Читать книгу Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft - Peter Maier - Страница 8

(3) Rückkehr

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Alle Teilnehmer halten durch


Es ist der Morgen des vierten und letzten Tages des Rituals – der Tag der Rückkehr und der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft. Nun ist der dritte Teil der Prüfung angebrochen. Zunächst gilt es aber, zu dem mit seinem „Buddy“ vereinbarten Platz zu gehen, von dem aus man sich am letzten Morgen verabschiedet hatte. Denn zu zweit sollen die Initianden dann – immer noch schweigend – ins Zentrum zurückkehren. Auch dieser Vorgang gehört noch zum Ritual und hat eine sehr symbolische Bedeutung: Durch die Rückkehr mit seinem ganz persönlichen „Buddy“, der vor allem in der Nacht – wenn auch unsichtbar – ganz in der Nähe weilte und so dazu beigetragen hat, die eigenen Ängste zu bannen, soll dieser Dienst gewürdigt werden, den man sich gegenseitig getan hat. Im Zentrum warten bereits die Eltern, die von weit her angereist sind.

Warum aber sollen die Eltern jetzt da sein, wenn es doch gerade um ein Ablösungsritual von ihnen geht? Dazu ein Vergleich: Bei der Übergabe eines Abitur- oder Realabschluss-Zeugnisses – für diesen sehr symbolischen, meist aber höchstens 30 Sekunden dauernden Akt – sind fast immer auch Eltern und Verwandte anwesend: Sie wollen dabei sein, wenn ein langer Ausbildungsweg und Lebensabschnitt an der Schule zu Ende geht; sie wollen sich freuen über den Erfolg ihres Sohnes oder ihrer Tochter, Enkel oder Enkelin usw.; sie wollen den Stolz darüber hautnah und in fast liturgischer Atmosphäre erleben; und sie wollen Zeuge sein, wenn in festlichem Rahmen das Abiturzeugnis durch den Schulleiter überreicht wird. Dies soll durch die ganze Familie anerkannt und gewürdigt werden.

Daher ist es auch bei diesem so einschneidenden und wichtigen Initiationsritual des WalkAway eine Grundbedingung, dass die Eltern anwesend sind, wenn ihr „Kind“ aus der Wildnis zurückkehrt. Dies verlangt aber auch für die Eltern und übrigen Familienmitglieder ein nicht unbedeutendes Abenteuer: Sie müssen mitten in der Nacht aufstehen, also noch eher als ihre „Kinder“, Enkel, Brüder oder Schwestern. Ohne „Navi“ wird der abgelegene Ort in Niederbayern trotz genauer Wegbeschreibung wohl nicht leicht zu finden sein. Eine Mutter taucht schon um 2.00 Uhr nachts auf. Sie ist bereits am Abend losgefahren; sie findet dann noch ein paar Stunden Schlaf in der Scheune, die auch schon den Jugendlichen in der Vorbereitungszeit als Quartier diente.

Ab 7.15 Uhr treffen dann so nach und nach die anderen Eltern und Angehörigen ein. Einige von ihnen sind sehr erfreut, den Ort nach einer mehr als zweistündigen (Irr)Fahrt doch noch rechtzeitig gefunden zu haben. Vereinbart ist, dass die Initianden erst um 8.00 Uhr morgens zum Steinkreis zurückkehren dürfen, damit die Eltern genügend Zeit zur Anfahrt haben. Denn es gehört zum Ritual, dass die Eltern ihre „Kinder“ aus der wilden Natur kommen sehen und sie nach dem Abschlussritual im Steinkreis in Empfang nehmen können.

Jeder der Teilnehmer, die nun in Zweiergruppen zum Zentrum zurückkehren, tritt einzeln in den Kreis. Wiederum herrscht – so wie schon bei der Verabschiedung am Tag zuvor – eine feierliche, würdevolle und ruhige Atmosphäre. Der Leiter und Ritualmeister räuchert wieder jeden einzeln ab und schneidet anschließend mit seiner Adlerfeder erneut alle Verbindungen durch – diesmal aber die Verbindungen zur Natur „da draußen“ und zum Alleinsein, somit die Verbindung zur „Anderswelt“, in der sich die Jugendlichen für 26 Stunden befunden und als unsichtbar gegolten haben. Genau in diesem Augenblick und mit diesem Ritual geht für jeden Initianden die Solozeit zu Ende: Erst wenn er aus dem Kreis tritt, gilt er wieder als sichtbar und kann nun Kontakt mit anderen aufzunehmen.

Damit hat der Übergang in die dritte Phase des WalkAway begonnen. Alle drei freiwilligen Einschränkungen und Entbehrungen sind ab jetzt wieder aufgehoben – das Alleinsein, das Fasten und das Unbehaustsein. Nun begrüßen sich Eltern, Angehörige und frisch Initiierte. Bis auf einen Teilnehmer haben alle ein frohes, ja leuchtendes Gesicht, sie strahlen von innen heraus und sind voll Stolz, dass sie diese Herausforderung bestanden und eine Prüfung mit Bravour gemeistert haben, der sich viele andere Jugendliche gar nicht erst stellen wollten oder vor der sie wieder abgesprungen sind, als es ernster und konkreter wurde.

