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Einfluss auf die Nationalliberale Partei vor Ort

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Vor Ort im Reichstagswahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen besorgte teilweise Reuschs Stellvertreter Woltmann das politische Tagesgeschäft. Das enge Vertrauensverhältnis dieser beiden Herren bestand schon, bevor Reusch zum ersten Mann in der GHH aufrückte und als Woltmann noch Syndikus der Handelskammer Duisburg war. Die feinen Unterschiede in der Diktion, auf die Reusch Wert legte, werfen ein bezeichnendes Licht auf seine politische Einstellung. Als Woltmann im Februar 1907 in Sterkrade einen „nationalliberalen Jugendverein“ gründen wollte und dafür Reusch um Unterstützung bat, empfahl dieser, „nicht einen nationalliberalen Jugendverein, sondern einen nationalen Bürgerverein“ ins Leben zu rufen.113 Im Januar 1910, noch bevor Woltmann seinen neuen Posten als Reuschs Stellvertreter übernahm, berichtete er seinem künftigen Chef ausführlich von einer Versammlung der Nationalliberalen Partei in Mülheim a.d. Ruhr, bei der die „Stellung“ der bürgerlichen Partei „nach rechts und links erörtert“ worden sei. Leider sei kein Vertreter der Industrie anwesend gewesen. Er regte deshalb eine Besprechung mit allen wichtigen Industriellen des Wahlkreises an, „um den Herren das politische Gewissen etwas zu schärfen. Sonst ist hier in unserem eigenen Hause alles verloren.“114 Es ist schon beeindruckend, wie hier der „Herr-im-Haus“-Standpunkt über den Betrieb hinaus auf den ganzen Wahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen ausgedehnt wurde! Dass die beiden führenden Herren der GHH ein gutes halbes Jahr nach Gründung des eher gemäßigten Hansabundes eine zu „linke“ Ausrichtung der Nationalliberalen befürchteten, steht außer Zweifel. Reusch gab Woltmann prompt die erwünschte Rückenstärkung: Er stehe „voll und ganz auf [dessen] Standpunkt, dass derartige Versammlungen unbedingt von maßgebenden Persönlichkeiten der Industrie besucht werden müssen.“115

Reusch und Woltmann ergriffen frühzeitig die Initiative, um für die Reichstagswahl 1912 im Wahlkreis Duisburg/Mülheim/Oberhausen einen der Industrie genehmen Kandidaten ins Rennen zu schicken. Der Centralverband deutscher Industrieller stellte für diesen Wahlkreis überdurchschnittliche finanzielle Unterstützung – die Rede war von mindestens 10.000 Mark – aus dem Wahlfonds des CdI in Aussicht, knüpfte dies aber an die Bedingung, dass die Nationalliberalen einen der Industrie genehmen Kandidaten nominierten.116 Der örtliche Parteisprecher, der Mülheimer Unternehmer Liebreich, stand deshalb ein Jahr vor der Wahl bereits im Kontakt mit der Großindustrie. Er versicherte dem stellvertretenden Chef der GHH, genau nach dessen Wünschen zu verfahren.117 Reusch war nämlich zu diesem Zeitpunkt in höchstem Maße alarmiert über die Nominierung des Parteivorsitzenden Bassermann, den die Schwerindustrie dem liberalen linken Flügel zuordnete, in Saarbrücken. So etwas sollte ihm vor seiner Haustür nicht passieren. Hier wollte Reusch den rechten Flügel durch die Nominierung von Wilhelm Hirsch, als Syndikus der Essener Handelskammer der Ruhr-Industrie eng verbunden, stärken. Die Chefs der GHH sahen die Gefahr, dass der Wahlkreis sonst „unzweifelhaft einem Linksliberalen in die Hände fallen“würde.118

