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Kapitel 5

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Einen noch mehr an Spionageromane erinnernden Treffpunkt hätten sie sich nicht aussuchen können, dachte der jüngere Mann. Ein Parkplatz an einem Waldrand. Ein großes Hinweisschild zeigte eine Karte mit einem Muster bunter Wanderwege.Nach Süden hin verschwanden weite Felder im dichten Dunst des frühen Morgens. Die Umrisse einer Viehtränke waren neben einem Zaun gerade noch auszumachen. Sie warteten nun schon geraume Zeit. Er blickte verstohlen auf seine Armbanduhr. Schon fast eine Dreiviertelstunde! Da sie den Motor des Autos, in dem sie warteten, ausgeschaltet hatten, kroch langsam die Kälte ins Fahrzeuginnere. Auf der Zufahrt zum Parkplatz regte sich etwas. Es schien wie waberndes Licht, aus dem ein Scheinwerferpaar herauswuchs. Na endlich! Der junge Mann musterte mit einem kurzen Seitenblick die Frau auf dem Beifahrersitz rechts von ihm, doch die starrte mit einem entrückten Blick geradeaus. Sie scheint noch nicht einmal zu bemerken, dass unser Besuch anrückt. Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen fragte sich der Mann, was er da eigentlich machte. Das andere Auto, ein neuer BMW in einer in diesem Morgenlicht unmöglich festzulegenden Farbe, beschrieb einen Halbkreis und kam dann etwa 20 Meter vor ihrem Fahrzeug zum Stehen. Ein Mann stieg aus, Managertyp, hoch aufgeschossen, kurze Haare, Anzug und Kurzmantel. Er ging um seinen Luxusschlitten herum, fischte eine Zigarette aus einem Metalletui, etwas, das der junge Mann nur aus alten Filmen kannte, und zündete sich die Zigarette an. Doch bereits nachdem er nur zwei, drei Mal mit sichtbarem Genuss den Rauch inhaliert hatte, warf er die Zigarette zu Boden und trat sie mit dem linken Fuß, dem linken, aus. Das Signal: Es war alles in Ordnung, sie wurden nicht überwacht. Die Frau neben ihm öffnete bereits die Wagentür und stieg aus. Sie und der Manager schienen sich zu kennen, sie traten aufeinander zu und umarmten sich kurz. Auch der junge Mann stieg aus. Die Worte wurden nur geflüstert, die Information, wegen der sie so früh an diesem gottverlassenen Ort sein mussten, schien bereits ausgetauscht. Er hörte nur „… sehr zufrieden … absolut unvermeidlich … abwarten!“ Ohne weitere Worte wandte sich die Frau um und stieg wieder ein. Der junge Mann folgte ihr mit seinem Blick, schaute dann nochmals den Älteren an, doch nichts deutete darauf hin, dass noch weitere Worte gewechselt werden sollten. Also folgte er der Frau, setzte sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Was tat die Wärme der Heizgebläse gut!