Jetzt bekommen alle eine Breze und eine Tasse heißen Tee. Damit wird nun sehr dosiert aber ganz offiziell das Fasten gebrochen und die Solozeit mit ihren Entbehrungen auch auf dieser körperlichen Ebene fühlbar beendet. Dies ist wichtig, damit etwaige Hungergefühle verschwinden und die Teilnehmer sich entspannt und gelassen auf den letzten Schritt vorbereiten können. Einer von ihnen hatte sich in der Nacht mehrfach übergeben müssen. Das gehörte anscheinend zu seiner ganz persönlichen WalkAway-Geschichte und zu seinem inneren Prozess. Nach Breze und Tee bekommt aber auch er seine Farbe im Gesicht zurück, seine Stimmung hellt sich in kurzer Zeit wieder auf und nun ist auch er mächtig stolz auf das Geleistete.

Der „Council“ tagt


Die Leiter wollen bewusst nicht, dass sich die Jugendlichen nun mit Essen voll stopfen oder sich von ihren besorgten Müttern und Vätern „füttern lassen“. Denn die Sinne sollen frei, geschärft und weiterhin sehr konzentriert bleiben. Die Initianden sollen noch voll in ihrem persönlichen Prozess verweilen und sich daher auch nicht durch zu viel Kontakt, Essen oder durch zu viel Reden mit ihrer Familie ablenken lassen. Unmittelbar nachdem der letzte der Teilnehmer eingetroffen, im Steinkreis wieder „sichtbar gemacht“ worden ist und seine Eltern begrüßt hat, beginnt der letzte Teil des WalkAway-Rituals.

Nun finden sich alle Anwesenden unter dem Vordach des nahen Schuppens zum „Council“, d.h. zur „Ratsversammlung“, ein. Es herrschen an diesem Morgen strahlender Sonnenschein und warme, angenehme Temperaturen. Ca. 35 Personen sind anwesend: Die zehn Initianden und die vier Leiter und Assistenten sitzen innen im Kreis auf Decken, die übrigen ca. 20 Leute – Eltern und Verwandte – hocken auf Bänken und Stühlen außen herum. Dabei ist der Bruder eines Teilnehmers mit 14 Jahren der Jüngste, die 82-jährige Oma eines anderen Initianden die Älteste.

Nach einer kurzen offiziellen Begrüßung erklären die Leiter in knapper Form den Sinn dieses Treffens. Die Teilnehmer sollen nun ihre ganz persönliche Geschichte „von allein da draußen im Wald“ vor der ganzen Versammlung erzählen - in Anlehnung z.B. an die Tradition der Indianer Nordamerikas, bei denen frisch Initiierte von ihren Erlebnissen in der „Anderswelt“ vor der ganzen Stammesgemeinschaft berichten. Die Teilnehmer bekommen dazu eine Zeitvorgabe von zehn Minuten. Alle anderen werden aufmerksam zuhören. Die Kommunikation läuft nun ausschließlich – wie bereits die Tage zuvor – mit Sprechstab oder Sprechkugel ab. Die Jugendlichen machen es vor, so dass auch die Eltern nach kurzer Zeit die Scheu vor dieser für sie noch ungewohnten Art der Kommunikation verlieren und sich ganz auf diese eher ungewöhnliche „Veranstaltung“ einlassen können.

Erstaunliche WalkAway-Geschichten


Jeder einzelne der Teilnehmer trägt nun sehr konzentriert und äußerst persönlich seine Erlebnisse aus der Solozeit vor. Wenn eine Erzählung vorbei ist, wird sie von den beiden Leitern gespiegelt, d.h. sie versuchen nacheinander, das soeben Gehörte auf einer anderen, tieferen Ebene wiederzugeben. Hier sind einige dieser Geschichten und deren Deutungen im Spiegel der Leiter in Kurzform:

 Manche berichten von wundersamen Begegnungen mit Tieren und Landschaften. In einem Fall ist ein Reh bis auf 20 Meter auf eine junge Teilnehmerin zugekommen. Dies war sehr erstaunlich, da Rehe doch sonst einen viel größeren Abstand von mindestens 200 Meter oder noch mehr einhalten. Für das Mädchen hat diese Begegnung mit dem Reh ein ganz neues Verhältnis zur Natur überhaupt und zu ihren Lebewesen im Besonderen angestoßen. Sie wird sich in ihrer Erzählung bewusst, wie wichtig es ist, dass wir Menschen die Natur für den Lebensraum der Tiere und Pflanzen bewahren. Noch ein anderer Aspekt kommt zum Vorschein: Die junge Frau erkennt in dem Reh einige Wesensqualitäten, die sie auch für sich selbst und ihr Leben als erstrebenswert empfindet: Anmut, Leichtigkeit, Zärtlichkeit, Freiheit. Sie glaubt, dass ihr das Reh nicht zufällig „erschienen“ ist. Was bedeutet es, wenn ein im Grunde eher scheues Wesen wie ein Reh so nahe herankommt? Es kann ausdrücken, dass der Initiand ungewohnt offen geworden ist für die Lebewesen in der Natur, so dass sie ihn schon fast als ihresgleichen erkennen können.