Bei einer geheimen Versammlung in der Duisburger Getreidebörse, zu der neben den GHH-Herren u. a. auch Kirdorf und Stinnes eingeladen hatten, erschien am 11. März 1911 die gesamte Crème der Ruhr-Industrie und folgte einstimmig Reuschs Vorschlag, Wilhelm Hirsch für den Wahlkreis Duisburg-Oberhausen-Mülheim zu nominieren. Der Mülheimer Fabrikbesitzer Liebreich kam für die Ruhr-Barone nicht in Frage, weil er als Alt-Liberaler die gemäßigte Linie des Parteivorsitzenden Bassermann unterstützte.119 Nur am Rande sei erwähnt, dass eben dieser Dr. Liebreich sich zu gleicher Zeit übler antisemitischer Angriffe von katholischer Seite zu erwehren hatte. Die Zentrumsnahen „Deutsch-sozialen Blätter“ hetzten gegen ihn als „getauften Juden, … der in zweiter Ehe wieder eine Jüdin geheiratet hat. … Wie man hört, blüht uns der letztere als nationalliberaler Reichstagskandidat.“120 Hirsch kommentierte die Zeitungsnotiz mit der bissigen Bemerkung, dass den Katholiken die Verdrängung des Sozialdemokraten Hengsbach anscheinend weniger wichtig sei. Für sie sei die „rote Gefahr nicht so groß …, dass sie deswegen ihre antisemitischen Instinkte bekämpfen sollten.“121 Aber auch Hirsch, der Mann der rechts-orientierten Großindustrie des Reviers, hielt natürlich nichts von der Nominierung des liberalen Mittelstandsvertreters Liebreich.

Spielte bei der Zurückweisung Liebreichs die Rücksicht auf die „antisemitischen Instinkte“ mancher Katholiken nicht doch eine Rolle? Gab es nicht vielleicht doch die Befürchtung, dass es bei einer Stichwahl schwer sein würde, die Unterstützung der Zentrumswähler für einen zwar getauften, aber geschiedenen und in zweiter Ehe mit einer Jüdin verheirateten Kandidaten zu gewinnen? Von Reusch sind antisemitische Äußerungen nicht bekannt, er pflegte die Kontakte zu mehreren Unternehmern jüdischer Herkunft. In den Kreisen der Industriellen waren antijüdische Vorurteile bisweilen jedoch sehr wohl ein Thema. So erkundigte sich der Direktor des Krupp-Gruson-Werkes in Magdeburg Kurt Sorge ganz diskret bei Reusch über einen Ingenieur, der hervorragende Zeugnisse vorweisen konnte, sich aber wegen seiner mäßigen Gehaltsforderungen verdächtig gemacht habe. Sorge bat Reusch, der den Mann aus seiner Zeit bei der Friedrich-Wilhelms-Hütte kannte, um „streng vertrauliche“ Mitteilung „namentlich auch darüber, ob er etwa semitischen Ursprungs ist, was nach der beigelegten Photographie nicht ganz unwahrscheinlich sein dürfte.“122 Eine Antwort von Reusch findet sich nicht in den Akten.

Im Zentralwahlkomitee der Nationalliberalen Partei, das am 13. März in Mülheim zusammentrat, wusste man sehr wohl, wie sehr Liebreich in der Duisburger Getreidebörse unter Druck gesetzt worden war. Dieser war keineswegs sofort eingeknickt, sondern hatte seinen Verzicht auf die Kandidatur vom Votum der Parteigremien abhängig gemacht. Wenn er allerdings auf seine Kandidatur verzichte, so stellte er unmissverständlich klar, würde er gleichzeitig auch den Vorsitz der Nationalliberalen Partei im Wahlkreis niederlegen. Die Stimmung im Ausschuss, der vor dem Plenum des Zentralwahlkomitees zusammentrat, war gespalten; eindeutig für den Industriekandidaten Hirsch waren nur die Vertreter von Oberhausen und Sterkrade.123 Man darf gewiss vermuten, dass hier der Einfluss der GHH-Herren Reusch und Woltmann wirksam geworden war. Im Plenum charakterisierte Liebreich den Favoriten der Industrie wie folgt: Hirsch sei Angestellter der Industrie, fremd im Wahlkreis und gehöre zum äußersten rechten Flügel der Nationalliberalen Partei. Neben den Vertretern von Oberhausen und Sterkrade sprachen sich nur die Delegierten aus Meiderich, dem Standort der Rheinischen Stahlwerke, und Ruhrort, dem Sitz der Firma Haniel, für den Industriekandidaten aus. Die geheime Abstimmung brachte eine knappe Mehrheit gegen Hirsch. Die Herren von der Nationalliberalen Partei wollten aber natürlich nicht ganz auf das Geld aus der Industrie verzichten. Man schlug deshalb vor, gemeinsam nach einem Kompromisskandidaten zu suchen: „Herr Kommerzienrat Reusch wird gebeten, einen Tag zu bestimmen, an welchem die Industriellen mit Vertretern der nationalliberalen Organisation zu diesem Zweck zusammentreten können.“124 Nach der Aufmüpfigkeit in der Versammlung der Vertrauensleute rückten Sätze wie dieser die gesellschaftliche Hierarchie wieder zurecht. Woltmann informierte sofort seinen Chef, der sich zu Verhandlungen über die Erzgruben in der Normandie in Paris aufhielt, über das Ergebnis der Abstimmung.125