Emde staunte nicht schlecht. Er hätte mit einem Aufschrei der Medien gerechnet, mit Presseanfragen an die Staatsanwaltschaft und einem verunsicherten Unternehmen, das um Rat fragte, was man denn nun bekannt geben dürfe. Stattdessen herrschte eine große Ruhe, es klingelten weder Mobiltelefone, noch riss ein Assistent alle paar Minuten die Türe mit einer neuen Wasserstandsmeldung auf. Als er das Gebäude der Polizeidirektion Waldeck an der Korbacher Pommernstraße betrat, war lediglich ein Anruf mit Rückrufbitte für ihn eingegangen. Wie schon öfters und eigentlich von der Dienststellenleitung nicht gerne gesehen, hatte er auf einem Parkplatz einige Gehminuten entfernt geparkt und seinen Dienstparkplatz verschmäht. Über den freute sich wie immer eine Kollegin, die jeden Morgen aus Frankenberg kam. Wer schon morgens lange im Auto sitzt, sollte dann nicht auch noch lange Wege zu Fuß laufen müssen. Sein Wagen stand, für schnelle Ermittlungen immer noch gut zu erreichen, gegenüber der Korbacher Stadthalle. „Hier“, einer der Assistenten reichte ihm einen Zettel, „ziemlich kompliziert, der Herr. Möchten wissen, welche Ergebnisse wir vorweisen können. Und natürlich alles erfahren, noch bevor es die Presse erfährt.“ Kleine las den Namen. Johannes Döhrenbach. Pressesprecher von Prospersoil. Er stöhnte innerlich und schüttelte den Kopf. Was konnte das für eine Art Pressesprecher sein, der ernsthaft davon ausging, dass die Polizei sofort Ermittlungsergebnisse an Dritte weitergab? Denn das und nichts anderes wollte dieser Typ doch. Von seinem Schreibtisch aus wählte er die Nummer, während er seinen Computer hochfuhr, doch der Anschluss war besetzt. Offenbar kam das Interesse am Tod Lieberknechts doch langsam in Fahrt. Und die Ermittlungen auch, dachte Emde, nachdem er die vier Leitz-Ordner bemerkte, die aufrecht auf seiner Schreibtischunterlage warteten. „Ist schlimmer als es aussieht“, machte ihm eine Stimme hinter ihm Mut. Frank Bangert, einer seiner Mitarbeiter, ein Experte für Wirtschaftsdelikte, saß hinter seinem Schreibtisch und faltete gerade eine Frankfurter Allgemeine zusammen. „Die Kollegen haben ziemlich viel zum Thema Einordnung von Prospersoil in den internationalen Markt, Steuersparmodelle, Offshore-Unternehmen und so etwas zusammengetragen.“ Bangert machte eine Kunstpause. Emde ahnte, dass damit bereits alles gesagt war und somit an ihn die Anweisung ergangen war, sich die Details gefälligst selbst zusammenzulesen. Bangert fuhr fort. „Da könnte einem schon der Hals anschwellen, wenn man so liest, wie diese Herrschaften ihre Unternehmensgewinne aus dem einen Land in dem anderen Land versteuern, weil sie dort ihren Sitz haben und es dort eine nahezu unbegrenzte Steuerfreiheit gibt.“ Er füllte sich Kaffee aus einer Borussia-Dortmund-Thermoskanne nach. „Verdammt, Finanzminister in so einem Inselstaat möchte ich mal sein. Ich würde mir eine eigene Fantasieuniform schneidern lassen, blau wie das Meer ringsherum, damit das Metall meiner vielen Orden umso mehr blitzt. Mann, was hätte ich einen Dienstwagen. Und natürlich würde ich mit einer ganzen Kolonne von dunklen Limousinen unterwegs sein, und wenn ich zum Golfen will, müssen für mich die Straßen abgesperrt werden.“ Emde musste schmunzeln und dachte unwillkürlich an einen großartigen Roman, der genau so etwas zum Inhalt hatte und den Kleine ihm mal geliehen hatte. ‚Der Schneider von Panama‘, eine wunderbare Satire, aber mit einem bitterernsten Kern. Emde hatte sie zunächst eher mit Widerwillen gelesen und um seinem Freund einen Gefallen zu tun. Am Ende wollte er das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen, was für Wahrheiten sich darin wiederfanden, du glaubst es gar nicht. Als dann einige Zeit später die Verfilmung ins Kino kam, waren sie extra nach Kassel gefahren, um sie zu sehen. Seitdem war auch Emde Fan des Autors John le Carré und von guten Politthrillern.

Der Hauptkommissar warf einen flüchtigen Blick auf die eingegangenen Mails und schlug den ersten Ordner auf. Die Unternehmensgründung von Prospersoil, aha. Er warf einen Blick hinüber zu Bangert, der seinerseits gerade das BVB-Plakat an der Wand anschmachtete, das er als in der Wolle gefärbter Fan in den Diensträumen aufhängen durfte. Stimmt, die Borussia hatte ja am zurückliegenden Wochenende in Bayern gewonnen. Ein glanzvoller Sieg, Fußball vom anderen Stern, großer Sport! Hatte er dem Erfolg eigentlich Referenz gezollt? „Bangert, weißt du, was der gravierende Unterschied zwischen uns und deinem Fantasiestaat ist?“ Der Gefragte erwachte aus seinen Titelträumen und blickte neugierig herüber. „Bei uns wirst du schlimmstenfalls abgewählt und musst dich in einer Elefantenrunde im Fernsehen am Wahlabend deinem Nachfolger stellen und geschlagen geben. Und alle finden es ganz okay, wenn du dabei vielleicht nicht mehr ganz nüchtern bist.“ Er machte eine kurze Pause. „In solchen Kleptokratien aber“, er liebte das Wort, Kleine hatte es ihm mal genannt und erklärt, was das ist, „endest du in einem Hinterhof, als Fischfutter oder dein toller Dienstwagen wird von Geschosssplittern durchsiebt. Samt dir. Das willst du nicht. Ich auch nicht, denn dann muss ich den ganzen Kram hier alleine machen.“ Er beschrieb mit seiner Hand einen Halbkreis über seinen Schreibtisch, Bangert schnitt eine Fratze. „Also. Bleib lieber bei deiner Borussia, denn Fußball spielen können die dort meistens auch nicht.“ Die Borussia allerdings manchmal auch nicht, seit Klopp, der Große, das Weite gesucht hatte, dachte Emde, aber das behielt er lieber für sich.