 Andere Jugendliche legen den Schwerpunkt ihrer Erzählung zunächst mehr ganz praktisch auf die Beschreibung des Platzes und den Aufbau ihrer Plane oder sie schildern ihre Bemühungen, dem Regen unversehrt in oder unter ihrer Plane getrotzt zu haben. Hierin kommt eine ganz elementare Fähigkeit zur Geltung: Die Jungen und Mädchen waren gezwungen, für sich selbst zu sorgen und sich mit den wenigen Möglichkeiten „häuslich“ einzurichten, um den Tag, die Nacht, den Regen und auch die kühle Nacht gut zu überstehen und sich möglichst trocken zu halten. So waren die Heranwachsenden noch nie gefordert und so waren sie auch noch nie den Elementen und sich selbst ausgesetzt. Sie haben alle diese Prüfung überstanden und bewältigt – gar nicht so selbstverständlich für Jugendliche heute.

 Ein Junge verbrachte einen großen Teil der Zeit mit dem Schnitzen eines Wanderstockes und stellte dabei plötzlich fest, dass es für ihn bei dieser Tätigkeit um viel mehr als nur um das äußere Erstellen eines kleinen Kunstwerkes oder als Maßnahme gegen aufkommende Langeweile ging. Er setzte sich dabei mit einer alten Wut auseinander: Er ließ die Gefühle über eine zerbrochene Beziehungen endlich los, ja er schnitzte und schnitt sie förmlich von „seinem“ Stock weg. Dieser wurde damit zu einer Art Projektionsfläche seiner Wut und Trauer. In seinem Schnitzen konnte er seine ihm bis dahin zum Teil unbewussten und unbewältigten Gefühle nach außen bringen, ihnen Ausdruck verleihen und sie so zu einem gewissen Grade verarbeiten.

 Ein Mädchen suchte sich einen Baum, dem sie all ihren Kummer und ihre Trauer in einem langen Zwiegespräch übergeben und dadurch endlich loslassen konnte. Der große Baum war für sie plötzlich wie eine uralte, weise und gleichzeitig liebevoll zugewandte Mutter, die einfach nur zuhörte. So eine Erfahrung hatte das Mädchen schon lange nicht mehr gemacht. Es ging um sehr viel für sie: Ein Todesfall in ihrer Verwandtschaft hatte auch ihre eigene Familie in tiefe Trauer gestürzt. Der Baum nahm nun einen großen Teil dieser Trauer und Depression auf und gab dem Mädchen eine neue Sicht und einen neuen Stand. Sie kann das furchtbare Ereignis nun vor allen Anwesenden thematisieren und sich von der „ewigen“ Trauer öffentlich verabschieden, die auch an ihr gehaftet war. Dies setzt neue Kräfte bei ihr frei und sie bekommt bereits in ihrer Erzählung erste klare und deutliche Visionen über ihre Zukunft. Sie hat womöglich einen wichtigen psychologischen Schritt getan: Ein Abschied von belastenden alten Emotionen ist geschehen und daher kann sich jetzt etwas Neues in Seele und Geist von ihr auftun.

 Ein Junge hatte massiv mit dem Hunger zu kämpfen, der einen wesentlichen Teil der Aufmerksamkeit seiner Solozeit in Anspruch nahm. Obwohl er wusste, dass er in 24 Stunden nicht wegen Hunger sterben würde, bekam er deswegen dennoch immer wieder Panikgefühle. Um damit fertig zu werden, entwickelte er eine erstaunliche Strategie: Entgegen den Regeln des WalkAway marschierte er nach einem langen Kampf mit sich selbst gegen Abend zu dem nahe gelegenen Dorf, in der Hoffnung, sich dort im Supermarkt den Bauch mit Nahrung vollstopfen und so seines Heißhungers Herr werden zu können. Da er aber erst um kurz nach 20.00 Uhr ankam, hatte das Geschäft schon geschlossen. Er bekam nichts mehr. Vielleicht war dies sein unbewusstes Kalkül gewesen. Denn so konnte er sich sagen, er hätte es probiert, für sich selbst zu sorgen, auch wenn dann die Prüfung gescheitert wäre. Gleichzeitig war er sehr erleichtert, auf diese Weise die Regeln des Rituals dennoch voll eingehalten zu haben. Durch das ganze Manöver war der junge Mann sehr mit seinen inneren Kräften und damit mit sich selbst in Kontakt gekommen. Was bedeutet es, dass er sich seinem drängenden Hungergefühl gestellt und es die ganze Nacht ausgehalten hat? Es kann heißen, dass er genau dadurch seine Grenzen erfahren hat, aber jetzt auch um seine innere Stärke weiß, etwas durchzuhalten. Darauf darf er mit Recht stolz sein.

 Für ein Mädchen war es die stärkste Erfahrung, dass sie sich mit dem WalkAway selbst beweisen konnte, so etwas überhaupt durchstehen zu können - auch eine lange Nacht in Dunkelheit, Einsamkeit und Angst. Denn sie hatte ein wirklich mulmiges Gefühl, als es nachts im Wald plötzlich seltsam knackte und dadurch Phantasie-Schreckensbilder vor ihrem inneren Auge abliefen. Stundenlang musste sie deswegen immer wieder am ganzen Körper zittern. Wer wird da kommen? Ist es der berüchtigte „wilde, unbekannte Mann“, der sie bedrohen könnte? Mit dieser Urangst ist sie nicht allein; auch einige andere Jungen und Mädchen deuten in ihren Erzählungen ihre Ängste, zumindest aber eine Art Stressgefühl an, das sie in der Dunkelheit der Nacht gepackt hatte. Denn was bedeutet es, als junge Frau ganz allein eine lange Nacht im Wald in Dunkelheit und Einsamkeit zu verbringen? Es kann heißen, dass die Teilnehmerin den Mut gefunden hat, sich einer elementaren und uralten archaischen Situation zu stellen, in der viele andere Mädchen und Frauen nur panische Angst haben würden; und es bedeutet, dass sie diese Angst zumindest in einem Fall nun durchgestanden und besiegt hat. Diese junge Frau hat den Mut, nun vor allen Anwesenden über diese Gefühle ganz ehrlich zu berichten. Damit hat sie gleich „zwei Fliegen mit einer Klappe“ gefangen: Sie konnte in dieser Nacht ihren „Angstdämon“ bannen und besiegen; und sie ist innerlich so stark geworden, dass sie auch noch ihre Ängste vor allen eingestehen und offen zugeben kann. Ein wichtiger Schritt, der von Mut und Reife zeugt.

