Читать книгу Kenia Leak - Peter Höner - Страница 9
Dienstag, 3. Mai 2016 Restzeit: 3T — 16 StD — 15 Min
ОглавлениеMettler fuhr viel zu schnell.
Wenn Mettler am Steuer sass, hatte Tetu das Gefühl, in Gefahr zu sein. Mit röhrendem Motor raste der Alfa Romeo über die Autobahn, Mettler wechselte dauernd die Spuren, bremste ab und drückte wieder aufs Gas, als müssten sie gleich abheben.
Eine unangenehme Erinnerung, auch wenn der Wagen keine Piper Cub war und keine Bruchlandung drohte.
Die Strasse war perfekt. Keine Schlaglöcher, keine Pfützen, vor allem keine Ziegen, die plötzlich aus dem Gebüsch auf die Fahrbahn sprangen. Frei laufende Tiere hatte Tetu in der Schweiz ohnehin noch keine gesehen. Die Kühe von Mettlers Nachbarn waren so fett, dass sie kaum noch gehen konnten. Sie standen da und frassen.
Ohne den Blick von der Strasse zu nehmen, fragte Mettler, und es klang unfreundlicher, als es vielleicht gemeint war:
«Hast du gestern Nacht eigentlich noch jemanden von deiner Familie erreicht?»
«Naomis Vater.»
«Und? Wie geht es ihnen? Sind alle okay?»
«Ja. Sie freuen sich. Werden mir demnächst eine Wunschliste schicken», brummte Tetu. «Fahr doch nicht so schnell.»
«Nicht schneller als alle andern», sagte Mettler achselzuckend. «Das ist eine Autobahn.»
Was interessierte sich Mettler plötzlich für seine Familie? Schon gestern unter dem Nussbaum. Es ging doch nicht um seine Familie. Mettlers Reaktion auf seinen Bericht war befremdlich und hatte ihn die halbe Nacht beschäftigt.
Mettler hatte ihm zwar zugehört, geduldig und ohne all die Fragen zu stellen, die auch ihm unter den Nägeln brannten. Aber dann wollte er von den CDs und wie er zu dieser Datensammlung gekommen war, gar nichts wissen. Francis Ali Odongo war ihm egal. Die Daten? Egal. Sie beide seien schon einmal ins Visier des Kimeleclans geraten und hätten bitter dafür bezahlt. Es ging doch nicht um sie. Nach zwanzig Jahren.
Das Grün war selbst auf der Autobahn unerträglich. Rechts und links der Fahrstreifen, einer Schneise mitten durch fruchtbares Land, stand das Gras meterhoch, in der Böschung wucherten Büsche und Bäume, Feuerholz für ganze Dörfer. Doch niemand interessierte sich dafür. Menschen sah er keine. Die Bahn schien einzig für Autos zu sein. Keine Fussgänger, keine Radfahrer, kein Eselskarren.
«Hast du diesen Odongo gekannt?», fragte Mettler und schwenkte nach links, um sich an einen Wagen zu hängen, der eine ganze Kette von Lastern überholte. «Ich meine, wie kommt so jemand auf die Idee, dir diese CDs anzuvertrauen?»
«Ich kenne keinen Francis Ali Odongo. Er hat die Daten einer Journalistin gegeben, Elisabeth Kyengo, und diese … Aber das habe ich dir doch alles erzählt.»
«Du hast gesagt, diese Kyengo wollte die Daten dem Whistleblower zurückgeben, weil ihr die Sache zu heiss war. Aber da hatte sich Odongo bereits erhängt. Woher weiss sie das?»
«Von Odongos Nachbarn. Odongo sei verhaftet worden und habe sich ein paar Tage später in seiner Gefängniszelle erhängt.»
«Und das glaubst du?»
«Nein. Aber es kommt vor.»
«Und dann hat sie die Daten einem blinden Polizisten im Ruhestand übergeben und ist abgehauen. Schlau. Sehr schlau.»
«Elisabeth gehört zur Familie. Die Tochter eines Vetters meiner Frau, sie kennt mich, und ja, schlau, bei einem Blinden waren die Daten erst einmal sicher. Hier suchte sie niemand, und davor, dass ich sie mir anschaue, waren sie ebenfalls sicher.»
«Wenn der Blinde nicht für eine Augenoperation in die Schweiz geflogen wäre.»
«Das weiss keiner.»
«Ausser deiner Familie.»
«Nein. Auch Naomi nicht. – Überdies sind wir unter einem falschen Namen ausgereist.»
«Gut, ja, aber was ich nicht verstehe. Warum, warum in drei Teufels Namen, warum willst du diesen Dreck aufmischen?»
Ein Motorrad überholte sie, ein Verrückter, der wie ein Geschoss an ihnen vorbeiraste. Mettler schüttelte den Kopf, grinste und gab Gas. Ein Kindskopf. Oder wollte er ihm Angst einjagen?
Tetu starrte auf die Strasse, die von der Schnauze des Wagens gleichsam gefressen wurde, und versuchte sich irgendwo festzuhalten. Am Gurt, der sich über seinem Bauch spannte, an der gepolsterten Armlehne in der Tür, am Hebel der Handbremse.