Eine Mail ging mit einem Glockenspielton ein: Der Autopsiebericht aus der Gerichtsmedizin, eigentlich bereits für gestern angekündigt. Anders als in Fernsehkrimis nahmen einzelne Bestandteile einer Autopsie mitunter eben doch einiges an Zeit in Anspruch, denn chemische Prozesse mussten überprüft und abgeglichen werden. Und anders als im Fernsehen waren Rechtsmedizinische Institute auch nicht immer so perfekt ausgestattet und hatten meist eine zeitraubende Wochenenddienstregelung. Die ‚Klienten‘ konnten sich ja nicht mehr über lange Wartezeiten beschweren. Emde klickte den Bericht auf und überflog flüchtig, was er beinahe schon erwartet hatte: Unmittelbar eingetretener Tod durch massive Einwirkung auf den Schädel bedingt durch das Eindringen eines Geschosses. Also endgültig doch kein Herzklabaster. Lieberknecht war vermutlich wirklich schon tot, bevor er rückwärts gegen die Holzlatten san. Bei ihrem Austritt aus dem Hinterkopf hatte die Kugel einen großen Teil des Okzipitallappens mitgenommen. Was auch immer das genau war, die Kollegen von der SpuSi durften ihn später mit Schwamm und Eimer von der Rückwand aufnehmen, bevor sie das Geschoss vorsichtig aus dem Holz kratzen und in die ballistische Untersuchung geben konnten, dachte Emde. Er blickte kurz durch die anderen Mails: Der Bericht der Ballistiker war noch nicht eingegangen. Der Autopsiebericht endete mit einem Fazit: Tod wurde vermutlich bewusst herbeigeführt. Emde seufzte und vertiefte sich in die weiteren Unterlagen.

Als Kleine erwachte, war es draußen längst wieder hell. Sein Plattenspieler hatte den Tonarm nach Abspielen der ersten Seite wieder in die Ausgangsstellung zurückgefahren, der Plattenteller drehte sich aber noch und die Nadelbeleuchtung war eingeschaltet. Kaffee! Er trank einfach zu viel davon. Seine Mischung aus der vergangenen Nacht war längst ungenießbare Plörre geworden und erinnerte ihn mit ihrem grässlichen Aroma an endlose Redaktionstage, als er zigmal frischen Kaffee aus der kleinen Teeküche … warum hießen diese kleinen Kabinette eigentlich immer noch so, obwohl dort deutlich mehr Kaffee als Tee getrunken wurde? … geholt hatte, der dann erkaltete, ohne getrunken worden zu sein. Er rief sich den zurückliegenden Tag in Erinnerung. Lieberknecht war tot. Erschossen, Donnerwetter. Er konnte sich vorstellen, wie die Bewohner der Region mit dieser Nachricht umgehen würden. Viele hatten es sich sicherlich oftmals ausgemalt: Kommt schon, seid ehrlich zu euch, wie oft habt ihr gedacht, ihr entzündet ein Freudenfeuer, wenn der Typ den Arsch zukneift. Doch nun, nachdem es wirklich passiert ist, sitzen wahrscheinlich viele am Küchentisch und wissen nicht, was sie denken und vor allem, wie sie auf die Frage „Hast du’s schon gehört?“, reagieren sollen, die sie theoretisch in dem Augenblick ereilen kann, wenn sie vor die Tür treten. Er war doch schon so eine Art Heilsbringer für die Region, nicht? Schade eigentlich.