 Aber auch eine ganz andere Seite bekommt in den Erzählungen Raum: Für mehrere der Teilnehmer war es eine wunderbare Erfahrung, tagsüber ausgedehnte Wanderungen durch die wellige, sehr abwechslungsreiche Landschaft zu machen und dabei die Schönheit und Anmut der Natur zu erfahren. Für manche führte die Solozeit sogar zu einem tiefen spirituellen Erlebnis: Sie konnten sich plötzlich und ganz unerwartet als Teil der Natur erleben und spürten dabei eine wunderbare Gelassenheit und tiefe Geborgenheit darin wie noch nie zuvor. Sie konnten fühlen, dass Schöpfer und Geschöpfe eins und dass alle Lebewesen miteinander verbunden sind und zusammen gehören.

 Für einen jungen Mann war es das schönste Erlebnis, ganz bewusst in den Regen zu gehen und sich dem Element „Wasser“ einmal völlig frei zu überlassen. Denn normaler Weise versucht jeder, dem Regen zu trotzen und nicht nass zu werden. Für den Initianden war es dagegen wie eine Offenbarung: Er konnte den kleinen Jungen in sich spüren, der sich über die warmen Regentropfen einfach nur freute. Er durfte spüren, wie die Tropfen auf seiner Haut aufklatschten und wie er mit ihnen förmlich verschmolz. Für ihn war es ein echtes Glückserlebnis, das mit so wenig Aufwand erreicht werden konnte. Der Regen wurde ihm einfach geschenkt und er spürte plötzlich eine tiefe Naturverbundenheit in sich. Ihm wurde in diesem Moment erst bewusst, dass er schon immer mit der Natur verbunden war und dass er bei dem WalkAway im Grunde einfach nach Hause gefunden hatte – nach Hause zu sich selbst.

 Ein anderer Junge musste sich da draußen übergeben und furchtbar kotzen. Was hat er rausgespien? Was hat ihm an seinem bisherigen Leben so gestunken, dass es sich auf derart deutliche Weise einen Weg von innen nach draußen gesucht hat? Was lag dem jungen Mann so auf dem Gemüt, dass er es rauskotzen musste? Während seiner weiteren Geschichte wird deutlich, was dies sein könnte: Er hat es so satt, überall nur gegängelt und nicht für voll genommen zu werden. Dies war zumindest sein bisheriges Gefühl gerade auch bezüglich seiner Eltern und dieses äußert der Teilnehmer nun vor allen Anwesenden. Ihm scheint es in diesem Moment völlig egal zu sein, wie seine Eltern darauf reagieren könnten. Die überstandene Nacht allein da draußen im Wald haben dem jungen Mann so viel Kraft, Mut und Selbstvertrauen gegeben, dass er sich nun auf diese klare und deutliche Weise sogar öffentlich von seinen Eltern abgrenzen und für sich einstehen kann. Zu seiner Überraschung sind seine Eltern aber dadurch nicht gekränkt, sondern unwahrscheinlich erleichtert. Auch sie hatten in letzter Zeit unter dem gespannten Verhältnis zu ihrem Sohn gelitten, weil sie nicht mehr wussten, wie sie mit ihm umgehen sollten. Sein mutiges Auftreten jetzt macht vieles klar und legt die Koordinaten im Verhältnis zwischen Eltern und Sohn neu fest: Er hat gerade durch dieses und in diesem Ritual einen großen Sprung nach vorne gemacht – hin zu mehr Reife und Eigenständigkeit und damit zum Erwachsensein.

