Читать книгу Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft - Peter Maier - Страница 10
Kapitel 2: Begriff und Phänomen der „Initiation“ (1) Begriffsklärung
ОглавлениеVerschiedene Bedeutungen des Begriffs „Initiation“
Der Titel dieses Buches lautet „Initiation“ und dieses Wort ist auch der Schlüsselbegriff für meine Untersuchung und Analyse der Situation der heutigen Jugend in unserer Gesellschaft, sowie für mögliche Folgerungen und Visionen, die daraus abzuleiten sind. Daher ist es zunächst nötig, den Begriff „Initiation“ zu definieren, ihn näher auf seine verschiedenen Bedeutungen hin zu beleuchten und ihn schließlich für das Anliegen und die Zielsetzung dieses Buches zu konkretisieren. Im Band 1 des „Duden“{3} ist dazu Folgendes zu finden:
initiieren“ bedeutet „den Anstoß geben; einleiten, (in ein Amt) einführen; einweihen.“
„Initiation“ wird wie folgt definiert: Soziologisch „Aufnahme in eine Gemeinschaft“;
Völkerkundlich „Reifefeier bei den Naturvölkern“
Schließlich wird „Initiand“ mit “Anwärter auf eine Initiation“ umschrieben.
Der Begriff „Initiation“ leitet sich aus dem lateinischen Verb „initiare“ ab. Dazu sagt das Lateinisch-Deutsche Handwörterbuch{4}:
(1) anfangen, den Anfang nehmen
(2) einführen, einweihen
- (a) in einen geheimen Gottesdienst beim Kult für den Gott „Ceres“
- (b) taufen (im Kirchenlatein)
(3) einen Gebrauch feierlich einführen, aufnehmen
Wichtiger für diese Untersuchung ist aber, wie der Begriff „Initiation“ in der heutigen Literatur verwendet wird. Und dazu kann man insbesondere in Büchern zum Thema „Pubertäts- und Stammesinitiation“ fündig werden, das in den vergangenen 20 Jahren immer populärer geworden ist. Vor allem Autoren, die sich speziell mit der Frage beschäftigt haben, wie Jungen zu Männern werden können („Männer-Initation“), haben das Wort geprägt und konkretisiert – sehr anschaulich, griffig und auch für die Vorstellungen unseres westlichen Kulturkreises verständlich.
Die Autoren versuchen dabei, den Begriff und das Phänomen der „Initiation“ aus der Denkweise indigener Völker zu übersetzen. Diese galten lange nur als die vermeintlich „Wilden“ – z.B. die Stammesgesellschaften der Indianer, der Aborigines und afrikanischer Völker. Heutige Autoren versuchen dabei, das uralte Wissen über den ganzen Komplex der Initiation, d.h. der Einweihung von Jugendlichen ins Erwachsensein, mit den Erkenntnissen westlicher Psychologie Jungianischer Prägung zu Themen wie „Erwachsenwerden – Reifen – Ablösen von den Eltern usw.“ zu verbinden.
Der Zen-Mönch und Männer-Coach Greg Campell und der Lebensberater Peter Thomaset{5} haben das Phänomen „Initiation“ wie folgt zusammengefasst:
„Initiation ist das bewusste Übergangritual vom Kindesalter zum Erwachsenenleben, das fest in der Stammestradition verankert ist. Bei den sogenannten Naturvölkern haben diese Rituale eine besondere Bedeutung und Wesentlichkeit. Die Jugendlichen werden in der Zeit der Initiation vom Rest der Gemeinschaft getrennt ... Im Wesentlichen geht es bei der Initiation darum, sich von der Kindheit und von der elterlichen (meist mütterlichen) Fürsorge abzunabeln, um zu einem eigenständigen, verantwortungsvollen und reifen Erwachsenen heranwachsen zu können...
Diese für uns 'zivilisierte' Menschen oft grausam und brutal anmutenden Initiationsrituale der Naturvölker sind meist mit dem symbolischen Tod des Initianden verbunden ('bewusster Tod'). Nachdem die Initiation abgeschlossen ist, werden der Initiand oder die Initiandin als vollwertige Mitglieder in ihrem Stamm aufgenommen… Initiation ist die Einweisung, Einführung, Einweihung in das Mysterium des Seins. Es ist eine körperliche und geistige Erfahrung, die einen Prozess in Gang setzt, der den heranwachsenden Menschen veranlasst, der Natur in einer achtsamen Weise zu begegnen und sie in einer heilenden Art zu begreifen ...“
Initiation bedeutet also das Hineingehen in einen neuen Lebensabschnitt. Die christliche Taufe ist demnach auch eine Art Initiation: Sie markiert auf sehr rituelle Weise den Eintritt des neuen Erdenbürgers in die Gemeinschaft der Christenheit. Auch die Heirat könnte man als Initiation bezeichnen, weil dadurch ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnt. Was aber für uns „Westler“ eher unbekannt ist: Selbst der Übergang vom Erwachsenenalter ins „hohe Alter“, z.B. anlässlich der Pensionierung, könnte als Initiation verstanden werden. Im Zusammenhang dieses Buches soll es aber beim Begriff der „Initiation“ ausschließlich um den Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen gehen.
