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Kapitel 6

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Der Weg nach Kassel, wo Prospersoil eine beeindruckende Niederlassung hatte, führte Emde durch das Twistetal und an Bad Arolsen vorbei in Richtung A44. Von dort sah er schon bald die Kasseler Berge links von der Autobahn in der Sonne des vorangeschrittenen Nachmittags in die Höhe ragen. Am Morgen vor seinem Termin in der Pathologie hatten sie noch eindrucksvoller gewirkt, als sich die tiefen Schatten zu ihren Füßen ausbreiteten und nur vereinzelte Sonnenstrahlen über die Bergrücken leuchteten. Er hatte Nofri kurzerhand gebeten mitzukommen, sie wiederum hatte sich ohne groß zu zögern mehrere Aktenmappen aus zwei Ordnern gezogen. Sie sprachen wenig auf dem Weg. Die junge Ermittlerin blätterte durch die Seiten, machte sich Notizen, recherchierte hin und wieder etwas über ihren Tablet-PC. „Dieser Pressesprecher …“ Sie suchte mit dem Finger schnipsend nach dem Namen. Emde half ihrem Gedächtnis nach: „Döhrenbach …?“

„Döhrenbach, ja. Was für ein Typ ist das, was hast du für einen Eindruck?“

Emde dachte nach. Er hatte nur kurz mit dem Mann gesprochen. Das allerdings hatte für einen ersten Eindruck gereicht. „Sehr sicher, sehr bestimmend. Eher unangenehm. Selbstverliebter Typ. Klang relativ jung.“ Sie nickte, ließ ihn aber nicht an ihren Gedanken teilhaben, sondern vertiefte sich wieder in die Unterlagen.

Sie erreichten das moderne Bürogebäude im westlichen Teil von Kassel nahe der Wilhelmshöhe etwa zehn Minuten später. Es beherbergte neben dem Explorationsunternehmen zwei Anwaltskanzleien, eine Unternehmensberatung und einen Landesverband für Immobilien. Der sehr alerte, blutjunge Mitarbeiter am Empfangstresen trug einen Anzug, der ihn reichlich schlaksig wirken ließ. Er ging eine Liste durch und schaute dann Nora Freese mit einer leichten Missbilligung an. „Ich habe hier nur einmal Emde …“, begann er seinen Satz unsicher und mit der brüchigen Falsettstimme eines jungen Erwachsenen. Emde drehte die Augen zur Decke. „Kommissarin Freese ist meine Assistentin in den Ermittlungen.“ Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er die Rückfrage des jungen Mannes für eine peinliche Entgleisung hielt und sie absolut daneben fand. Doch im gleichen Augenblick ärgerte er sich schwarz. Ermittlungen? Welche Ermittlungen? Dieser Bursche dürfte kaum wissen, was der Grund ihres Besuchs bei Prospersoil war. Nun wusste er es und würde es herumerzählen. Leute, die Prospersoiltypen haben heute Besuch von den Bullen bekommen! Doch, doch! Als Nora Freese mit einer elegant-fließenden Bewegung lautlos ihren Dienstausweis auf den Tresen legte, wurde der Mann vollends blass. Auch das würde er nicht für sich behalten können, eine African Queen, Alter, so etwas habe ich noch nicht gesehen! Ein Telefonhörer war plötzlich an sein Ohr gezaubert, auf einem unsichtbaren Telefon wurde eine Durchwahl gewählt. Nur zwei Minuten später öffneten sich vor ihnen die Fahrstuhltüren in den dritten Stock: Über einen geräumigen Flur mit dezenter Beleuchtung und Teppichboden mit tiefem Flor kam ihnen ein Mann etwa um die Dreißig in einem perfekt sitzenden, modisch-taillierten grauen Anzug und weißem offenen Hemd entgegen. Er hatte eher etwas von einem Startrompeter als von einem Büroarbeiter, dachte Emde und verfluchte sich zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten – er hätte Döhrenbach vorher googeln müssen! Aber offensichtlich schien dies tatsächlich der Sprecher von Prospersoil zu sein. Wie ein Schwert hatte er bereits zehn Meter zuvor seinen rechten Arm zum Gruß ausgestreckt und schien Emde zunächst gar nicht wahrzunehmen. „Frau Kommissarin Freese, es ist mir eine außerordentliche Freude …“ Das freundliche Lächeln erinnerte Emde an das Jungengesicht auf den Pappschachteln von Kinderschokolade. Es schien beinahe echt. Dann war er an der Reihe. „Hauptkommissar Emde. Willkommen bei Prospersoil. Nun, es sind tragische Umstände, die uns zusammenführen, aber was wir tun können, um Sie bei den Ermittlungen zu unterstützen, das wollen wir tun. Auch in unserem Interesse.“ Seine Hand, die vorher wie eine Waffe auf sie gerichtet war, wies ihnen nun den Weg den Gang hinunter.