 Ein Mädchen hatte das beeindruckendste Erlebnis erst bei ihrer Rückkehr: Auf dem Weg zum Tagungszentrum am Morgen wäre die junge Teilnehmerin beinahe auf eine Schlange – vermutlich auf eine Kreuzotter – getreten. Dies ist um so erstaunlicher, weil es in dieser Gegend selten oder nie Schlangen gibt. Das Mädchen blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete, wie die Kreuzotter ganz langsam über den Weg und dann in das nahegelegene Gebüsch glitt. Instinktiv wurde der Teilnehmerin bewusst, dass diese Begegnung etwas ganz Besonderes für sie bedeutete. Sie hatte keine Angst vor der Schlange. Was wollte das Tier ihr „sagen“? Welchen Sinn könnte dieses seltene Erscheinen in der Geschichte des Mädchens haben?Die Leiter hatten vor dem Rausgehen in die Solozeit betont, dass alles, d.h. jedes Erlebnis, eine tiefere Bedeutung für die (Lebens)Geschichte des Initianden haben kann. Vor allem Tiere, Pflanzen, besondere Formationen in der Landschaft, Steine usw. können bei diesem Ritual, bei dem sich die Teilnehmer in einer Art von „Anderswelt“ oder in einem etwas verändertem Bewusstseinszustand befinden, wichtige innere Prozesse widerspiegeln. Hier die Deutung, die in diesem Falle gegeben wurde: Die Schlange gilt in vielen Mythologien der Völker als ein heiliges Tier. Eine ihrer Eigenschaften ist es, sich zu häuten. Nach einer gewissen Zeit wächst dann eine neue Haut nach. Damit ist die Schlange ein Symboltier für Transformation, Metamorphose, für das Loslassen von etwas Altem, Verbrauchtem, Vergangenem und für die Entstehung von etwas Neuem, Frischem, Kraftvollem usw.. Bei dem Ritual des WalkAway geht es um einen vergleichbaren inneren Prozess: Um das Absterben der Kindheit und um die Geburt des Erwachsenen. Etwas Schöneres hätte dem Mädchen gar nicht passieren können. Die Schlange hat noch im Ritual selbst den Entwicklungsprozess der Initiandin angezeigt: Diese hat zumindest einen wichtigen Teil ihres bisherigen Lebens verlassen und sich dem Neuen geöffnet, worin auch immer dieses bestehen mag.

Es sind wunderbare Dinge, die die Jugendlichen in dieser über dreistündigen „Versammlung“ von sich erzählen. Und sie sind selbst überrascht, mit welcher Offenheit und aus welcher Kraft heraus sie ihre ganz persönliche Geschichte von der Solozeit des WalkAway berichten können und wollen. Jede einzelne Erzählung wird dann von der Gemeinschaft mit einem kräftigen „Hou“ beendet. Dies soll den Teilnehmern die volle Unterstützung, Bestätigung und das Wohlwollen der Zuhörer vermitteln.

Leiter und Eltern sind tief berührt


Wenn eine Geschichte vorbei ist, wird sie von den beiden Leitern gespiegelt. D.h. sie versuchen nacheinander, das soeben Gehörte auf einer anderen, tieferen Ebene wiederzugeben. Sie stellen bei jedem Teilnehmer vor allem auch den Bezug zur Initiation her: Was bedeutet das Erlebte gerade für diesen so wichtigen Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und des Erwachsenwerdens? In welcher Weise hat der WalkAway die Jugendlichen auf ihrem Weg zum Erwachsensein weiter gebracht? Und was bewirkt die Anwesenheit der Eltern für diesen ganzen Vorgang, der bei indigenen Völkern unter „Initiation“, d.h. Einweihung ins Erwachsensein, verstanden wird?

Die Jugendlichen hören alle sehr aufmerksam zu. Wann schon bekommen sie sonst ein so detailliertes, auf sie ganz persönlich zugeschnittenes und unmittelbar nach der Bewältigung ihrer Prüfung stattfindendes Feedback? Denn darin liegt der dritte und letzte Teil der gesamten Prüfung: Sich mit seiner Geschichte öffentlich zu zeigen und dann von den „Ältesten“ (den Eltern = den „Älteren“ und den Leitern) einen Spiegel zu bekommen, wie es um die eigene Persönlichkeit, um Stärken und Schwächen, um Charaktereigenschaften und Eigenheiten usw. steht.

Es erfordert wirklich Mut und Bereitschaft, sich in einer wenn auch geschützten Öffentlichkeit so in seinem Inneren „anschauen“ zu lassen. Davor schrecken viele Jugendliche heute zurück und gleichzeitig haben sie Sehnsucht danach. Aber wo sonst können sie so etwas erfahren? Im Gegensatz etwa zur Millionen-Show „Germany's next Topmodel“ mit Heidi Klum, in der im Hintergrund viel arrangiert, gesteuert und manipuliert wird und in der im Laufe der Serie fast alle Mädchen rausfliegen, weil gerade dies den Einschaltquoten dient, ist beim WalkAway jeder ein Sieger: Die Initianden haben sich der ganzen Prüfung mit ihren drei Hauptteilen gestellt und sich auch in ihrem Charakter öffentlich gezeigt. Dies verdient die volle Anerkennung der Erwachsenen – der Leiter, Assistenten und der Eltern.

Nachdem die Leiter ihre Rückmeldung ausgesprochen haben, geht der Sprechstab zu den anwesenden Familienmitgliedern. Diese sind durch die unerwartete Offenheit ihrer Kinder z.T. derart berührt worden, dass nun auch sie ihre Gefühle nicht zurückhalten können. Es gehört wohl zu den besonderen Augenblicken des Lebens, wenn sich Eltern genau an der Schwelle zum Erwachsenwerden ihrer Kinder ganz persönlich und im Rahmen dieser geschützten und begrenzten Öffentlichkeit äußern. Wann kommt dies sonst vor? In vielen Familien findet solch ein Gespräch vielleicht nie statt, weil es oft gar kein Bewusstsein für die Notwendigkeit des Übergangs zum Erwachsensein gibt.

