Читать книгу Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch - Peter Langer - Страница 10

Der Expansionskurs des neuen Generaldirektors

Оглавление

Einer aus dem Kreis der Autoren, die an Reuschs Mythos zimmerten, sah ab 1909 einen „neuen Geist in Oberhausen“ walten. Unter Reuschs Führung habe sich die GHH, das Ziel „restloser Rohstoffautarkie“ im Blick, „unter die ganz Großen“ eingereiht.6 Die Kundschafter der GHH schwärmten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in die ganze Welt aus auf der Suche nach zusätzlichen Rohstoffquellen, in Europa neben Frankreich auch in Spanien und Portugal, in Griechenland, Norwegen und vor allem in Schweden, dem für die Zukunft wichtigsten Lieferanten von Eisenerz. Der wichtigste sachverständige Ingenieur bei der Rohstoffsuche war schon vor dem ersten Weltkrieg neben Bergrat Mehner Bergassessor Kipper, der ein Vierteljahrhundert später von seinem Chef Paul Reusch gedrängt werden würde, als Experte für Eisenerz in Görings Vier-Jahresplan-Behörde mitzuarbeiten.7

Die GHH erwarb 1911 Mehrheitsbeteiligungen an großen Erzgruben in der Normandie. Reusch engagierte sich bei diesem Projekt persönlich sehr stark. Er machte später im Krieg diesen Besitz, wie die anderen Konzernherren der deutschen Schwerindustrie auch, zum Ausgangspunkt der Annexionsforderungen, die bis in den Spätsommer 1918 hinein alle Bemühungen um die Beendigung des längst aussichtslos gewordenen Kriegs torpedierten.

Allerdings erschien die GHH erst auf dem Schauplatz in Nord-Frankreich, als die deutschen Konkurrenzfirmen dort schon mehrere Jahre aktiv waren. Seit 1901 bemühte sich der Thyssen-Konzern um Eisenerzkonzessionen in der Normandie und in Lothringen, stieß aber auf große Schwierigkeiten bei den französischen Behörden. Ein aggressiver Konfliktkurs, bei dem August Thyssen zeitweise von der Reichsregierung Repressalien gegen französische Firmen in Deutschland verlangte, brachte keinen Erfolg.8 Es muss ihm bald klar geworden sein, dass eine Konfrontation weder der französischen noch der deutschen Industrie nützen würde. Der erfahrene Industrie-Stratege August Thyssen, gewiss keiner pazifistischen Neigungen verdächtig, wies deshalb 1907 darauf hin, dass sich Frankreich und Deutschland wirtschaftlich hervorragend ergänzen könnten: „Sie haben in Lothringen ungeheuer viel Eisen, aber gar keine Kohle, während wir einen Überfluss an Kohle besitzen, aber gar kein Eisen. Deshalb ist es durchaus notwendig, dass unsere beiden Länder nicht nur friedlich, sondern auch freundschaftlich miteinander stehen.“9 Krupp, vor dem Krieg der größte Ruhr-Konzern, arbeitete gleichzeitig bei der Erschließung von Erzfeldern in Marokko und Algerien eng mit der französischen Firma Le Creusot zusammen. Die von Fritz Fischer zitierte bemerkenswerte Äußerung von August Thyssen stand also am Ende einer Phase „gegenseitiger Durchdringung der Interessen“. Die „französisch-deutsche Solidarität, wie sie die Eisenhüttenleute anstrebten, [wurde jedoch] von den französischen Behörden gebremst.“10

Was die Wirtschaft anging, so gab es also in der Phase zwischen 1906 und 1910 durchaus Chancen für einen Interessenausgleich zwischen der französischen und der deutschen Seite.11 Die Marokkokrise beendete 1911 jedoch alle Ansätze einer Verständigung zwischen den Nachbarn. Ein wirtschaftlicher Interessenausgleich wurde generell durch den „assymetrischen“12 Charakter der deutsch-französischen Beziehungen erschwert: Dem massiven Eindringen der deutschen Schwerindustrie in Nord-Frankreich stand nämlich kein auch nur annähernd gleichwertiges Engagement französischer Firmen in Deutschland gegenüber. Auf die zweite Marokkokrise folgte denn auch eine „Ära der Schwierigkeiten 1911–1914“; in der französischen Öffentlichkeit brach – spiegelbildlich zum fanatischen Nationalismus in deutschen Massenmedien – eine „Kampagne gegen die germanische Invasion“ los.13 Die deutsche Schwerindustrie ihrerseits nahm in den letzten Friedenswochen 1914 die französische Eisenindustrie als zunehmend unangenehme Konkurrenz war. Reusch beauftragte seinen Stellvertreter Woltmann, ihm für einen Vortrag bei Minister Delbrück Material mit dieser Akzentuierung zusammenzustellen.14 In dieser aufgeheizten Atmosphäre sucht man vergeblich nach nüchternen, die wirtschaftliche und politische Vernunft betonenden Stellungnahmen aus den Kreisen der deutschen Schwerindustrie. Von Reusch ist auch für die früheren Jahre nirgends ein auf Verständigung mit Frankreich drängender, gegen den fanatischen Nationalismus gerichteter Ausspruch überliefert. Reuschs Vortrag bei Delbrück fiel bereits in die ersten Kriegswochen. Für seinen Vortrag bei der Reichsregierung würde er deshalb das Thema „Konkurrenz“ beiseite schieben und dem Geist der Zeit entsprechend nur noch über „Annexionen“ sprechen. Doch greift dies der Entwicklung vor. Zunächst zurück zum Eindringen der GHH in der Normandie.