Der Sinn von „Initiation“ und von „Initiationsritualen“
Um diesen Schritt bewerkstelligen zu können und um bei diesem Übergang erfolgreich zu sein, haben alle Naturvölker auf unserem Planeten Initiationrituale entwickelt, um ihren Jugendlichen bei dieser entscheidenden Transformation zu helfen. Hierfür haben sie – für ihren Stamm passende und angemessene – Prüfungen kreiert. Dazu später noch ausführlicher. Aber beleuchten wir doch zunächst den Begriff „Initiation“ noch von einigen anderen Seiten näher, um ein umfassenderes Bild dafür zu bekommen. Der australische Männerautor Steve Biddulph{6}, der sich auch intensiv mit den Aborigenes, den Ureinwohnern seines Kontinents, beschäftigt und dadurch entscheidende Erkenntnisse auch für unsere westliche Kultur gewonnen hat, setzt sich besonders mit der männlichen Jugend auseinander:
„Der heutige Jüngling wird offiziell mit achtzehn zum Mann. Das Ergebnis lässt sich überall beobachten – nämlich Jungen in Männergestalt. In früheren Jahrhunderten war die Mannwerdung ein langwieriger, sorgfältig geplanter Prozess, der durch Initiationsstufen hindurch führte und von den älteren Männern aktiv begleitet wurde. Bei allen Unterschieden im Einzelnen findet man die mit diesem Geschehen verbundenen Rituale und Einweihungsstufen in allen traditionellen Gesellschaften der Welt – auf allen Kontinenten, unter allen Hautfarben und zu allen Zeiten. Gerade diese Praktiken sprangen den westlichen Anthropologen als Erstes ins Auge, als diese anfingen, sich für 'primitive' Kulturen zu interessieren. Und weil die jungen Männer dieser Kulturen hier mit geheimen Dingen bekannt gemacht wurden, die ihnen bis dahin vorenthalten worden waren, bezeichnete man diesen Prozess als 'Initiation' oder 'Einweihung'“.
Aus der Fülle heutiger Initiations-Autoren soll vor allem auch der afrikanische Schamane Malidoma Patrice Somé{7} zu Wort kommen, den ich selbst in zwei Workshops kennenlernen durfte. Er betont vor allem die unverzichtbare Bedeutung der Gemeinschaft bei der Initiation der Jungen und Mädchen:
„Initiation bringt die Konzentration mit sich und antwortet auf fundamentale Lebensfragen, mit denen sich der Mensch seit der Zeitendämmerung auseinander gesetzt hat. Jeder fragt sich doch: Wer bin ich? Woher komme ich? Wozu bin ich hier? Und wohin gehe ich? … Die Initiation besteht aus Ritualen und Prüfungen, in denen sich die jungen Leute ihres Lebenszieles erinnern und erleben, dass ihr einmaliger Genius von der Gemeinschaft anerkannt wird. In einer Stammesgesellschaft ist das ganze Dorf von der Geburt bis zur Pubertät für einen Jugendlichen verantwortlich … Diese kollektive Aufmerksamkeit und Sorge bereitet das Kind darauf vor, seine Gaben, sein Potenzial und seine Fähigkeiten anzuwenden. Wiedergeburts- und Übergangsrituale markieren den Übergang zur Reife ... Initiation ist die rituelle Besiegelung des Übergangs ins Leben, der mit der Geburt begann.“
Der deutsche Männer-Autor Reinhold Herrmann Schäfer{8} lässt in seinem Buch „MännerQuest“ wiederum den amerikanischen Männerinitiator Gregory Campell (s.o.) zu diesem Thema erklären, dass es für die Jungen noch wichtiger wäre als für die Mädchen, eine sinnvolle rituelle Initiation zu erfahren. In seinen Gedanken werden Sinn und Bedeutung des Phänomens „Initiation“ genauer erkennbar:
„'Männer brauchen Initiation. Das heißt durch bewusste Unterstützung von Initiationsprozessen kann eine wichtige Entwicklung der Fähigkeit von Männern eingeleitet werden. In nahezu allen Kulturen bekamen Männer (in weitaus größerem Maße als Frauen) im Rahmen von Initiation vermittelt, wie sie ihre vielfältigen Stärken im Interesse ihrer Gemeinschaft verantwortlich einsetzen können. Sie bekamen vermittelt, wo die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten sind. Sie wurden aus der Welt des Mütterlichen und der kindlichen Verantwortungslosigkeit herausgenommen und durch ältere Männer an eine reifere und erwachsenere Identität herangeführt. Das Initiationsritual, wie es bei Naturvölkern praktiziert wird, ist aber nur der Beginn eines lebenslangen Wegs zur Vertiefung der inneren Reife und Stärke.'“