Nun aber wird vieles bewusst. Mehrere Mütter und Väter weinen, weil sie genau spüren, dass ihre Söhne und Töchter nun nicht mehr die gleichen sind wie noch drei Tage zuvor, als sie nach Niederbayern aufgebrochen sind. Ja einigen wird erst jetzt klar, dass sie zwar schon lange Eltern sind, so einen Übergang in ihr eigenes Erwachsensein aber selbst noch nie so bewusst oder überhaupt noch nicht erlebt haben, wie er nun gerade bei ihren eigenen Kindern geschieht. Wann, wo und wodurch sind sie, die Eltern, denn eigentlich selbst erwachsen geworden? Angesichts des ungewöhnlichen Schrittes ihrer Kinder werden nun bei den Eltern nach und nach solche und ähnliche Fragen aufgeworfen. Bei vielen Eltern setzt anscheinend genau jetzt bei diesem „Council“ ein starker Bewusstseins- und Verarbeitungsprozess ein, bei einigen anderen hat er wohl schon beim vorbereitenden Elternabend begonnen:

 Eine Mutter sagt in einer sehr persönlichen Äußerung zu ihrer Tochter, dass sie immer Angst hatte, sie zu verlieren und dass sie deshalb vielleicht zu viel geklammert habe. Nun will sie die Tochter loslassen und ihr mehr Freiraum geben.

 Ein Vater kann es gar nicht fassen, seinen Sohn so offen, lebendig und kraftvoll zu erleben, während er doch sonst täglich nur viele Stunden vor dem Computer gesessen und sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen hat. Er ist sehr berührt, dass sein Sohn offensichtlich schon lange eine richtige Liebe zur Natur und zu deren Wesen hat. Aber erst jetzt ist dies bewusst und offensichtlich geworden. Denn der Sohn hat soeben fast zärtlich und sehr einfühlsam über die Tiere und Bäume im Wald gesprochen, denen er beim WalkAway begegnet ist. So hat der Vater seinen Sohn noch nie erlebt und es muss offen bleiben, ob dies mehr am Sohn oder am Vater lag.

 Eine Mutter sagt ihrer Tochter vor allen Anwesenden, dass sie einfach nur stolz auf sie ist, weil sie sich getraut hat, so etwas „durch zu ziehen“. Ja, die Mutter ist sogar etwas neidisch auf die Tochter, weil sie sich dieses Ritual zugetraut hat, das die Mutter selbst noch gerne machen möchte. Mutter und Tochter haben gleichermaßen ein Leuchten auf ihren Gesichtern. Bei der Tochter kommt diese öffentliche Würdigung voll und ganz an. Etwas Wichtiges geschieht gerade und alle können dabei zuschauen und es selbst miterleben. In diesem Moment bekommt man als Anwesender das Gefühl, dass die Tochter auf eine gleichwertige Ebene zur Mutter hinwächst und dass die Mutter dies bewusst zulässt und sogar noch fördert. Dass sie also im Beisein ihrer Mutter und mit deren ausführlichen Zustimmung einen großen Schritt macht auf ihrem Weg zur jungen Frau.

 Eine andere Mutter erklärt nun ihrem Sohn öffentlich, dass sie immer von seiner Kraft und seinem Mut überzeugt war und dass sie nun erst recht an ihn und an seinen Weg glaubt, egal was er nun machen wird. Der Vater ist nicht da. Darum sind die Worte der Mutter für den Sohn doppelt wichtig.

 Ein Vater sagt voll Stolz, dass er es einfach toll findet, dass sein Sohn nun so einen nachhaltigen und eigenständigen Bezug zur Natur bekommen hat. Denn die Natur ist eine hervorragende Lehrerin und sie kann viel zur Persönlichkeitsentwicklung und Reifung beitragen. Der Vater erkennt, dass der Sohn auf seinem Weg zu sich selbst gerade durch die Solozeit des WalkAway einen wichtigen Schritt weitergekommen ist. Durch seinen Sohn ist dieser Vater mit dem Thema „Initiation“ selbst nochmals näher und bewusster in Berührung gekommen.

Die Eltern nehmen den ganzen Prozess sehr ernst. Über drei Stunden lang - unterbrochen nur von einer fünfminütigen Pause -, kann man eine Stecknadel fallen hören. So etwas haben die meisten der hier Anwesenden noch nie erlebt.

Das Ritual betrifft das gesamte Familiensystem


Im Kreis geschieht Entscheidendes – zunächst bei den Initianden, für die diese Erfahrung wohl fundamental ist, dass sie nun öffentlich und von allen anwesenden Erwachsenen ernst genommen und nun selbst als Erwachsene behandelt und gesehen werden. Alle hören ihren Geschichten zu, alles wird für wichtig befunden, was sie zu sagen haben. Auch die Erfahrung, dass sie nun vor den gleichaltrigen Gruppenteilnehmern ihre persönliche Geschichte erzählen, ist ungewohnt, aber seit Beginn dieses WalkAway wohl nicht mehr ganz neu.

Gerade mit dem Erzählen ihrer Erlebnisse von der Solozeit verbinden sich die Initianden nun mit den anderen Teilnehmern auf eine viel tiefere Weise, als es sonst üblich und möglich wäre. Sie teilen ab jetzt eine Erfahrungsebene, die bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen oft gar nicht vorkommt, gerade wenn sie durch „Coolness“, durch Schutzmasken oder durch das Rollenverhalten in Clique, Gruppe oder Schulklasse ihre wirklichen Gefühle zu überspielen versuchen.