Im 1871 annektierten „Deutsch“-Lothringen betrieb die GHH bereits Eisenerzgruben gemeinsam mit der Phoenix AG.15 Reusch strebte die Verhüttung des französischen Erzes in eigenen Anlagen vor Ort in Lothringen an, konnte aber dieses Projekt vor dem Krieg nicht mehr realisieren.16

Sein Hauptaugenmerk richtete Reusch jedoch auf die Erzfelder in der Normandie, ein Vorhaben, bei dem er sich persönlich außerordentlich stark engagierte. In den Jahren 1911 bis 1913 reiste er zehn Mal nach Paris, um die Verhandlungen mit den französischen Geschäftspartnern selbst in die Hand zu nehmen.17 Bis Ende 1913 nahm er an neun Sitzungen des Aufsichtsrats in Paris persönlich teil.18 Im Frühjahr 1911 lag Reusch ein ausführlicher Bericht über die südlich von Caen liegenden Erzgruben Barbery, Estrées-la-Campagne, Urville und Gouvix vor. Da nach französischem Recht keine Person oder Gesellschaft zwei Konzessionen erhalten durfte, musste zur Verschleierung der Besitzverhältnisse die „Société anonyme d’Extraction de Minerais“ mit Sitz in Paris gegründet werden.19 Dies geschah am 13. März 1911. Alle Aktien waren im Besitz der GHH. Diese durfte aber zunächst offiziell nicht in Erscheinung treten, weshalb für die Leitung dieser Firma die folgende bemerkenswerte Regelung gelten sollte: „Der Aufsichtsrat besteht vorläufig aus Herrn Schickardt und zwei Franzosen als Strohmännern. Nach Erledigung der Formalitäten werden die beiden Franzosen durch die Herren Reusch und Mehner ersetzt.“20 Dies war eine sehr durchsichtige Taktik, die denn auch vom französischen Präfekten sofort durchschaut wurde. Er erteilte die Abbau-Konzessionen für Gouvix nicht.21 Die GHH gehörte somit zu den deutschen Firmen, die nach der Marokkokrise von 1911 die Verschlechterung des Geschäftsklimas sofort zu spüren bekamen.22

Im April 1911 hatte Bergassessor Kipper seinem Chef eine detaillierte Zusammenstellung der Eisenerzanalysen für die Gruben in der Normandie vorgelegt. Die Verhandlungen mit den französischen Behörden über die Abbau-Konzessionen, vor allem über die Besteuerung, gingen nach dem Misserfolg von 1911 bis Ende 1912 weiter.23 Begleitmusik waren während der ganzen Zeit die von der deutschen Industrie als „willkürlich und schikanös“24 empfundenen Ausfuhrbestimmungen und Zölle der Franzosen und 1914 schließlich die angeblich überhöhten Frachttarife der belgischen Eisenbahnen, die für den Erztransport dringend benötigt wurden.25 Die Konkurrenzfirma Thyssen wollte dieses Problem durch die Verlagerung der Massentransporte auf Schiffe umgehen. Um kostengünstig Erz aus der Normandie nach Rotterdam und auf dem Rhein weiter ins Ruhrgebiet transportieren zu können und für den Kohletransport in der Gegenrichtung wollte Thyssen große Hafenanlagen in der Normandie bauen. In der Nähe der Erzgruben sollte ein großes Hüttenwerk entstehen. Auf diese gigantischen Investitionspläne der Konkurrenzfirma reagierte Reusch nervös. Um bei den Eigentümern nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass die GHH gegenüber Thyssen ins Hintertreffen geraten könnte, betonte er, dass „unser Erzbesitz in der Normandie nach aller Voraussicht wesentlich bedeutender ist als der Thyssen’sche“.26