Nach einer öffentlichen Vortragsveranstaltung des „Nationalen Bürgervereins“ mit Reusch und Oberbürgermeister Havenstein am Vorstandstisch und Woltmann als Versammlungsleiter, bei der eine Resolution zugunsten von Hirsch beschlossen wurde, schickte Woltmann entsprechende Briefe an alle führenden Industriellen des Reviers, u. a. an Stinnes und Kirdorf.126 Als der Favorit der Schwerindustrie bei einer weiteren Vertrauensmänner-Abstimmung am 29. März 1911 erneut durchgefallen war, obwohl Woltmann sich energisch für seine Nominierung ins Zeug gelegt hatte, schaltete Reusch sich wieder persönlich ein. Nach einem Gespräch mit Hirsch, worauf dieser großen Wert gelegt hatte, sprach er Stinnes und Kirdorf an. Diese erschienen aber nicht zu einem Treffen von Ruhr-Industriellen mit Vertretern der Nationalliberalen Partei in der Duisburger Getreidebörse am 24. April 1911, so dass dort Reuschs energischer Einsatz für Hirsch erneut ohne Erfolg blieb.127

Jetzt musste eine andere der Industrie genehme Person gefunden werden. Von seinem Urlaub im tschechischen Karlsbad aus gab Reusch deshalb die Anweisung, einen gewissen Kommerzienrat Passmann zu unterstützen. Dieser Kommerzienrat musste aber zunächst gedrängt werden, „die Bürde des Mandats“ überhaupt anzunehmen.128 Die Delegierten der Nationalliberalen Partei, die sich im Juni 1911 im Hof von Holland in Oberhausen trafen, blieben jedoch bei ihrer ablehnenden Haltung; gegen Passmanns Nominierung wurde nach Woltmanns Eindruck „in einer der Industrie geradezu feindseligen und in der Form maßlosen Weise“ gefochten. Die Delegierten favorisierten nach wie vor die Kandidatur des Mülheimer Fabrikbesitzers Liebreich. Woltmann berichtete, er sei diesem Vorschlag „aufs Schärfste entgegengetreten und habe [Liebreich] in keiner Weise geschont“. Die Entscheidung sei daraufhin um zwei Wochen vertagt worden; einen eigenen Kandidaten der Industrie durchzubringen, halte er aber jetzt für unmöglich. Man solle Liebreich akzeptieren, diesen aber inhaltlich auf bestimmte Programmpunkte festlegen. Um ganz sicher zu gehen, könnte man diese Marschroute durch eine Anfrage bei Kirdorf absichern.129 Hirsch und seine mächtigen Hintermänner in der Industrie blockten Liebreich jedoch weiter ab.

