, die Böschung, der gerade Weg, die kleinen Bäumchen, die ihre Zweige in den Wind bogen, als wären es Röcke, die sie silbern schimmernd im Wind tanzen liessen, jagten ihm einen solchen Widerwillen ein, dass er entsetzt die Hand vor die Augen schlug. Diese Operation bescherte ihm eine noch viel grössere Blind­heit, als es der langsame Verlust seines Augenlichts je war.

«Hast du Schmerzen?», wollte Mettler wissen. «Wird es zu viel?»

«Nein.»

Tetu beugte sich nach vorn, stützte sich mit beiden Händen auf der Bank ab, schaukelte leicht und schaute mit geschlos­senen Augen zu Boden. Er brauchte Zeit. Zeit, um Mettlers Frage zu verdrängen. Diese unverhohlene Neugier. Er hatte sie vergessen. Seit jeher hatten ihn die direkten Fragen des Weissen gestört. Da war ihm eine Hand lieber als diese Schamlosigkeit, an die er sich erst wieder gewöhnen musste.

Schliesslich sagte er leise und es klang wie ein Geständnis:

«Ich glaube, mit meinem Kopf ist etwas nicht in Ordnung.»

Mettler schwieg, und Tetu war froh darüber.

Der Hund stand auf und riss den Tisch mit sich, er drehte sich umständlich und zwängte, so nahm Tetu an, seine Schnauze zwischen Mettlers Knie. Tetu hätte sich gern mit einem Blick versichert, was ihm seine Ohren vermittelten, getraute sich aber nicht. Die Angst vor weiteren Kamelen war zu gross.

«Ich sehe verrückte Dinge, mein Kopf fantasiert und verfälscht, was meine Augen sagen. – Du und Moody, ihr habt mich liebevoll und ausführlich auf diese neue Welt vorbereitet, das viele Grün, und Naomi hat mir bestätigt, was ihr geschildert habt. Jetzt habe ich gesehen, dass ihr recht hattet. – Aber dann marschieren drei Kamele durch meine Bilder, Tiere, die es hier nicht gibt.»

«Deine Augen täuschen dich nicht», hörte er Mettler sagen, als spräche er zu einem Kranken. «Die drei Kamele im Grünen sind, was du siehst. Ein Weinbauer im Tal hält sich diese exotischen Tiere als Attraktion, er bietet seinen Kunden Kamelausflüge an, ‹im Kamelsattel durch die Weinberge›, ein findiger Geschäftsmann. Ob sein Angebot wirklich genutzt wird, weiss ich nicht. Aber was du siehst, stimmt. Drei Kamele schreiten das Flussufer entlang, auf grünen Matten, unter grünen Bäumen. – Du musst lernen, deinen Augen zu vertrauen.»

Tetu blinzelte ins Tal. Die Kamele waren ein gutes Stück vorangekommen. Und jetzt erkannte er auch einzelne Gestalten, die bei ihnen waren. Menschen in bunten Kleidern.

Er drehte sich nach Mettler um.

«Danke», sagte er und versuchte zu lächeln.

Mettler rutschte ans andere Ende der Bank. Er tat, als ob er mehr Platz für seine Beine brauche. Er ging auf Distanz. Tetu konnte sich auf sein Gespür verlassen. Besser als auf seine Augen.

«Nun, mein lieber Robinson Njoroge», eröffnete Mettler seine Befragung, wahrscheinlich mit einem Schmunzeln. «So langsam möchte ich doch wissen, warum du in die Schweiz gekommen bist? Jetzt, nach so langer Zeit? – Hat es etwas mit deiner Enkelin zu tun?»

Tetu war auf die Fragen vorbereitet. Mettler hatte bereits mehrmals versucht, ihm auf den Zahn zu fühlen, aber bislang konnte er Mettlers Neugier mit dem Hinweis auf seine Ope­ration in die Schranken weisen. Er brauchte Zeit, jetzt war sie reif. Trotzdem war er froh, als er hörte, wie Mettler seine Pfeife auf dem Tisch ausklopfte und in seiner Hosentasche nach dem Tabakbeutel kramte. Mettler richtete sich als Zuhörer ein, und Tetu bereitete sich auf eine Rede vor, von der er nicht wusste, wie sie aufgenommen würde.

Er legte den Kopf in den Nacken, verschloss sich mit dem Zeigefinger den Mund und schwieg.

Kenia Leak

Подняться наверх