In den langwierigen Verhandlungen mit den französischen Geschäftspartnern und dem französischen Staat verließ sich Reusch weitgehend auf den Präsidenten der Société des Mines de Barbery, Albert Taraud. Drei Jahre lang, bis zum Juli 1914, pflegten Reusch und Taraud in ihrer Korrespondenz einen persönlichen, ja freundschaftlichen Stil. Taraud schrieb dem „Directeur Général de la Gutehoffnungshutte“ viele Briefe in gestochen schöner Handschrift. Reusch revanchierte sich im April 1912 mit einer Sendung deutscher Qualitätsweine von der Mosel. Im November 1912 lud Taraud Reusch zur Hochzeit seiner Tochter ein; Reusch war jedoch verhindert und sagte telegraphisch ab. Noch am 10. Juli 1914 einigte sich Reusch persönlich mit Taraud über den Ausbau der Bahnlinie längs des Orne-Kanals zum Erzhafen bei Caen.27 Die Niederschrift einer Besprechung mit den französischen Geschäftspartnern vom Juli 1914 endet mit der folgenden Terminabsprache: „Nächste Sitzung 15. September 1914 in Paris.“28


Abb. 1:Taraud an Reusch, 8. 5. 1911, in: RWWA 130-300193006/16

Die Verhandlungen über die Erzgruben in der Normandie, besonders die freundschaftlichen Kontakte mit dem Geschäftspartner Taraud, mussten Reusch an sich deutlich machen, welch großes Interesse international tätige Firmen wie die GHH an einem friedlichen politischen Umfeld, besonders an einer Verständigung mit Frankreich, hatten. Der Krieg drohte die in langen Verhandlungen erworbenen Rechte an den Eisenerzfeldern in der Normandie mit einem Schlage wertlos zu machen. Der abrupte Abbruch der Geschäftsbeziehungen musste einem nüchtern denkenden Unternehmer eigentlich Anlass zur Sorge geben. Von Reusch sind jedoch keinerlei sorgenvolle oder auch nur nachdenkliche Äußerungen über die riskante, den Krieg in Kauf nehmende oder gar bewusst provozierende Politik der kaiserlichen Regierung überliefert. Er ließ sich im August 1914 vom blinden Begeisterungstaumel mitreißen und entwickelte sofort Pläne für die Enteignung der französischen Schwerindustrie nach dem deutschen Sieg. Den deutschen Grubenbesitz in der Normandie wollte er gegen entsprechende Erzfelder in Lothringen, das nach dem Sieg natürlich vollständig zu annektieren war, tauschen.29

Vergleichsweise geringe Probleme stellten sich dem neuen Generaldirektor beim anderen wichtigen Rohstoff der Schwerindustrie, der Kohle. Reusch setzte den Ausbau der Zechen im eigenen Konzern konsequent fort.30 Reusch trieb gleichzeitig die vertikale Expansion in die verarbeitende Industrie voran.31 Verglichen mit dem Erwerb der Deutschen Werft und vor allem der MAN nach dem Kriege waren dies jedoch nur erste kleine Schritte.

Schon bevor Reusch die Leitung des GHH-Konzerns übernahm, hatte die Schwerindustrie im Bündnis mit der Groß-Landwirtschaft gegen die Interessen der stark exportorientierten verarbeitenden Industrie die Wiedereinführung stark überhöhter Schutzzölle durchgesetzt.32 Als im Frühjahr 1914 die Frage der Schutzzölle wieder auf die Tagesordnung kam, „arbeiteten Schwerindustrie und Landwirtschaft“ wieder „Hand in Hand“ gegen die im Bund der Industriellen (BdI) zusammen geschlossene Fertigwarenindustrie, den Handel und die Banken. Alle bedeutenden Industriellen des Reviers (Hugenberg, Kirdorf, Stinnes, Reusch u.a.) waren beteiligt, als im März 1914 die „Auslands GmbH“ zur Verteidigung der speziellen handelspolitischen Interessen der Schwerindustrie ins Leben gerufen wurde.33

Während sie einerseits den deutschen Markt rigoros abschotteten, verlangten die Ruhrbarone gleichzeitig den freien Zugriff auf die Eisenerzlager in aller Welt. Diesen Anspruch sollte die kaiserliche Regierung durch eine energische imperialistische Politik durchsetzen, z. B. 1911 in der Marokko-Krise. Denn der „Anteil am Erzreichtum Marokkos ist für [die deutsche Schwerindustrie] eine Lebensfrage.“34 Paul Reusch, der noch sehr junge Nachkömmling unter den Ruhrbaronen, sah die Dinge offenbar genauso; er sah die Interessen der Schwerindustrie durch eine hoch riskante Politik der Konfrontation mit den benachbarten Großmächten am besten gewahrt.

Der nach außen gerichteten Expansionsstrategie des Konzerns entsprach im Innern die Konfrontation mit den Gewerkschaften.

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch

Подняться наверх