Wohl vor allem um die Unterstützung aus dem Wahlfonds der Industrie nicht zu gefährden, nominierte die Nationalliberale Partei im Herbst einen Kompromisskandidaten Dr. Böttger, mit dem auch Reusch und die anderen Industriellen leben konnten. Einzelne einflussreiche Unternehmer, z. B. Hasslacher von den Rheinischen Stahlwerken, blieben aber bei ihrer Ablehnung. Hasslacher machte Reusch den Vorwurf, er habe sich „von Liebreich einfangen lassen“.130 Dr. Böttger, ein Jurist, war seit 1887 hauptamtlicher Funktionär der Nationalliberalen Partei und hatte 1903 bis 1907 einen ländlichen Wahlkreis (Geestemünde-Ottendorf) im Reichstag vertreten.131 Für seinen Wahlkampf erhielt er zwar nur 3.000 Mark aus dem industriellen Wahlfonds, obwohl Woltmann sich für einen höheren Betrag eingesetzt hatte, aber die GHH und die Concordia Bergbau-AG schossen über 6.000 Mark zu.132 Woltmann erhielt für seinen Nationalen Bürgerverein 2.000 Mark, die indirekt auch dem nationalliberalen Kandidaten zugute kamen.133

Von den großen Werken in Oberhausen wurden für den Wahltag Beamte und Schreibkräfte an das Wahlkreisbüro der Nationalliberalen Partei und an Woltmanns Nationalen Bürgerverein „abkommandiert“. Die Löhne und Gehälter wurden für diese Zeit von den Firmen weiter gezahlt.134 Nach der Wahl schickte Woltmann der Concordia die Abrechnung über die Kosten des Nationalen Bürgervereins bei dieser Wahl: Von den Gesamtkosten über 6.392,42 Mark übernahm der Centralverband deutscher Industrieller 2.000 Mark, die GHH 3.000 Mark, so dass für die Concordia 1.392,42 Mark verblieben, die auch prompt überwiesen wurden.135

Im ersten Wahlgang lag Dr. Böttger mit 34.416 Stimmen knapp vor dem Sozialdemokraten Hengsbach (33.179 Stimmen), der den Wahlkreis seit 1907 im Reichstag vertreten hatte. Auf dem dritten Platz folgte der Zentrumskandidat Kloft (31.785), der nur in Oberhausen mit 5.647 Stimmen recht klar vor dem Sozialdemokraten (4.767) und dem Nationalliberalen (4.610) gewonnen hatte. Vor Anbruch des Radio-Zeitalters versammelte sich das politisch interessierte Publikum am Wahlabend in Gaststätten und Kinos. Die Wirte und die Kinobesitzer („Biotophon-Theater“) versuchten die Reichstagswahl als Publikumsmagnet zu nutzen: Die Wahlergebnisse wurden mit der neuen Lichtbildtechnik projiziert, und das als Beiprogramm zu Dortmunder Bier und „bestem Durchfallbitter“ oder zu dem Drei-Akter „Aus dem Leben eines Leutnants“.136


Abb. 4:Generalanzeiger Oberhausen, 19. und 24. 1. 1912, Wahlaufruf im Wahlkreis Duisburg-Mülheim-Oberhausen, StA Oberhausen

Die Oberhausener Wahlresultate dürften Reusch kaum gefallen haben. Deshalb setzte sich die „Deutsche Vereinigung“ im Wahlkampf für die Stichwahl mit großen Anzeigen für Dr. Böttger ein: Wegen der „Zwietracht der bürgerlichen Parteien“ habe die SPD bei der vorherigen Reichstagswahl die Zahl ihrer Mandate erheblich steigern können. Jetzt hoffe der SPD-Kandidat wieder auf „Wahlhülfe aus den bürgerlichen Lagern“. Die wirtschaftlichen und kulturellen Interessen des Wahlkreises forderten „ein nach Außen starkes und im Innern gefestigtes Deutsches Reich“. „Umso schmählicher wäre es, wenn dieser Wahlkreis der Sozialdemokratie erneut in die Hände fiele, der Partei, die doch nichts anderes kennt, als Unterwühlung der Grundlagen des Deutschen Reiches.“ Deshalb wurden alle „Mitbürger ohne Rücksicht auf ihre Konfession“ aufgefordert, für den Kandidaten der Nationalliberalen zu stimmen. Dieser Appell richtete sich vor allem an den großen Block der katholischen Zentrumswähler. Die Anzeige trug die Unterschrift von Reusch und Woltmann.137 Berufsständische Organisationen hieben in die gleiche Kerbe. So wurden die Beamten in einer großen Anzeige aufgefordert, „gegen den Umsturz praktisch mitzuarbeiten und am Stichwahltage sich den Parteibüros der bürgerlichen Parteien zur Verfügung zu stellen“.138 Das Zentrum ließ sich nicht lange bitten und schloss mit den Nationalliberalen ein Wahlabkommen zur Unterstützung von Dr. Böttger gegen den Sozialdemokraten Hengsbach.139 Der Nationale Bürger-Verein übernahm es, für die Zentrums-Wahlempfehlung zu trommeln. In riesigen, halbseitigen Anzeigen wurden für einen einzigen Tag sieben Versammlungen in allen Stadtteilen von Oberhausen angekündigt; interessant ist, dass in vier verschiedenen Lokalen jeweils katholische Kapläne als Redner auftraten.140