Ebenso wichtig ist aber, was jetzt zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern passiert. In diesen drei Stunden intensiver Aufmerksamkeit und Sensitivität klären sich manche Verhältnisse zwischen Jung und Alt und es werden neue „Beziehungsweichen“ gestellt. Damit wird die jetzt gerade stattfindende Zusammenkunft selbst zum Ritual. Dadurch, dass alle Eltern ihre Kinder in ihrem Feedback bestätigen und anerkennen, weil diese etwas gewagt haben, was sie sich vielleicht selbst gar nicht zutrauen würden, erfahren manche der Teilnehmer eine fundamentale Bestärkung wie vielleicht noch nie zuvor. Schiefe Rollenverständnisse zwischen Eltern und Kindern werden zurecht gerückt oder korrigiert. Indem die Eltern nun in den Geschichten ihrer Kinder und in der mutigen und offenen Art, wie diese von ihnen vorgetragen werden, erkennen können oder müssen, dass ihre Kinder nun „größer“, d.h. reifer geworden sind, können sie diese mehr loslassen und zumindest ein Stück weit ins Erwachsensein entlassen.

Einige Eltern artikulieren dies auch ganz klar und offen vor der Gemeinschaft. Sie wollen ihren Kindern in Zukunft mehr Freiheit geben, weil sie spüren, dass diese ab jetzt diesen Freiraum auch nützen können und zu mehr Selbstverantwortung fähig sind. Für einige Eltern ist diese Erkenntnis ziemlich neu und elementar. Der Kreis, in dem der ganze Vorgang stattfindet, gibt einerseits Schutz und Sicherheit, so dass sich die Jugendlichen ihre Geschichten auch offen erzählen trauen. Er vermittelt aber auch eine unerwartete Dichte und Kraft, sowie eine starke Verbindlichkeit.

Was hier und jetzt währen dieser „Ratsversammlung“ ausgesprochen wird, hat rituellen Charakter und damit Gültigkeit und kann wohl niemals mehr ganz zurück genommen werden. Die Naturvölker, in deren Tradition die heutige Veranstaltung zumindest in ihrem Grundansatz stattfindet, wussten um die Kraft des Kreises und der gelenkten Kommunikation im „Council“ mit dem Sprechstab. Diese Atmosphäre wird nun für alle erlebbar – ganz selbstverständlich und wie aus einem über Jahrtausende tradierten „Urwissen“ heraus.

Schließlich geschieht auch mit und in den Eltern selbst etwas Wichtiges und einige von ihnen sprechen dies auch offen aus: Wie ein Film läuft in diesem Augenblick ihre eigene Jugend nochmals vor ihnen ab. Was hat sie eigentlich initiiert, da es ja damals noch keine offiziellen Rituale dafür gab, die den Übergang ins Erwachsenenalter markiert hätten? Wie und wodurch sind sie selbst erwachsen geworden? Ja sind sie denn überhaupt richtig erwachsen?

Auch noch ein anderer Aspekt tritt auf: Einige Elternpaare halten sich an den Händen, weil sie so berührt und ergriffen von ihren Kindern und deren Erzählungen sind. Mütter und Väter weinen. Sie erleben in diesem Moment ganz intensiv ihre gemeinsame Elternschaft und diese ist wohl eine der am stärksten verbindenden Kräfte in einer Partnerschaft. Kann es sein, dass ihr Kind schon so groß und erwachsen geworden ist, nachdem sie ihm doch noch „vor kurzem“ die Windeln gewechselt, sie nachts in den Schlaf gewiegt, sie eingeschult oder zur Erstkommunion begleitet haben?

Dieser längere Zeitraum läuft bei einigen Eltern nun wie im Schnelldurchlauf ab. Ihnen wird gerade in dieser Stunde so richtig bewusst, dass soeben ein Lebensabschnitt unwiderruflich zu Ende geht – die Zeit des Kindseins ihrer Kinder und damit verbunden auch die bisherige Art ihrer Elternrolle. Sie werden ab jetzt möglicherweise ihr Leben neu ausrichten und gestalten müssen, wenn ihre Kinder keine Kinder mehr sind. Das und Ähnliches geht vielen Eltern nun durch den Kopf. Sie spüren, dass mit diesem Ritual unweigerlich eine wichtige Veränderung geschieht und dass sie gleichzeitig Betroffene und Beobachter in einem sehr fundamentalen Prozess sind: dem Übergang ihrer Kinder in eine neue Lebensphase mit Konsequenzen für alle Beteiligten. Dieser tiefe psychologische Vorgang bei den Kindern wird unvermeidlich gleichzeitig auch eine mehr oder minder starke Veränderung im ganzen Familiensystem nach sich ziehen.

Anker für die Zeit danach - Initiationszeichen


Die Leiter und Assistenten sind bei dem ganzen Prozess letztlich „nur“ eine Art von Rahmengeber und Katalysator. Das eigentliche Geschehen selbst spielt sich in und zwischen den Teilnehmern und deren Eltern ab. Für den WalkAway ist der ganze Vorgang zwischen Eltern und ihren Kindern ein fundamentaler Bestandteil, daher ist dieser dritte und letzte Teil ebenso wichtig wie das Kernritual (Solozeit) selbst. Um die Bestätigung und Anerkennung auch äußerlich auszudrücken, bekommt jeder einzelne der Initianden nach seiner Geschichte und nach allen „Spiegeln“ und Rückmeldungen von Leitern und Eltern ein wundervolles T-Shirt mit der Aufschrift „WalkAway“ und der Jahreszahl. Auf der Rückseite ist ein grüner Schlangenkopf auf schwarzem Grund zu erkennen. Auch hierin liegt ein tieferer Sinn: Die T-Shirts haben den Charakter einer „Initiationskleidung“.