Kleine überprüfte die Termine des heutigen Tages. War heute nicht sogar die Ratssitzung? Tatsächlich, um 18 Uhr in der Dansenberghalle. Ursprünglich hatte sie im Festsaal der evangelischen Kirchengemeinde Adorf stattfinden sollen. Aus Platzmangel in den Amtsräumen der Gemeindeverwaltung wurden stets andere Räumlichkeiten genutzt, je nachdem, welche Tagesordnungspunkte besprochen wurden und mit welchem Interesse in der Bevölkerung gerechnet wurde. Heute wurde mit großem Interesse gerechnet. Kleine überflog die Tagesordnung, die auf der Webseite der Gemeinde eingefügt war. Tatsächlich hätte es heute einen weiteren Sachstandsbericht zur Reaktivierung der Grube Christiane geben sollen. Eine Expertin des Bergamts sollte Risiken, Möglichkeiten und Chancen ausloten und dem Rat vorstellen. Ob dieser Punkt wohl so stattfinden würde? Kleine griff zum Telefon.

Emde hatte an seinem Schreibtisch beinahe zeitgleich von der Ratssitzung erfahren, als das Telefon klingelte. Er schaute auf die Nummer im Display. Hier innerhalb des Kommissariats musste er vorsichtig sein, auch wenn immer mal wieder der eine oder andere Kollege etwas von seiner nützlichen Liaison mit dem Journalisten mitbekommen hatte. So meldete er sich auch mit einem halblauten „Was willst du?“ und lauschte Kleines Vorschlag, die Sitzung gemeinsam aufzusuchen. „Gut. Gute Idee. Sonst noch etwas?“ Kleine blickte verdutzt sein Handy an. Was für ein unwirscher Ton. Emde hatte offenbar Stress. Oder war im Büro. Oder beides traf zu, was ja auch mal vorkommen konnte. Er fasste sich kurz. „Wir sehen uns dann.“ Ein Klicken in der Leitung beendet das Gespräch. Emdes Blick wanderte zu der Thermoskanne seines Kollegen. Der Kaffee im Präsidium war eigentlich ungenießbar. So sehr, dass er schon öfters, sehr zur Freude seiner Frau, auf Tee ausgewichen war. Earl Grey, second flush. „Ist da noch etwas drin?“ Bangert schaute erstaunt rüber und nickte kaum merklich. Erleichtert und ohne seinen Wunsch weiter ausdefiniert zu haben, stand Emde auf und besorgte sich eine Tasse, angeschlagen und mit bereits angeklebtem Henkel: Die Polizei in Hessen – Dein neuer Arbeitgeber.

Die Szene war unwirklich. Fast wie in einem Film. Constanze Lieberknecht trat gefasst in den Raum, dessen Temperatur deutlich niedriger als die in den anderen Räumen des Instituts für Pathologie in Kassel war, das für die nordhessische Polizei bei Bedarf auch als Rechtsmedizin fungierte. Doch abgesehen vom Verhalten der Bankierswitwe erinnerte wenig in dem Raum an die entsprechend gleichen Szenen in Fernsehkrimis. Es gab keine Milchglasscheiben und kein diffuses Licht. Keine Reihe von Alutischen mit zugedeckten Körpern und auch keinen Gerichtsmediziner mit Kittel und Mundschutz, der nach einem kurzen Augenblick ein Tuch zurückschlug. Der Raum hatte eher etwas von der sterilen Freundlichkeit eines Krankenzimmers, war weniger ein angsteinflößender Operationssaal als ein Sterbezimmer, die Wände waren nicht gefliest, sondern verputzt, lediglich bis Knöchelhöhe reichte der rutschfeste Bodenbelag aus PVC, der in den Kanten für eine bessere Reinigung hochgewölbt war. Über der Tür hing ein Kruzifix. Das eigentliche Gemetzel hatte in einem anderen Raum stattgefunden.