Die Kampagne der bürgerlichen Parteien und Verbände hatte Erfolg. Eine Mehrheit der Zentrumswähler stimmte in der Stichwahl vermutlich für den Nationalliberalen (63.534 Stimmen), nicht für den Sozialdemokraten (43.738). In Oberhausen erhielt Dr. Böttger 9.805 Stimmen gegenüber 6.697 für Hengsbach.141 Dies heißt, dass keineswegs alle Zentrumswähler des ersten Wahlganges ins bürgerlich-nationale Lager umgeschwenkt waren.

Das Ergebnis im westlichen Ruhrgebiet war nicht repräsentativ für ganz Deutschland: Die Fraktion der Sozialdemokraten im Reichstag wurde mit 110 Sitzen doppelt so groß wie vorher, während alle bürgerlichen Parteien ohne Ausnahme Sitze verloren hatten – und dies zwei Tage vor Kaisers Geburtstag am 27. Januar! Die erzkonservative „Kreuz-Zeitung“ giftete gegen den liberalen Hansabund, dass „das unter jüdischer Führung stehende Großkapital“ gegen die Sammlungsparole der Rechten Partei ergriffen habe, dass „offen mit der ebenfalls der jüdischen Sache dienstbar gemachten internationalen Sozialdemokratie paktiert“ worden sei.142

Paul Reusch saß beim Festbankett zu Kaisers Geburtstag am 27. Januar im frisch renovierten Restaurant am Kaisergarten neben Oberbürgermeister Havenstein, als dieser das Wahlergebnis zum Anlass nahm, um über „Zwietracht“, „Unzufriedenheit“ und „Hader“ im deutschen Volk zu lamentieren. „Es hieße nicht, Kaisers Geburtstag feiern in diesem Jahr, gewiss auch nicht im Sinne unseres kaiserlichen Herrn selbst, wollten wir über die schwerwiegenden Ereignisse auf dem Gebiet unserer inneren Politik, mit ihren tiefschmerzlichen Eindrücken aus den letzten und allerletzten Tagen leichten Herzens hinweggehen. Es entspricht dem Ernst des nationalen Festtages, auch der Sorgen zu gedenken, die das Herz unseres kaiserlichen Herrn bewegen.“ Vor diesem düsteren Hintergrund hob sich natürlich das Ergebnis des hiesigen Wahlkreises besonders vorteilhaft ab: „Und doch fällt ein heller Strahl durch das Dunkel des Wintertages auf unseren Wahlbezirk, auch auf diese Stadt und ihre Bürgerschaft, die durch hohe Vaterlandsliebe und durch die hohe Besonnenheit und Klugheit der beiden großen politischen Parteien dem ganzen Land ein leuchtendes, man kann auch sagen beschämendes Beispiel gegeben hat. (Bravo!)“.143 Das Kompliment des Redners und den spontanen Beifall aus dem Publikum bezog der neben Havenstein sitzende Reusch sicherlich auch auf die Rolle, die er persönlich im Vorfeld der Wahl gespielt hatte.