Die beiden Besucher wurden in ein nüchternes Besprechungszimmer geführt. Dort standen bereits mehrere Tassen, eine Kanne Kaffee und eine Schale mit Gebäck bereit. Die Wände zierten riesige Panoramafotos von Bohrinseln in stürmischer See, Grubenarbeitern mit rußgeschwärzten, verschwitzten Gesichtern, die im fahlen Licht der Helmbeleuchtung Kohle abschürften, einem Park mit Windkraftanlagen in einer Wüste und von einer Ölförderanlage, in deren Vordergrund ein Mann mit rot-weißer Kufiya auf dem Kopf und strahlend weißem ­Dischdasch zu sehen war. Genau nach Proporz ausgewählt und sehr beeindruckend, dachte Emde. See, Erde, Wind, Öl. Nordsee, Amerika und Persischer Golf, alles dabei. Döhrenbach griff nach einer Fernsteuerung. Lautlos schlossen sich die Lamellen der Jalousie vor der bodentiefen Glasfront, während sich die Raumbeleuchtung an der Decke langsam aufblendete. Weichfließendes, angenehmes indirektes Licht flutete aufwärts und füllte den Raum. Sie nahmen Platz. „Also …“, begann der Pressesprecher und faltete die Hände, als wolle er eine Beichte ablegen. „Über die Fakten wissen wir natürlich bereits, was in der Presse stand. Was also können wir für Sie tun und was können Sie uns sagen, wie Herr Lieberknecht verstorben ist?“ Täuschte Emde sich da oder nahm er gerade den Anflug von Nervosität wahr? Nein, er täuschte sich nicht, denn Nofri hatte es ebenfalls bemerkt und preschte bereits vor: „Herr Döhrenbach, was macht Sie denn gerade so nervös?“ Richtige Frage, denn der Pressesprecher zuckte kurz zusammen, fing sich dann aber mit einem Lächeln, das jede unverbindliche Kinderschokolade-Freundlichkeit verloren hatte. „Nervös? Ach was, das täuscht. Wer ist denn hier nervös?“ Er zögerte, war sich offenbar bewusst, dass er im Begriff war, auf ganz kurzen Beinen zu lügen, fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dann entschied er sich für Offenheit. Zumindest für etwas, was er für den Augenblick dafür hielt. „Wissen Sie, Nervosität kann man das nicht nennen. Aber seitdem wir die Nachricht bekommen haben, dass Herr Lieberknecht einem, nun ja, kann man das so sagen? Mord?“ Emde nickte. Diese Tatsache war geklärt und konnte ruhig das Licht der Welt erblicken. „Nun … einem Mord zum Opfer gefallen ist, herrscht hier schon eine gewisse Unruhe. Wie Sie ja sicher bereits wissen, weil es eben im Internet ohne Probleme zu recherchieren ist, war Herr Lieberknecht sehr involviert in das Projekt der Wiederinbetriebnahme der Grube Christiane.“