Emde war etwas später als Constanze Lieberknecht an der Gerichtsmedizin angekommen und hatte im Vorbeifahren auf der Suche nach einem Parkplatz gesehen, wie sie aus der Beifahrertür eines roten Mercedes-Coupés stieg. Am Steuer saß ein deutlich jüngerer Mann, zweifellos Torben Wagner alias David Kline, der dem Beamten bereits vom Hörensagen bekannt war. Am Vortag hatten sie zwar das Foto im Bücherregal gesehen, aber neben der etwas älteren Witwe sah der Bursche wirklich aus wie ein Kind. Emde hatte noch abgewartet, bis auch der junge Fotograf einen Parkplatz gefunden, das Auto, das ohne jeden Zweifel auf den Namen Constanze Lieberknecht zugelassen war, mit äußerster Vorsicht eingeparkt hatte und der Witwe in die Gerichtsmedizin gefolgt war. In der Zwischenzeit hatte er den Pressesprecher von Prospersoil erreicht und mit ihm einen Gesprächstermin für den frühen Nachmittag ausgemacht. Emde musste dabei seine Worte etwas harscher wählen: Johannes Döhrenbach erwies sich als äußerst strebsam darin, seine Ziele zu erreichen. Die Grußfloskeln waren noch nicht richtig verklungen, da befand sich Döhrenbach bereits in einem Monolog über die Verpflichtungen der Behörden, Auskünfte zu erteilen. Informationsfreiheitsgesetz, er, der Beamte, wisse darüber sicher Bescheid. „Aber nicht mitten in Ermittlungen“, hatte Emde ihn gestoppt. Sie hatten sich bis auf Weiteres geeinigt, in hoffentlich fruchtbarer Weise zusammenzuarbeiten und das gemeinsame Gespräch miteinander zu suchen. Emde war dennoch ein heftiger Fluch über die Lippen gekommen, nachdem er aufgelegt hatte. Was für ein Arschloch! Auf gute Zusammenarbeit!

Er stieg aus und folgte dem vermeintlichen Starfotografen ins Foyer der Gerichtsmedizin. Er sah den jungen Mann dort in einer Sitzgruppe hocken und auf seinem Handy daddeln. Ein Youngster mit rasend machendem Restless-Legs-Syndrom. Muss jederzeit abchecken, was in seiner Community abgeht. Constanze Lieberknecht hatte sich nur einmal umgeblickt und den Ermittler grußlos gemustert wie ein lästiges Insekt. Nun schritt sie auf den Tisch zu, auf dem ihr ermordeter Mann lag. Mutmaßlich zumindest, korrigierte sich Emde. Die Leiche war von den Füßen bis zu den Schultern mit einem Tuch bedeckt, die Augenpartien waren dunkel unterlaufen und zeigten bereits sichtbare Spuren des Todes, der Bereich der schweren Kopfverletzung war unter einem OP-Tuch verborgen. Nach den strengen gesetzlichen Vorgaben war die Leiche an allen drei Körperhöhlen im Kopf, Brust- und Bauchbereich geöffnet worden. Den Anblick wollte man Angehörigen in der Regel ersparen. Constanze Lieberknecht blieb stehen und blickte auf den Toten herab. Sie schaut wirklich auf ihn herab. Emde spürte das, auch wenn er die Witwe nur von hinten sehen konnte. Die Blicke des Gerichtsmediziners, die er gut sehen konnte und die auch ihrerseits Kontakt zu ihm suchten, sprachen allerdings Bände. Die Temperatur im Raum schien durch die Anwesenheit der Witwe nochmals gefallen zu sein. Nach einem weiteren Augenblick wandte sich die Frau um, blickte Emde kurz und zornerfüllt an und ging zur Tür. Die Absätze ihrer Wildlederstiefel donnerten draußen ein Stakkato auf die Kacheln des Flurs, bevor die selbstschließende Tür wieder leise ins Schloss gefallen war. Emde, der verdutzt hinterher geblickt hatte, drehte sich nun zum Gerichtsmediziner um. Der zuckte mit den Schultern, während er ein grünes OP-Tuch über die komplette Leiche zog und den Verstorbenen so vollständig zudeckte. „Sie hat zumindest nicht gesagt, dass er es nicht ist, also ist er es.“ Er griff zu einem Klemmbrett, fingerte einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Kittels und notierte etwas auf einem Formular. Emde nickte, er kannte das Prozedere für solche Fälle, das nicht so ganz den gesetzlichen Vorgaben entsprach. Lieberknecht war damit identifiziert, auch ohne ein theatralisches, tränenreiches „Er ist es“, wie man das ebenfalls aus Fernsehkrimis kennt. Emde trat an den Tisch. Ein weiteres Kopfnicken des Ermittlers. Der Mann gegenüber zögerte, verstand dann aber und entfernte noch mal das Tuch vom Kopf der Leiche. Emde pfiff leise, als er den mittlerweile dunkel umrandeten Krater in der Stirn sah. Wie viel Lieberknecht wohl noch mitbekommen haben mochte? Ob er gespürt hat, dass er ermordet wurde? Ein weiteres Nicken als Dank, dann folgte der Polizeibeamte der Witwe. Doch Emde sah draußen auf dem Parkplatz nur noch die Abfahrt der beiden. Irgendetwas im Verhältnis zwischen Constanze Lieberknecht und ihrem Mann war ganz und gar nicht so, wie es sein sollte und auch nicht so, wie sie es gestern versucht hatte, ihnen vorzugaukeln.