«Finger weg!», fauchte Mettler, doch nachdem der Motorradfahrer mit roten Bremslichtern die nächste Ausfahrt genommen hatte, erkundigte er sich wieder nach Odongo.
«Was meinst du? Odongo? Wurde er gefoltert? Niemand weiss, ob er geplaudert hat. Und was. Namen. Daten. – Zimperlich sind Kimeles Leute nicht. Das weiss keiner so gut wie du. – Ich verlange, dass Naomi ab sofort täglich ihren Vater anruft.»
«Wie bitte?»
Wovor hatte Mettler solche Angst? Oder war es Vorsicht?
«Und wenn Odongo die Daten an weitere Personen gegeben hat?», bohrte Mettler weiter. «Wenn es Kopien gibt?»
«Das haben sich Elisabeth und ihr Mann auch gefragt. Sie haben sich nach London abgesetzt. Wenigstens für ein paar Wochen …»
«Und in London sind sie sicher? Wie du in der Schweiz?»
«Du glaubst doch nicht … So mächtig sind diese Leute nicht …»
«Und ob! Wenn du dir da nur keine falschen Hoffnungen machst. Er hat zwar keinen Ministerposten mehr, aber …» Mettler seufzte. «Was muss Kimele befürchten, wenn seine Machenschaften auffliegen? Und zu welchen Mitteln greift er, um einen erneuten Skandal zu verhindern?»
Mittlerweile waren so viele Fahrzeuge um sie herum, rechts und links, vor und hinter ihnen, dass abzusehen war, dass die rasende Lawine demnächst zum Stehen kommen musste. Mettler schwamm im Strom der vielen Wagen, die alle glänzten, als wären sie eben erst aus der Fabrik gekommen, selbst die Lastwagen blitzten im Sonnenlicht. Und alle fuhren mit Mettler um die Wette.
Bevor sie aufgebrochen waren, hatte er Mettlers Wagen bewundert. Er hielt ihn für ein brandneues Fahrzeug. Die einwandfreien Lederpolster, der Lack ohne Rost und Kratzer. Mettler lachte und behauptete, es handle sich um einen «alten Herrn», fünfzehn Jahre alt mit über 200'000 Kilometern, und dann zeigte er ihm eine Schramme bei der Tür und eine so winzige Beule, dass sie sich bücken und drehen mussten, um sie in der spiegelglatten Oberfläche überhaupt zu sehen.
Warum machte Mettler seinen Wagen schlecht? Als ob er ein schlechtes Gewissen hätte, schämte er sich für seinen Reichtum?
Und dann standen sie im Stau, und Tetu atmete auf. Wenn der Alfa hielt, fand er ihn fast gemütlich und die Vorstellung, dass sie nur eine Handbreit über der Strasse hockten, verlor ihren Schrecken.
«Du bist in Kenias Gefängnissen fast verreckt», brauste Mettler auf und schlug mit der Faust aufs Lenkrad. «Du bist erblindet, und mich hat man ausgeraubt. Das Hotel in Lamu, meine Ersparnisse, alles weg. Aber wir leben noch, Njoroge. Wir leben noch. Und das soll so bleiben. Wenigstens noch für ein Weilchen.» Und wieder ein Schlag aufs Lenkrad. «Njoroge! Robinson! Verdammt! Freu dich, freu dich, dass du wieder sehen kannst, und lass die Finger davon. – Wir wissen, dass wir recht hatten. Damals. Der Goldhandel ist ein paar Jahre später aufgeflogen, die Gerichte bestätigten unseren Verdacht. Aber hat sich etwas geändert? Hat sich auch nur irgendetwas verbessert? Kamen Kimele und seine Leute hinter Gitter? Haben sie auch nur einen Shilling von ihren geklauten Millionen zurückgegeben? Irgendeinen verdammten, einzigen Shilling?» Er drehte sich wütend nach ihm um und funkelte. «Sie haben mit dem Finger auf andere gezeigt und weitergemacht. Immer weiter. Und immer noch einen Zacken unverschämter. Der Kimeleclan ist reicher als Kenia verschuldet. Kein Leak hat ihnen je geschadet.»
Mettler trommelte auf die Armaturen, riss ein Handy aus der Halterung und schleuderte es auf den Rücksitz. So ausser sich hatte Tetu seinen Freund noch nie erlebt.
«Gut!», brüllte Mettler, «schauen wir uns die Dateien an. Offline. Meinetwegen. Auf einem neuen Computer, der noch von keiner Suchmaschine registriert wurde. Vielleicht ist ja alles vollkommen harmlos. Bankbelege, Verträge, E-Mails. Nutzloses Zeug, mit dem niemand etwas anfangen kann und das nichts beweist, kein einziges Verbrechen. Nichts.»
«Und Odongo ist umsonst gestorben», knurrte Tetu. Und beide wussten sie, dass sie sich etwas vormachten.
Bei der nächsten Abzweigung verliessen sie die Autobahn und zwängten sich durch eine Strasse mit Einkaufscentern. Wohin er schaute, mehrstöckige Klötze mit riesigen Werbeaufschriften, hässliche Bauten ohne Wohnraum, in denen es für jeden Bereich ein ganzes Haus gab. Garten, Möbel, Büro, Küchen, Bau und Hobby, Kleider, Schuhe … Und Elektronik. Da wollten sie hin.