Döhrenbach stoppte, blätterte in einigen Papieren und gab einen kurzen Überblick über das Projekt. Emde fiel auf, dass er die Streitigkeiten, die sich seit der ersten Erwähnung des Vorhabens in der lokalen Presse am Diemelsee abspielten, mit keinem Wort erwähnte. Auch nicht, dass es bereits zum Austausch verbaler Freundlichkeiten mit einigen Einheimischen gekommen war. „Tja, und auch dieser Standort hier in Kassel ist sehr eng mit dem Erfolg des Projekts verbunden.“ Emde machte sich Notizen, dann stoppte sein Kugelschreiber. „Heißt: Geht das Ding in die Hose, können Sie einpacken?“ Döhrenbach zögerte, nickte dann aber beinahe unmerklich. „Wie viele Jobs hängen da dran?“, fragte Emdes Kollegin. Der Pressesprecher überlegte kurz. „Wir sind hier knapp 25 Personen, hinzu kommen noch derzeit 13 Freelancer, die nicht fest zum Unternehmen gehören.“ Emde stutzte. Womit waren 38 Personen beschäftigt, wenn es nur um die Projektierung eines Vorhabens ging? Nora Freese hatte den gleichen Gedanken zur selben Zeit und stellte die Frage laut. Doch der Sprecher schien darauf vorbereitet. Er lächelte, als würde er eine Weihnachtsüberraschung bereithalten und zauberte aus einer bereitliegenden eleganten Ledermappe einen Organisationsplan des Unternehmens.

Was folgte, war eine Kurzeinführung in die Geschichte und Struktur von Prospersoil. Und wieder, dachte Emde, verkauft er uns das Unternehmen als absoluten Heilsbringer für die gesamte Menschheit. Sein Job, sein Territorium, dafür wird er bezahlt und verdient wahrscheinlich ein Gehalt, von dem er, Emde, als Hauptkommissar nur träumen konnte. „Und hier …“, Döhrenbachs Finger deutete auf ein kleines blaues Rechteck am Rande der Grafik, „hier befindet sich der Standort Kassel, gleichzeitig auch Sitz der hundertprozentigen deutschen Tochter von Prospersoil, der Prospersoil-Germany.“ Die beiden Ermittler beugten sich über die Darstellung und versuchten, einen nachhaltigen Überblick über das Unternehmen zu gewinnen. Was ihnen nicht gelang. Was Freese und Emde dagegen sahen: Niederlassungen, nicht nur, wie sie bereits wussten, an exotischen Orten, in denen man es mit der Steuererhebung nicht allzu genau nahm, sondern auch auf nahezu jedem Kontinent. Zu den Projekten zählte die Erschließung oder auch Rückerschließung von Gold- und Diamantminen in Südafrika, Gasfeldern in der Nordsee und in Sibirien. Es hatte eine Anfrage für Projektbetreuung bei der Erschließung eines Gasfeldes vor Zypern durch die Türkei gegeben. Richtig, darüber hatte Kleine mal etwas erzählt. Offenbar ein nicht ganz unstrittiges Thema dort unten, da das entsprechende Seegebiet weit vor der Küste verschiedener Staaten, unter anderem Israels und Libyens, lag. Diese Länder waren eben auch bereit, das Gebiet ihren Festlandsockeln anzuschließen, und die Sicherheit der Erdgasförderung dort draußen auf See und damit die Staatseinnahmen mit entsprechend ausgestatteten Marineeinheiten zu sichern und im schlimmsten Fall zu verteidigen. „Wir sind hier natürlich in der Hauptsache mit der Erzgrube am Diemelsee beschäftigt“, nahm Döhrenbach den Faden wieder auf. „Aber wann immer es um rechtliche Angelegenheiten anderer Projekte geht, die die Bundesrepublik Deutschland oder deren Interessen betreffen, kommen wir auch ins Spiel.“ Nofri sah auf. „Das heißt, Sie betreiben so eine Art Lobbyismus für diese Projekte?“ Döhrenbach nickte mit einem milden Lächeln, das jeder Buddhastatue Ehre gemacht hätte. „Ganz genau. Hier geht es mitunter um sehr, sehr große Summen und Projekte, die den langen Atem vieler Jahre brauchen.“