„Kinder, lasst uns mal zusammenfassen, was wir haben.“ Emde hatte seinen Bürostuhl hinter seinem Schreibtisch hervorgerollt. Seine Kolleginnen und Kollegen taten es ihm nach, nun saßen sie im Kreis zwischen ihren Tischen. Eigentlich wie eine Sitzgruppe in der Psychotherapie, hatte Emde immer wieder gedacht. Aber bei irgendeinem Fall hatten sie festgestellt, dass sie so am besten mit den Ermittlungen von der Stelle kamen. Keiner verbarrikadierte sich hinter einem Tisch oder Akten, keiner hatte etwas zu verbergen, Ideen und Vermutungen konnten frei geäußert werden. Irgendwann werfen wir uns sogar ein Wollknäuel zu. Emde musste immer wieder lächeln bei dem Gedanken daran, mit welchem Ernst sein Team an solche Gesprächsrunden herantrat. Neue im Team wurden schnell auf die Tradition eingeschworen. So war es auch jetzt. Seine ‚Neuen‘ aus Kassel gehörten schon fest dazu. Ohne jede Ränkespiele, was Emde wunderte. aber gleichzeitig auch freute. „Erstens: Lieberknecht ist identifiziert. Zweitens: Es war definitiv Mord von jemandem, der weiß, wie so etwas geht. Und auch, wie man danach spurlos verschwindet.“ Emde ging in Gedanken die Ermittlungsergebnisse der Tatortgruppe durch. Sie bestanden aus einem Wort. „Nichts“, hatte Meistermann ihm staunend berichtet. „Absolut überhaupt nichts.“

Emde rieb sich die Stirn. Dass die Anwohner im nahen Heringhausen weder etwas gesehen, noch etwas gehört hatten, wunderte ihn nicht weiter. Häufig fiel den Leuten später noch etwas ein. Diese Informationen waren aber mit Vorsicht zu genießen, da oft die Wahrnehmungen von Nachbarn oder Bekannten mit hineingewoben waren. Was ihn aber ärgerte: Auch die Wabenüberprüfung der Mobilfunkanbieter hatte zu keinem nennenswerten Ergebnis geführt. Emde hatte in diese Abfrage viel Hoffnung hineingelegt: Zur Tatzeit am frühen Sonntagmorgen dürften nicht viele Mobilfunktelefone in den Netzen angemeldet gewesen sein. Aber alle Kontakte gehörten zu Nutzern, die am Diemelsee oder in der Umgebung gemeldet oder zumindest lückenlos nachverfolgbar waren, in der Mehrzahl Angestellte des Hotels am See. Ein weiteres Indiz dafür, dass sie es mit einem lautlosen Profi zu tun hatten. „Da kommen wir offenbar erstmal nicht weiter. Aber wir müssen darüber nachdenken, warum das Ganze auch wie ein Mord aussehen sollte. Also: Mord aus pädagogischen Gründen.“ Seine Leute lachten verhalten kurz auf. Emde ergänzte zunächst nicht, dass inzwischen eine Information über den Fall an das Landeskriminalamt gegangen war. Vielleicht kam von dort eine Idee, wo nach einem möglichen Täter zu suchen war. Ob einschlägige ‚Kunden‘ bekannt waren und wo sie sich gerade aufhielten. „Drittens: Seine Frau ist kalt wie ein Fisch und scheint beinahe nicht unglücklich, dass er abgetreten ist. Motiv? Irgendjemand eine Idee?“ Er blickte sich um. Gegenüber sah eine Kollegin auf. „Eifersucht?“ Emde schaute die Kollegin an. Sie sprach weiter. „Ich meine, können wir ausschließen, dass er fremdgegangen ist? Immerhin scheint ja auch die Frau über ausreichende Mittel zu verfügen, so jemanden zu casten.“ Vereinzeltes Nicken. Auch eine Idee, dachte Emde. Aber heuert man deswegen direkt einen Berufsmörder an? Trotzdem – er notierte diese Möglichkeit. Eifersucht. Er ließ etwas Platz für weitere Ideen zu diesem Motiv. „Was sonst noch?“ Eine weitere Stimme war zu hören: „Lieberknecht hatte konkrete Kenntnisse über irgendetwas, das irgendjemandem gefährlich werden könnte.“ Das war Bangert. Er hatte sich in die Informationen zum Thema Prospersoil eingelesen. „Und was könnte das sein?“, fragte Emde zurück. Tatsächlich hatten mehrere Kolleginnen und Kollegen die Ermittlungsakte, so dünn sie bislang auch war, genau studiert. Ja, Prospersoil war tatsächlich so etwas wie ein Enfant terrible in den Reihen der Rohstoffe erschließenden und fördernden Unternehmen. In mehreren Steueroasen rings um den Globus von Asien bis über die Cayman Islands, die Bermudas und den US-Bundesstaat Delaware wurden Steuersparmodelle hart an der Grenze der Legalität genutzt, doch nicht nur das. Emde hatte selbst mehrere Berichte gelesen, die den Rückschluss zuließen, dass mitunter auch mal mit den entsprechenden Mitteln nachgeholfen wurde, wenn wertvolle Rohstoffe in geschützten Arealen vermutet wurden. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, wurde in nicht ganz befriedeten Regionen, etwa in afrikanischen Staaten oder deren Fragmenten, auch mal die Aufmerksamkeit nicht ganz der Demokratie verschriebener Regierungschefs, Warlords oder rivalisierender Rebellengruppen erkauft, wenn es der Sache nützte. Entsprechende Klagen wegen Korruptionsverdachts und Beteiligung an Waffenschiebereien und deren Finanzierung waren bei diversen Gerichten eingegangen. Und ja, Lieberknecht war durch seine Investitionen ein Teil dieser unglaublichen Erfolgsgeschichte. Doch das gehörte zunächst nicht zu diesen Ermittlungen. Noch nicht, dachte Emde und wusste intuitiv, dass er mit diesem unappetitlichen Teil der Geschichte des ermordeten Bankiers eigentlich nichts zu tun haben wollte – und doch irgendwann musste.

