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Vorwort

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40 Jahre lang unterrichte ich am Gymnasium. In den Fächern Religion und Physik habe ich bei tausenden von Kindern und Jugendlichen versucht, Wissen weiter zu geben. Was mir dabei aber noch wichtiger zu bemerken ist: Ich habe hunderte und tausende von Mädchen und Jungen bei ihre Persönlichkeitsentwicklung und Charakterbildung begleiten dürfen – vor allem bei ihrem Übergang vom Kindsein in die Pubertät und dann von der Adoleszenz in die Volljährigkeit. Gerade dieser zweite Übergang, der bei manchen indigenen Völkern noch immer mit bewussten und aufwendigen Ritualen begangen und gefeiert wird, hat mich zunehmend interessiert. „Initiation“ heißt dieser Schritt von der Jugendzeit ins Erwachsensein, d.h. bewusstes „Eintreten“ in den neuen Lebensabschnitt und in die Welt der Erwachsenen.

Ich musste immer mehr erkennen, dass es in unserer aufgeklärten, westlichen, naturwissenschaftlich-technisch ausgerichteten Gesellschaft keine oder zumindest kaum noch geeignete Rituale gibt, mit denen das Erwachsenwerden vollzogen und gefeiert werden könnte. Das Bewusstsein, dass diese notwendig sind, ist in unserer Gemeinschaft immer mehr verloren gegangen. Daher gibt es eine zunehmend größer werdende Anzahl von offiziell längst Volljährigen, die sich auch mit 40 Jahren und mehr im Grunde immer noch wie unreife Jugendliche verhalten. Wie soll dann aber das Erwachsenwerden in einer „unreifen Gesellschaft“ für unsere jungen Leute zu schaffen sein, wenn zunehmend echte Vorbilder und vor allem entsprechende Rituale fehlen?

Parallel zu meiner alltäglichen Arbeit als Lehrer habe ich mich seit vielen Jahren mit verschiedenen Phänomenen auseinander gesetzt, die immer wieder auch unsere Medien beherrschen: Gewalt von Jugendlichen, „Koma-Saufen“ schon bei 13-Jährigen, tödliche Autorennen von jungen Volljährigen, gefährliche Mutproben, Computersucht, Orientierungslosigkeit, Schul- und Arbeitsverweigerung auch noch bei älteren Jugendlichen usw...

Diese Trends werden zwar allerorts laut beklagt und immer wieder wird nach den Ursachen dafür gesucht; ich habe aber zunehmend den Eindruck bekommen, dass sich die Experten selbst nicht so ganz im Klaren darüber sind, warum sich Jugendliche so verhalten und welche Maßnahmen man als Verantwortliche der Gesellschaft dagegen ergreifen sollte. Nicht anders erging es mir lange Zeit selbst, als ich versuchte, das Verhalten eben der jungen Menschen zu verstehen, denen ich täglich in der Schule begegnete. Mit den Schlagwörtern „Pubertät“, „Stress in den Familien“ oder mit „Computersucht“ wurde vieles bei Schülerinnen und Schülern zu erklären versucht. Das erschien mir zu pauschal und hat mich immer weniger bei der Deutung der vielfältigen Probleme befriedigt, mit denen es Jugendliche und ihre Eltern heute zu tun haben.

Dies änderte sich grundsätzlich erst, als ich anfing, mich selbst anders wahrzunehmen und zu verstehen.1992 hatte ich einen fast tödlichen Autounfall. Ich bekam dabei einen furchtbaren Schlag ab, der mich innerlich aufwachen ließ und mich langsam zu einem anderen Denken führte. Etwa acht Jahre später gab es zwei Ereignisse, die mich nachhaltig beeinflusst und verändert haben. Zunächst stieß ich über einen alternativen Sportmediziner auf das Ritual der „Visionssuche“ der nordamerikanischen „School of lost borders“. Dabei gehen Männer und Frauen für vier Tage und Nächte ohne Essen, ohne Zelt und ohne jeden Kontakt zu anderen alleine in die Wildnis hinaus, um sich selbst zu erfahren und zu finden. Kurze Zeit später traf ich auch noch auf den afrikanischen Männerinitiator und Schamanen Malidoma Patrice Somé. Durch diese beiden Begegnungen gelang es mir, den Autounfall und mein eigenes bisheriges Leben besser zu verstehen und danach befriedigend zu deuten.

In der Folge wurde mir nicht zuletzt wegen der genannten Einflüsse immer mehr bewusst, was die tiefere und eigentliche Ursache für all die Probleme und Phänomene ist, mit denen es Jugendliche, deren Eltern und unsere Gesellschaft als Ganzes heute zu tun haben: Wir Erwachsenen bieten unseren jungen Leuten, die doch einmal unsere Gesellschaft tragen sollen und daher unsere Zukunft darstellen, keine geeigneten Prüfungen und Rituale an, durch die sie ihre Kraft, ihre Fähigkeiten, ihre Verantwortung und ihren Mut zeigen und womit sie von den Erwachsenen die Anerkennung als nun ebenfalls erwachsene Mitglieder unserer Gesellschaft bekommen könnten.