Emde räusperte sich. „Nun, Herr Döhrenbach. Ich hätte jetzt eine Frage an Sie, die Sie sicher aus den meisten Fernsehkrimis kennen: Was glauben Sie, wer hätte ein Motiv, Carl Lieberknecht tot sehen zu wollen? Und wem könnte es recht sein, wenn das Ganze auch wie ein Mord aussieht? Immerhin wurde ihm zuvor schon mal Gewalt angedroht.“ Emde spürte, wie Nofri neben ihm begann, leicht mit dem feuerverzinkten Stahlrahmen des edlen Mies van der Rohe-Stuhls zu wippen. Der Pressesprecher überlegte und schürzte die Lippen, schüttelte zunächst den Kopf, schien sich dann aber an etwas zu erinnern und etwas sagen zu wollen. Doch noch hielt er damit zurück. Emde wurde ungeduldig. Baute sich der Mann eine Antwort zurecht? „Nun?“, hakte der Ermittler nach. „Wissen Sie …“ Der Pressesprecher holte tief Luft, bevor er weitersprach. „Diese Bedrohungsgeschichte damals, die Sie angesprochen haben, die hat Herrn Lieberknecht schon sehr zugesetzt. Wenn das eigene Leben so unmittelbar bedroht wird.“ Emde nickte. Er hatte diese Geschichte damals aus zweiter Hand von Kleine gehört, der mit in der Ratssitzung gesessen hatte. Grimmelmann. Grimmelmann der Öko. Grimmelmann, der große Friedensfürst, der kein Leben auf der Welt vernichten wollte. Niemals. Aber auch: Grimmelmann, der Vater eines schwerbehinderten Sohnes. Grimmelmann, der Familienchef, der niemals etwas im Leben tun würde, was seine Familie alleine im Regen stehen lassen würde. Nun, in dieser Situation sind ihm allerdings die Nerven durchgegangen. Grimmelmann hatte Lieberknecht angeschrien und schien sich kaum noch fangen zu können. Die Sitzung, die bis dahin eher unspektakulär verlaufen war, musste abgebrochen werden. Grimmelmann wurde beiseite genommen, seine gesamte Fraktion hatte auf ihn eingeredet und versucht, ihn zu beruhigen. Emde konnte sich die Szene kaum vorstellen. Wahrscheinlich war neben den vielen Worten der ausgestreckte Zeigefinger das Bedrohlichste gewesen, was Grimmelmann zu bieten hatte. „Was meinen Sie mit schon sehr zugesetzt?“, fragte Freese. Döhrenbach sah sie verständnislos an. „Wieso fragen Sie das? Sie waren vielleicht noch nie in einer vergleichbaren Situation, Frau Freese.“ Er lehnte sich zurück, schnaubte und schüttelte – Verständnislosigkeit signalisierend – den Kopf. „Mein Chef sah sich unmittelbarer Waffengewalt ausgesetzt. So etwas bleibt hängen. Da wacht man nachts auf, geplagt von Albträumen.“ Döhrenbachs Stimme nahm leicht an Lautstärke zu. „Sind Sie schon einmal mit einer Waffe bedroht worden?“ Emde stutzte und sah überrascht von seinen Notizen auf. Unmittelbare Waffengewalt? Mit einer Waffe bedroht worden? Da stimmte doch etwas nicht. Wer so von einer Waffe sprach, meinte damit sicherlich kein Küchenmesser. Grimmelmanns Zeigefinger war gewiss auch keine Waffe. Und was war mit unmittelbarer Waffengewalt gemeint? Grimmelmann übt doch keine unmittelbare Waffengewalt aus! Freese schüttelte ebenfalls unmerklich mit dem Kopf, während Emde sich auf seinem Stuhl aufrichtete. Er warf seiner Kollegin einen schnellen Blick zu, der sie ermahnen sollte, zu schweigen. „Herr Döhrenbach. Hören Sie mir jetzt gut zu.“ Seine Stimme war ganz ruhig und klar, er sah dem Pressesprecher fest in die Augen. „Sprechen wir hier von derselben Situation? Der Ratssitzung und dem verbalen Angriff durch den Fraktionschef der Grünen am Diemelsee, Herrn André Grimmelmann?“ Er wartete kurz ab. „Oder ist Herr Lieberknecht zu einem anderen Zeitpunkt ein weiteres Mal bedroht worden. Vielleicht sogar mit einer Schusswaffe?“ Er schaute den Pressesprecher fragend an und zog dabei die Augenbrauen nach oben. Für eine endlos scheinende Zeitspanne war das leichte Rauschen der Lüftung das einzige Geräusch, das zu hören war. Döhrenbach sah ihn fassungslos an, sich selbst ohne jeden Zweifel bewusst werdend, dass er eine unglaubliche Dummheit begangen hatte und ohne jedes Wenn und Aber erkennend, dass die anderen das auch bemerkt hatten. Sein Blick ließ keine andere Deutung zu. Ihm war deutlich anzusehen, dass er einen Ausweg suchte. Du Idiot! dachte Emde, schon ahnend, welchen Verlauf das weitere Gespräch nehmen wurde. Typen wie Döhrenbach würden niemals eine Schwäche einräumen. Die Klappe war zu. Der Sprecher hatte das Sprechen aufgehört.