Emde musterte eine weitere Kollegin interessiert. Nora Freese sah so aus, als wollte sie etwas sagen, schien aber noch nicht so ganz zu wissen, wie sie ihren Beitrag sortieren sollte. ‚Nofri‘, wie sie von allen genannt wurde, war ebenfalls von der Mordkommission aus Kassel abkommandiert. Für sie selbst eine Erleichterung, denn Nofri wohnte in Berndorf gleich um die Ecke und musste nun nicht jeden Morgen die Pilgerreise ins weite Kassel antreten. Und sie sprang ins Auge. Ihre lange Zeit kinderlosen Eltern – ihr Vater war immer noch Vertreter für Landmaschinen in Berndorf – hatten vor knapp 30 Jahren die Entscheidung getroffen, ein Mädchen unbekannter afrikanischer Eltern zu adoptieren. In einer sehr ländlich geprägten Region wie Nordhessen zur damaligen Zeit eine bemerkenswerte und eindrucksvolle Entscheidung. So ein Kind fiel auf. Und das tat Nofri bisweilen bis heute. Emde hatte schon gehört, dass sich bei Ermittlungen oftmals, trotz aller gepredigter Offenheit, bei vielen Befragungen Ressentiments ergeben hatten. Manchmal auch offener Rassismus. Die Leute – auch solche, die sich selbst als in keiner Weise von Vorbehalten gegenüber Menschen aus anderen Kulturräumen als dem mitteleuropäischen geprägt bezeichnen würden – sprachen lieber mit dem sichtbar aus heimischen Regionen stammenden Kollegen als mit einer afrodeutschen Beamtin. Sogar dann, wenn Nofri als Kommissarin einen höheren Dienstgrad besaß. Zudem wurde ebenso oft die Frage gestellt, ob denn die Kollegin „aus Afrika ein Praktikum bei der deutschen Polizei“ mache. Einmal war wohl auch das Wort ‚Negerin‘ gefallen. Meistens löste sich das alles auf, wenn Nofri begann, in dem in der Region heimischen Zungenschlag zu sprechen, den sie durch ihre Adoptiveltern perfekt beherrschte. Es war ja auch ihre Muttersprache. Aber das musste man den Leuten einhämmern! Emde hatte sie sofort gemocht. Sie brachte Ruhe ins Team und war durch ihr großes Allgemeinwissen eine Mitarbeiterin von unschätzbarem Wert.

