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Einleitung

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Karl Jaspers schreibt in seinem Geleitwort zu Hannah Arendts Buch über die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“: „Für die Verfasserin gilt nicht der alte Satz: So musste es kommen. Die Konstruktionen der Sinnzusammenhänge, die zu Kausalitäten in der Geschichte werden oder werden können, sind nicht als schlechthin zwingend gemeint. Denn erkannt, sind sie revidierbar. Es liegt am Menschen und nicht an einem dunklen Verhängnis, was aus ihm wird.“1 Es gilt also der Frage nachzugehen, wer die großen Katastrophen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verursacht hat, wer die Täter und ihre Helfer waren und wer versucht hat, die Verbrechen zu verhindern. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, was „an Paul Reusch lag“.

Paul Reusch war kein Politiker. Aber was immer er in den 33 Jahren als Vorstandsvorsitzender der GHH-Konzerns tat oder sagte, war eminent politisch.2 Vor allem in den Jahren der Weimarer Republik, aber keineswegs nur da, übte er politische Macht aus und ist deshalb in die Verantwortung zu nehmen für die politischen Katastrophen in den drei Jahrzehnten seines Wirkens von 1909 bis 1942. Denn Verantwortung ist das Korrelat der Macht (Hans Jonas) – je mehr Macht, desto mehr Verantwortung.

Wenn diese biographische Studie das besondere Augenmerk auf das politische Handeln legt, so darf der Begriff „politisch“ nicht zu eng gefasst werden. Das politische Handeln eines einflussreichen Großunternehmers umfasst mehr als die direkte Lobby-Tätigkeit bei Regierungsangehörigen und Parlamentariern, wenngleich diese Art der Einflussnahme immer mit im Zentrum des Interesses steht. Das Engagement in der Verbandspolitik geht über gezieltes Lobbying weit hinaus. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, z. B. durch den Kauf von Zeitungsverlagen, gehört in diesen Zusammenhang. Aber auch vermeintlich unpolitische, „rein geschäftliche“, ausschließlich an den engeren Firmeninteressen orientierte Aktivitäten können immense politische Auswirkungen haben. Dies gilt vor allem für die betriebliche Sozialpolitik, für das Verhältnis zu Betriebsräten und Gewerkschaften, aber auch für die Expansion zum Großkonzern. Wenn „Expansion“ das zentrale Element und Kennzeichen des Imperialismus ist und wenn der Imperialismus eine der Wurzeln des Nationalsozialismus ist (Hannah Arendt), dann kann die vertikale Expansion eines schwerindustriellen Konzerns nicht „unpolitisch“ sein. Die Unternehmensgeschichte kann daher nicht ausgeblendet werden. Dennoch ist hier eine Grenzziehung unvermeidlich: Eine biographische Studie über einen Unternehmer kann die Unternehmensgeschichte nicht ersetzen.

Die Frage nach der Verantwortung des mächtigen Großunternehmers Paul Reusch wird also in erster Linie an der politischen Dimension seines Handels festgemacht. Gliederungsprinzip ist natürlich die Chronologie, lässt sich doch seine sehr lange Zeit als Vorstandsvorsitzender von 1909 bis 1942 in klar voneinander zu trennende Zeitabschnitte einteilen: Es geht um die Rolle von Reusch in der „fatalen imperialistischen Hochrüstungsepoche“ (Klaus Tenfelde) vor dem Ersten Weltkrieg, dann im Verlauf dieser „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts 1914 bis 1918, danach während der ersten deutschen Demokratie bis 1933 und schließlich in der Barbarei des Dritten Reiches.

Die Rolle der führenden Politiker der drei Jahrzehnte von 1909 bis in den Zweiten Weltkrieg hinein ist bis in alle Details von Historikern ausgeleuchtet worden. Dies gilt nicht in gleichem Maße für die Großunternehmer, mit denen Paul Reusch ständig zu tun hatte – als Konkurrenten, als Verbündete, zum Teil als Gleichgesinnte, zum Teil aber auch als politische Gegner. Dass das Drama dieser Jahre in eine unvorstellbare Katastrophe mündete, „lag auch an ihnen“ – um die Formulierung von Karl Jaspers erneut aufzugreifen.

Das Drama von Reuschs drei Jahrzehnten als Vorstandsvorsitzender der GHH – fast deckungsgleich mit der Periode, die heute bisweilen als zweiter Dreißigjähriger Krieg bezeichnet wird – hat seinen Niederschlag im Archiv der Gutehoffnungshütte gefunden. Große Teile dieses Buches beruhen auf den Dokumenten dieses Archivs. Wenn ich den Leser sozusagen mitnehme nach Köln ins Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv, wo die Akten heute aufbewahrt und gepflegt werden, so fordere ich ihn damit auf zu beurteilen, ob ich dort alle wichtigen Dokumente entdeckt und diese richtig interpretiert habe.

Ich war nicht der erste, der diese Akten erschlossen hat. Renommierte Historiker haben vor mir im GHH-Archiv gearbeitet und über Reusch publiziert. Natürlich verlasse ich mich im vorliegenden Buch auch auf deren Urteil. Hier sind vor allem zu nennen: Gerald D. Feldman, Bernd Weisbrod und Henry A. Turner, Jr. Bei der Akzentuierung der Sachverhalte und bei der unvermeidlichen Wertung greife ich durchgängig auf die Standardwerke von Hans Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler zurück. Vor allem für die Endphase des Kaiserreichs und den Ersten Weltkrieg, aber auch darüber hinaus, orientiere ich mich an den Erkenntnissen von Fritz Fischer, für die Weimarer Republik und für das Dritte Reich an vielen Stellen an den Forschungen von Hans Mommsen.

 1Karl Jaspers, Geleitwort, September 1955, in: Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Pieper, München/Zürich, 6. Aufl. 1998, S. 12; ursprüngliche Originalausgabe: „The Origins of Totalitarianism“, New York 1951.

 2Diese Unterscheidung bei: Günter Brakelmann, Zwischen Mitschuld und Widerstand. Fritz Thyssen und der Nationalsozialismus, Essen 2010, S. 7.

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch

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