„Dieser Idiot“, schimpfte auch Nofri noch, als bereits die ersten Hinweisschilder der Autobahnabfahrt nach Marsberg auftauchten. „Was ist das für ein Pressesprecher, der sich so dermaßen derbe verquatscht! Ich fasse das nicht.“ Emde ließ den Fortgang des Gesprächs noch einmal Revue passieren. Nein, nein, es musste ein Irrtum sein, hatte Döhrenbach weiter laviert. Nein, niemals sei Herr Lieberknecht zu einem anderen Zeitpunkt als damals in der Ratssitzung bedroht worden. Sicherlich hätte sich da das Ermittlerduo verhört oder seine Mimik missinterpretiert. Nein, natürlich würde er, Döhrenbach, jetzt die Wahrheit sagen. Er wüsste auch nicht, von was er Anderem gesprochen haben sollte als der Situation während der Ratssitzung. Doch, doch, das Unternehmen Prospersoil Germany trauere um seinen Aufsichtsratsvorsitzenden und großen Anteilseigener. Es gebe natürlich seitens des Unternehmens keinerlei Ideen, wer für das Verbrechen verantwortlich gemacht werden könnte, noch gäbe es irgendwelche Hinweise, welche Hintergründe der feige Mordanschlag an so einem hoch geschätzten Herrn haben könnte. Lieberknecht, so schloss dessen Sprecher, würde nun betrauert und vermisst, ein Nachfolger müsste gefunden werden, der diese Lücke auffüllte. Man hätte bereits erste Sondierungen gemacht und jemanden im Visier, doch die Fußstapfen, nun, sehen Sie, die Fußstapfen, sie sind doch arg groß. „Erstaunlicherweise hat er sich ja dann doch noch ganz gut gefangen“, sagte Emde. Der Pressesprecher hatte wieder auf sein Territorium zurückgefunden und die Ermittler dann kalt abgeduscht. Nofri nickte. Döhrenbach hatte schließlich auf seine sichtbar teure Uhr geschaut, ein mächtiger Armbandwecker mit blinkender Lünette und Lupe für die Datumsanzeige, und sich entschuldigt. „Termine, wissen Sie? Wir haben noch mehrere Meetings gleich im Anschluss“. Er hatte sich sogar das „Schönen Feierabend für Sie“ nicht verkneifen können, als sie sich verabschiedeten. Und schon war die Gestalt im smart-fit-geschnittenen Anzug den Gang entlang gerauscht. Die Fahrstuhltür ging auf und die Ermittler fuhren hinab ins Foyer. Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer.