Tatsächlich war ihr Spitzname, der sich aus den Anfangsbuchstaben ihres Vor- und Zunamens zusammenzusetzen schien, mit großem Bedacht gewählt: Nofris gleichmäßige und schöne Gesichtszüge hatten tatsächlich eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit dem Gesicht der ägyptischen Königin Nofretete. Emde ermutigte sie zu sprechen. „Nofri, du willst etwas sagen?“ Die junge Frau zögerte noch. Doch dann gab sie sich einen Ruck. „Ich denke, wir sollten in Erwägung ziehen, dass wir es vielleicht mit Wissen von größter Bedeutung zu tun haben.“ Emde lehnte sich zurück und wartete ab, was da noch kommen mochte. Wissen von größter Bedeutung. Er beneidete schon jetzt die Kollegen, die in Kassel ständig mit ihr zu tun hatten. Nofri sprach – und alle hingen an ihren Lippen, nicht zuletzt wegen ihrer äußerst gepflegten Wortwahl. Man konnte ihr gut zuhören. Auch, wenn sie sicherlich auch andere Saiten aufziehen konnte. Als Kind mit Landmaschinen groß geworden konnte sie zweifellos eine Wortwahl an den Tag legen, die der groben Natur des Profils eines Traktorreifens in nichts nachstand. „Wissen, für das getötet wird. Gehen wir davon aus, dass es sich um etwas handelt, für das man sich Schweigen mit viel Geld erkaufen kann, dann wäre Lieberknecht nicht ermordet worden. Trotz seiner Millionen, solche Typen neigen immer mehr zur Raffsucht. Sie hätten das irgendwie mit viel Geld unter sich ausgemacht. Außerdem müssen wir bedenken, dass die Tat an sich eine gewisse Strahlkraft hat.“ Sie machte eine Pause und trank einen Schluck Kaffee aus einem Becher, der für irgendein Musikfestival warb. ‚Jazz!‘ las Emde in reduzierter Bauhausschrift. Richtig, Nofri war ja Jazzhörerin, er hatte es schon von Bangert gehört. Vielleicht sollte er sie mal mitnehmen zu Kleine? „Wir haben hier also eine Person oder eine Personengruppe, die den einzigen Ausweg darin sieht, eine ohne jeden Zweifel große Summe zu investieren, damit Lieberknecht dieses Wissen, dass er besitzt, nicht weitergibt. Auf gar keinen Fall. Andere sollen sehen, dass die, die hinter dieser Tat stecken, vor so etwas nicht zurückschrecken. Und damit landen wir bei Hintermännern, die sich entweder gut tarnen und ihre Spuren gut verwischen können oder sich geografisch weit außerhalb der rechtlichen Handlungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland befinden. Also in Staaten, mit denen die Bundesrepublik kein Rechtsabkommen über Strafverfolgung und Auslieferung hat.“ Bangert schmunzelte: „Also quasi ein Mord mit Aussicht.“ Gelächter durchlief kurz das Team angesichts dieser Anspielung auf eine einst beliebte TV-Krimireihe, die in der ländlichen Eifel spielte, aber in Wirklichkeit im Oberbergischen Land gedreht worden war. Doch Emde nickte. „Guter Ansatz!“ Er deutete auf die Ordner, die immer noch wie ein Bataillon Wachsoldaten in einer Reihe auf seinem Schreibtisch standen. „Da haken wir ein. Nofri, sehr gut. Wir müssen wissen, inwieweit Prospersoil solche Verbindungen haben könnte. Findet mir alles raus über mögliche Mitinvestoren aus Ländern, in denen der Hang zur Gewaltausübung möglicherweise etwas lockerer gesehen wird. Russland, der gesamte eurasische Bereich. Vielleicht auch Südamerika und Afrika.“ Emde stand auf. Es war bald Zeit, sich auf den Weg zum Termin mit Döhrenbach zu machen. „Das ist jetzt die wichtigste Zeit, Leute. Mit jeder Stunde werden die Spuren kälter. Wir müssen gucken, dass wir mit den Ermittlungen vom Fleck kommen.“

Krawattennazis

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