Schließlich sollen zur näheren Veranschaulichung auch noch die beiden Visionssuche-Leiter Koch-Weser und von Lüpke gehört werden. In ihrem Buch „Vision Quest“{9} erklären sie „Initiation“ wie folgt:
„Der Begriff 'Initiation' leitet sich vom lateinischen 'initiare' = 'hineinführen, bewusst hineingehen' ab. Schon diese Wortwurzel weist darauf hin, dass sich in einem Initiationsritual ein neuer Lebensraum öffnet und der alte entsprechend abgeschlossen wird. Was paradox klingt, hat eine tiefe Wahrheit: Eine Initiation beginnt mit einem Ende und endet mit einem Anfang. Es geht also um tiefe Veränderung auf drei Wesensebenen: dem seelisch-körperlichen Bewusstsein, dem sozialen Bewusstsein und dem spirituellen und kosmologischen Bewusstsein.“
Entscheidende Fragen zur Initiation
In diesem Buch soll der Begriff „Initiation“ jedoch ausschließlich und exklusiv für den Übergang des Jugendlichen zum Erwachsenen verwendet werden, um die gestellte Thematik „Übergangsrituale“ noch klarer akzentuieren zu können. Es geht bei dem Begriff “Initiation” um den Vorgang des Erwachsenwerdens von Mädchen und Jungen im Allgemeinen und um den bewussten Übergang und Entwicklungsschritt vom Jugendlichen zum Erwachsenen im Besonderen. Dabei eingeschlossen sind die vielen Themen und Begleitumstände, die zu diesem fundamentalen Prozess gehören. So sollen u.a. folgende Fragen gestellt und nach Möglichkeit auch beantwortet werden:
Was bedeutet eigentlich “Erwachsensein”?
Welche Eigenschaften, Bedingungen und Kriterien gehören zum “Erwachsensein”, d.h. welche Kennzeichen unterscheiden z.B. einen jungen Erwachsenen von einem älteren Jugendlichen?
Was bedeutet “Volljährigkeit” und was ist der Unterschied zwischen “Volljährigsein” und “Erwachsensein”?
Wann, wie und wodurch kann ein Jugendlicher erfahren, erkennen oder feststellen, dass er nun “erwachsen” geworden ist?
Gibt es in unserem Kulturkreis eine „Erwachsenenprüfung“, die in der Gesellschaft als solche bekannt und allgemein anerkannt ist?
Damit bin ich meiner Auffassung nach zu einer Kernthematik in unserer Gesellschaft vorgedrungen. An diesen wesentlichen, im Grunde aber klaren und einfachen Fragen scheiden sich nämlich heute die Geister. In vielen Gesprächen mit Heranwachsenden und Eltern musste ich immer wieder feststellen, dass diese Fragen bei den Jugendlichen unterschwellig zwar immer vorhanden sind, dass sie aber in ihrem Alltag nicht wirklich aufgeworfen, diskutiert oder besprochen und schon gar nicht beantwortet werden.
Dies erscheint mir mittlerweile schlicht als unverständlich. Damit soll weder den Schulen, den Sozialpädagogen, den Lehrern, den Politikern oder den Eltern irgendein Vorwurf gemacht werden. Es handelt sich hierbei schlicht um ein gesellschaftliches Grundphänomen. Wenn unsere Gesellschaft als Ganzes kein Interesse an solchen Themen und kein Bewusstsein dafür hat, dann ist es nicht verwunderlich, dass so einfache, aber im Grunde lebensentscheidende Fragen, die sowohl die Persönlichkeit des einzelnen Jugendlichen als auch die Gesellschaft als Ganzes betreffen, auch von den Heranwachsenden bisher (noch) nicht wirklich gestellt werden.
Unsere Leistungsgesellschaft erwartet aber, dass die junge Generation bald ihren Beitrag zu Staat und Gemeinschaft ganz selbstverständlich erbringen soll. Dies setzt aber bereits erwachsene Persönlichkeiten und verantwortliche Bürger voraus. Wie, wodurch und auf welche Weise sollen aber unsere Jugendlichen erwachsen werden? Jeder spricht davon, jeder setzt das Erwachsensein voraus, aber fast nirgends besteht Klarheit darüber, was es denn eigentlich bedeutet, „erwachsen zu sein“ und wann und wodurch man dies wird. Anscheinend herrscht die Meinung vor, dass das „Erwachsenwerden“ ganz von selbst und gleichsam „über Nacht“ geschieht.
Hier sehe ich einen eklatanten Mangel und einen bizarren Widerspruch in unserer Gesellschaft. Wir alle wollen und brauchen verantwortliche Erwachsene, damit unsere Gemeinschaft überhaupt funktionieren kann. Es besteht aber keine Vorstellung darüber, wie und wodurch unsere Jugendlichen, die diese Erwachsenen von morgen sein werden, sein sollen und in der Regel auch sein wollen, diesen Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsene bewerkstelligen können. Damit bin ich wieder bei obigen Fragen angelangt.