„Immerhin wissen wir jetzt, dass Lieberknecht schon vorher wegen irgendetwas bedroht worden ist. Offenbar ziemlich massiv. Und wir wissen, dass das bei Prospersoil bekannt ist, aber sich keiner traut, offen darüber zu sprechen. Auch nicht dieser selfsmarte Döhrenbach. Ein feiner Laden ist das. Und so etwas bei uns in Kassel.“ Sie schnaubte. Emde überholte einen Tanklastzug, der langsam auf der rechten Spur eine Steigung der A44 hinaufkroch. Er musste daran denken, dass die Stadt an der Fulda ihren unbeschwerten Namen als Documenta-Standort seit dem Mord an ihrem damaligen Regierungspräsidenten vor einigen Jahren für alle Zeiten eingebüßt hatte. „Also können wir vermuten, dass es möglicherweise um ein Prospersoil-Projekt ging oder eben mit einer Person zu tun hatte, die ebenfalls eng mit dem Unternehmen verbunden ist“, folgerte Freese. Sie blickte auf den Organisationsplan, den Döhrenbach ihnen mitgegeben hatte. Emde nickte. Für einige Minuten schwiegen die beiden Ermittler. Freese schaute zum Seitenfenster hinaus. Die Autobahn verlief nun für einige Kilometer durch Nordrhein-Westfalen, in einiger Entfernung war Warburg zu sehen. Ihr Plan war, über Wirmighausen zu fahren. Emde würde dort Kleine treffen, mit dem er nach Adorf zur Ratssitzung fahren würde. Freese würde mit dem Wagen nach Korbach weiterfahren. „Die Witwe muss etwas darüber wissen.“ Nofri sah ihn zweifelnd an. „Meinst du etwa, die unterstützt uns in unseren Ermittlungen? Ich habe da so meine Zweifel, nachdem, was du erzählt hast von der Begegnung heute Morgen …“ Doch Emde wählte bereits die Nummer, die er am Tag zuvor notiert hatte. Keine Zeit zu verlieren! Immerhin war es nicht unwahrscheinlich, dass der Sprecher seine Sprache wiedergefunden und die Witwe bereits informiert hatte, zweifellos gab es auch da Verbindungen, die schön vor den Ermittlern verborgen wurden. Doch nach dem fünfzehnten Freitonzeichen gab er auf. Entweder war sie nicht zu erreichen oder ging bewusst nicht ans Telefon. Immer noch die beste Art, keine Geheimnisse preiszugeben, dachte der Ermittler. Freese sollte es im Laufe des frühen Abends weiterhin versuchen.