Bei der konstituierenden Sitzung des neuen Reichstags zeigte sich sofort, dass sich nicht alle nationalliberalen Abgeordneten einfach von der Industrie vereinnahmen ließen. Bei der Wahl des Reichstagspräsidiums stimmten – zum Entsetzen der nationalliberalen Wahlkreisorganisation Duisburg-Mülheim-Oberhausen – einzelne Mitglieder der Fraktion für die Sozialdemokraten Bebel und Scheidemann.144

Im Vorfeld der Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus im Frühjahr 1913 unterstützte die GHH die Nationalliberalen mit einem Betrag von 3.000 Mark. Reusch veranlasste, dass dieses Geld in die richtigen Hände kam: Wilhelm Hirsch, der Syndikus der Handelskammer Essen, selbst Mitglied des Abgeordnetenhauses und enger Vertrauter Hugenbergs, musste dafür Sorge tragen, dass die Spende der GHH nur dem „rechten Flügel der Nationalliberalen Partei“ zur Verfügung stand.145 Diese Vorgehensweise hatten die Herren der Schwerindustrie an der Ruhr kurz zuvor so abgesprochen.146 Mit dem Ausgang der Wahl konnten die Industriellen dann ganz zufrieden sein; das Dreiklassenwahlrecht ließ große Erfolge der Linken ohnehin nicht zu. Als Hirsch im Herbst des gleichen Jahres allerdings erneut bei Reusch anklopfte, weil die „Altliberalen“ des rechten Flügels Geld für die Pressearbeit brauchten, hielt Reusch die Geldbörse geschlossen. Allenfalls 500 Mark stellte er in Aussicht.147 Dies änderte aber nichts an dem engen Vertrauensverhältnis, das die Herren Reusch und Hirsch über viele Jahre pflegten.148 Nationalliberale Politiker, die nicht den Segen von Hirsch erhalten hatten, ließ Reusch generell abblitzen. Schließlich regte er sogar an, den regelmäßigen Jahresbeitrag der Industriefirmen jeweils direkt dem rechten Flügel der Partei zu überweisen.149

Was war das Programm der politischen Rechten im Kaiserreich? Sie stand für die aberwitzige Flottenrüstung und nahm dafür die Konfrontation mit England in Kauf; sie trieb 1913 die Vergrößerung des deutschen Heeres voran und löste dadurch sofort vermehrte Rüstungsanstrengungen in Frankreich und Russland aus; sie opponierte in den Vorkriegskrisen gegen alle Versuche der Verständigung auf diplomatischem Wege und heizte dadurch die Kriegs-Hysterie in der Öffentlichkeit an; sie betrieb im Interesse der ostelbischen Junker und der Schwerindustrie eine Hochzollpolitik und erschwerte dadurch zusätzlich eine Verständigung mit den benachbarten Großmächten; sie setzte in den Betrieben rigoros den Herr-im-Haus-Standpunkt der Unternehmer durch; sie blockierte eine Wahlrechtsreform, auch des völlig anachronistischen preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts, und verhinderte damit die längst überfälligen Schritte der Demokratisierung und Parlamentarisierung des modernen Industriestaates Deutschland. Durch seine aktive Unterstützung ausschließlich des rechten Flügels der Nationalliberalen, durch sein nachdrückliches Eintreten für das Bündnis mit den agrarischen Junkern und durch seinen entschiedenen Kampf gegen alle gemäßigten Bestrebungen im bürgerlichen Lager übernahm Reusch die Mit-Verantwortung für die Katastrophe, in die die Politik der kaiserlichen Regierung und der sie antreibenden oder unterstützenden Rechtskreise führte.

Die Hasardeure in der kaiserlichen Regierung und in der Generalität hofften auch, die wachsenden sozialen Spannungen durch Anheizen der nationalistischen Emotionen, durch eine aggressive „Weltpolitik“, in letzter Konsequenz durch einen Krieg, nach außen ableiten zu können. Solche Gedankengänge waren auch Reusch nicht fremd, musste er sich doch schon im März 1912 mit einem Bergarbeiterstreik auseinandersetzen – kaum dass der Arbeitskampf mit den Angestellten ausgestanden war und nur wenige Wochen, nachdem die Sozialdemokraten die Reichstagswahlen gewonnen hatten.

Zuvor jedoch feierte die Stadt Oberhausen ihren fünfzigsten Geburtstag, und Reusch reihte sich als prominentester Industrieherr der Stadt in die Reihe der Gratulanten ein.

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch

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