Wenn die jungen Teilnehmer nun diese T-Shirts anlegen, dann ziehen sie sich damit symbolisch gleichzeitig eine neue Haut - die Haut des Erwachsenen - über, während sie in der letzten Nacht die Haut ihrer Kindheit - die Kinderrolle, viele ihrer Kindergefühle - in der Wildnis abgestreift und zurück gelassen haben. Und dafür kann ja – wie weiter oben bereits erwähnt – gerade die Schlange ein sehr gutes Symbol sein: Denn sie häutet sich ebenfalls. „Wenn die Kindheit stirbt und der Erwachsene geboren wird“ – so lautete einmal der Titel einer Radiosendung des Bayerischen Rundfunks. Dieses Motto ist nun für die Teilnehmer des Rituals des WalkAway mehr oder weniger Wirklichkeit geworden.

Nach einigen wichtigen Hinweisen für das Verhalten in den nächsten Tagen und Wochen wird die Runde im Kreis beendet. Es ist gut, dass nun noch einige Wochen schulfrei sind. So haben die Initianden genügend Zeit, all die intensiven Erfahrungen während der Vorbereitung, der Solozeit und des heutigen „Rituals in der Gemeinschaft“ besser zu verarbeiten und zu verdauen. Nun aber muss gefeiert werden: Da heute ein wundervoller, sonniger Tag ist, soll der WalkAway mit einem gemeinsamen Essen an einer langen Tafel im Freien beschlossen werden. Dazu haben die Eltern ein üppiges Buffet mitgebracht. Es ist für alle Beteiligten wichtig, nach der hohen Intensität der vergangenen Tage und Stunden nun das „Initiationsritual“ in einer entspannten, lockeren Atmosphäre in der Gemeinschaft ausklingen lassen zu können.

Ab ca.15.00 Uhr fahren die Eltern und Familienangehörigen mit ihren frisch initiierten „jungen Erwachsenen“ zurück in ihre Heimat. Auch das Leitungsteam nimmt Abschied, nachdem alles aufgeräumt und bei einer Tasse Kaffee die wichtigsten Eindrücke und Erkenntnisse ausgetauscht worden sind. Intensive Tage gehen zu Ende. Daher brauchen auch die Initiations-Mentoren nun erst einmal den nötigen Abstand von allem. Aber sie sind sehr erfüllt von dem Geschehen, das hier in den letzten drei Tagen stattgefunden hat. Alle haben das Gefühl, dass sich der Aufwand voll und ganz gelohnt hat. Die Jugendlichen haben mit ihrer Kraft, Ehrlichkeit und Offenheit überzeugt und sie haben den Leitern damit das größte Geschenk gemacht. Auch die Eltern konnten mit ins Boot geholt werden und dies ist nicht selbstverständlich. Es hätte auch schief gehen können. Ohne Eltern wäre das ganze Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. So aber haben sie sich auf das Ritual ebenso eingelassen wie ihre Kinder. Wou!

An dieser Stelle soll jedoch einem Missverständnis vorgebeugt werden. Sind diese Jugendliche durch den WalkAway in nur drei Tagen erwachsen geworden, d.h. in den Lebensabschnitt des Erwachsensein hinüber gegangen? Ja und nein. Das Erwachsensein, ja das Leben überhaupt, ist ein lebenslanger Prozess, in dem man sich im Idealfall immer weiter entwickelt und nicht zuletzt durch die Erfahrungen, die das Leben mit sich bringt, auch immer reifer wird und seinen Lebenssinn mehr und mehr zu erschließen vermag. Initiation geschieht sich auch „durch das Leben selbst“. Insofern muss obige Frage natürlich mit einem „Nein“ beantwortet werden.

Dennoch sollte das Ritual des WalkAway sehr gewürdigt werden. Mit dem Bestehen der Abiturprüfung hat man auch noch keinen eigenen Beruf erlangt, wohl aber eine wichtige Vorraussetzung dafür geschaffen. Das gleiche gilt für eine Lebensprüfung wie die beim WalkAway, die gleichsam den Beginn eines Prozesses und damit zumindest einen wesentlichen Schritt beim Übergang von der Adoleszenz zum Erwachsensein darstellen kann.

Wie in einem Überblick oder in einer Vision sollte ein solches Ritual bereits erahnen und zumindest ansatzweise spüren und erleben lassen, was zum Erwachsensein gehört. Dies gibt der WalkAway anscheinend durchaus her, wie die nachfolgenden Äußerungen der Jugendlichen und eines Vater zeigen. In dieser Hinsicht kann obige Frage also mit einem klaren „Ja“ beantwortet werden.

Persönliche Fragen oder Themen, die sich durch ein oder im Zusammenhang mit solch einem allgemeinen Ritual wie dem des WalkAway erst später zeigen können, gehören durchaus zur Wirkung dieses Rituals, müssen anschließend aber individuell weiter bearbeitet werden. Daher darf mit Fug und Recht behauptet werden: Ein gelungener WalkAway kann für die weitere Persönlichkeitsentwicklung eines Jugendlichen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft

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