Er schaltete das Radio ein, die letzten Takte eines Hits aus den achtziger Jahren verklangen gerade. War das nicht eine Band aus Skandinavien gewesen? Er kam gerade nicht auf den Titel, wusste aber ganz genau, was er in dem Jahr gemacht hatte, als das Stück in den Hitparaden rauf und runter lief. Mensch, ist das lange her! Helmut Kohl war Kanzler und Boris Becker ein unangefochtenes Tennis-Ass – und sonst nichts. Wir lasen die Bravo hinter der Festhalle, weil unsere Eltern das woanders nicht zulassen würden, tranken heimlich das erste Bier – warm! Ansonsten zählte nur, wie die deutsche Nationalelf alle vier Jahre bei der WM abschnitt. Weltbewegendere Probleme gab es für den Teenager, der Emde damals war – im Dorf nannte man sie damals wirklich noch „Rocker“ ohne den heute üblichen negativen Begleitklang – nicht. Es war nicht die schlechteste Zeit. Merkwürdig, welche Bahnen die Assoziationen manchmal schlugen. Erst der Reaktorunfall in Tschernobyl 1986 machte ihnen schlagartig klar, dass es da draußen noch eine andere, wenig heitere Welt gab. „Was hörst du eigentlich so für Musik?“ Freese blickte erstaunt zu ihm rüber. Hoffentlich denkt sie jetzt nicht, das wäre ein Anmachversuch, verfluchte Emde seinen plötzlichen Einfall, etwas mehr über sein neues Teammitglied zu erfahren. Und Musik war doch immer ein guter Aufhänger, vor allem, wenn der andere sich bereits über Kaffeetassen zu einer bestimmten Richtung bekannte. Oder nicht? „Jazz“, antwortete Freese. Emde hatte die Antwort schon geahnt. Er erinnerte sich an den Kaffeebecher. „Soul und Jazz. Und alles, was dazwischen liegt.“ Emde nickte, doch diese Musikrichtung sagte ihm eigentlich überhaupt nichts. Bei Jazz dachte er an Dixielandkapellen mit älteren Männern, meist Lehrern, die in ihrer Freizeit Brokatwesten, weiße Hemden und Strohhüte trugen, und die an einem Frühlingsmorgen am Berndorfer Tor in Korbach spielten, wenn ein neues Geschäft eröffnet wurde – außer er war mal wieder bei Kleine und der hatte einen seiner Schätze auf den Plattenteller gelegt. Er tastete sich vorsichtig weiter. „Und was magst du da so besonders?“ Doch Freese hatte ihn schon durchschaut. „Kennst du dich da überhaupt aus?“ Emde musste lächeln. „Ertappt. Ich habe eigentlich keine Ahnung. Ich kenne nur Billie Holiday.“ Er sah, wie sich seine Beifahrerin zu ihm hindrehte und die Augenbrauen nach oben gingen. „Respekt. Du kennst dich nicht aus, sagst du. Aber Billie Holiday kennst du? Woher das denn?“ Emde berichtete ihr von seiner Bekanntschaft mit Kleine und dessen nicht zu verachtender Sammlung an Jazzschallplatten. „Und Klassik. Der Typ liebt einfach gute Musik.“ „Gute Musik, na, wenn du das selber schon sagst.“ Sie schwieg. Dann beantwortete sie seine zuvor gestellte Frage. „Jamiroquai. Incognito. Daft Punk. Kann auch mal elektronisch sein, aber am liebsten schön locker tanzbar.“ Die Namen, die sie nannte, kannte Emde. Vor allem Jamiroquai. Das war doch dieser Typ mit der Strahlenkrone. Oder es war, er musste sich korrigieren, der Name der Band des Typen mit der Strahlenkrone. Emde erinnerte sich an verstörend elegant wirkende Tanzeinlagen in fernvergessenen Videos, die damals in den frühen neunziger Jahren so anders waren als das damals übliche Herumgehopse zu Hip-Hop oder das Wüten von Metalfans. „Meine erste CD war von Soul II Soul. Ich fand damals den Titel ‚Keep on Moving‘ einfach unschlagbar.“ Soul II Soul? Auch da meinte Emde, eine entfernte Erinnerung zu haben. Irgendetwas mit einem satten Bass. Eine Sängerin mit dunklen Rastalocken. Immerhin gerade noch am Rande seiner ‚Achtziger‘. Aber nichts, was auf den Scheunenpartys lief, die er in glückseligen Jugendtagen besucht hatte. Damals wurde etwas derbere Kost bevorzugt. Etwas, das zu aufgeplatzter und zerbrutzelter Grillwurst, Dosenbier und Lederkutten mit Aufnähern passte. Der letzte Cowboy, der aus Gütersloh kommt, einsam und immer unterwegs ist und den letzten Keks knabbert. Von der Thommie Bayer Band. Schon verrückt, aber manchmal sangen sie es heute noch, wenn sie bei Weihnachtsfeiern wieder ein Glas zusammengepanschtes Zeug zu viel getrunken hatten oder wenn auf dem Lenkenberg das Osterfeuer so weit heruntergebrannt war, dass keine Gefahr mehr bestand und auch die Freiwillige Feuerwehr zur ‚Feierwehr‘ wurde.

Ihre Frage riss ihn aus dem süßen Schwelgen seiner Erinnerung wieder in die Gegenwart. „Was war deine erste CD, die du dir gekauft hast?“ Emde überlegte, ob er das sagen durfte. Sie würde ihn auslachen. Und schon morgen wüsste es sein ganzes Team, ganz sicher: Guck mal da, der Emde, weißt du, was der hört? Boah, schlimmer noch als Pur! „Nun, das war eigentlich keine CD. Damals gab es nur die Wahl zwischen Single, Maxisingle und Langspielplatte.“ Noch hielt es ihn zurück. Dann war es raus. „Meine erste Single war High on Emotion“. Sie überlegte. „High on Emotion? Ist das nicht von …“, sie zögerte, „Chris de Burgh?“ Emde nickte und spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Jetzt wird sie mir sagen, dass der nur noch Partys im Altersheim beschallt. Aber verdammt, dieser Titel war echt gut, damals, 1984. Genauso, wie 1984 einfach ein gutes Jahr war, das Orwelljahr, vor dem alle Angst hatten, und das dann doch um so vieles entspannter verlief. Doch Nora Freese lächelte, blickte zu ihm herüber und erteilte ihm die Absolution: „Immerhin, kein Stück, für das man sich heute schämen müsste.“

Krawattennazis

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