Es fehlen echte und adäquate Initiationsrituale, mit denen die Jugendlichen vor den Augen der Erwachsenen den Übergang in die neue Lebensphase rituell begehen und bewerkstelligen könnten. Zugespitzt könnte man es auch so formulieren: Unsere Gesellschaft krankt vor allem daran, dass es für die junge Generation keine Initiation und keine geeigneten Initiationsrituale gibt, d.h. Übergangszeremonien von der Jugend ins Erwachsensein. Fallen solche Prüfungen aus, versuchen gerade Jungen nicht selten durch abenteuerliche und manchmal sehr gefährliche Mutproben wie z.B. mit den oben erwähnten Autorennen, durch „Koma-Saufen“, durch Schlägereien usw. ihre vermeintliche Kraft, ihren Mut und ihr Draufgängertum unter Beweis zu stellen. Dahinter steckt im Grunde das fundamentale Bedürfnis, die in der Pubertät neu in sich entdeckte Kraft und Stärke auszudrücken, sie vor „den“ bereits Erwachsenen zu zeigen und sie für die Gemeinschaft fruchtbar zu machen.

Dieses große Potential wird in unserer westlichen Gesellschaft meist viel zu wenig oder überhaupt nicht genutzt, weil das Bewusstsein für die Notwendigkeit von „Initiation“ und für solche Initiationsrituale weitgehend verloren gegangen ist. Das hat bisweilen fatale Konsequenzen, etwa wenn die frische, z.T. ungestüme Kraft von Jugendlichen nicht kanalisiert und offiziell anerkannt wird. Dann kann sie zu schlimmen Fehlentwicklungen führen und sich ins Gegenteil verkehren. Dieser Band I („Übergangsrituale“) will sich mit dieser Thematik auseinander setzen – mit dem Fehlen von Initiationsritualen in unserer modernen westlichen Gesellschaft und mit den umfangreichen Folgen daraus.

In Kapitel 1 soll jedoch zunächst von einem konkreten positiven Beispiel näher berichtet werden, bei dem zehn 16- bis 18-jährige Jugendliche den Mut finden, zu einem sogenannten „WalkAway“, d.h. zu einer Art „Visionssuche im Kleinen“, aufzubrechen. Für 24 Stunden gehen sie fastend, alleine und ohne Zelt hinaus in die Natur, um sich mit sich selbst zu konfrontieren und auch die Nacht allein draußen im Wald zu überstehen. Wenn sie dann wieder zurückkehren und von ihren Eltern empfangen werden, sind die Jugendlichen meist deutlich verändert und reifer geworden.

In Kapitel 2 werden der Begriff „Initiation“ näher untersucht sowie zehn Thesen aufgestellt, die die Situation heutiger Jugendlicher plakativ umschreiben und die Notwendigkeit bewusster Übergangsrituale betonen.

Das umfangreiche Kapitel 3 befasst sich dann mit einer Reihe von Phänomenen und Problemen von Jugendlichen unserer Zeit, die alle als „missglückte Versuche von Selbstinitiation“ gedeutet werden können.

In Kapitel 4 soll der bereits erwähnte afrikanische Schamane und Buchautor Malidoma Somé zu Wort kommen. Gerade durch seine abenteuerliche Lebensgeschichte, sowie durch die Erfahrung eines aufwendigen Initiationsrituals in seinem Stamme, hat er Wesentliches zur Thematik „Initiation“ zu sagen.

In Kapitel 5 soll der Versuch unternommen werden, insgesamt acht „Kriterien des Erwachsenseins“ herauszuarbeiten und zu erläutern; dabei können Mythen und Märchen wesentliches „Initiationsmaterial“ liefern.

Kapitel 6 ist einer autobiographischen Betrachtung gewidmet: Es soll darum gehen, wie ich selbst um meine eigene Initiation zu einem wirklich Erwachsenen ringen musste, was der Autounfall für mich in diesem Zusammenhang bedeutete und wie gleichzeitig auch meine Aufgabe als „Initiations-Mentor“ immer mehr Konturen annahm.

In Kapitel 7 soll dann untersucht werden, ob es noch „Spuren von Initiationsritualen“ in unserer modernen westlichen Gesellschaft gibt und wie weit diese vielleicht für echte, kraftvolle und für unsere Jugend adäquate „Prüfungen zum Erwachsenwerden“ nutzbar gemacht und verändert werden könnten. Kann z.B. die Führerscheinprüfung als solches Ritual dienen?

Schließlich sollen in Kapitel 8 eine Reihe von kreativen „Selbstversuchen zur Initiation“ aufgezeigt werden, die einzelne Jugendliche eher instinktiv ergreifen, um dadurch zumindest einige Elemente der wahrlich wertvollen „Trophäe echten Erwachsenseins“ zu erringen.

In einem kurzen Ausblick soll dann noch auf den Band II verwiesen werden. Dieses zweite Buch geht der Frage nach, welche konkreten Rituale für Jugendliche in unserer Gesellschaft entwickelt werden könnten, um den Übergang ins Erwachsenwerden zu erreichen. Mythen und Märchen aus unserem europäischen Kulturkreis können uns dabei sehr inspirieren. Denn die meisten dieser seit vielen Generationen überlieferten Geschichten enthalten immer das gleich Grundmotiv: die „Heldenreise“.

Ein Held oder eine Heldin verlassen ihr bisheriges gewohntes Leben, gehen alleine hinaus in die Welt, müssen sich dort vielfältigen Gefahren und Prüfungen unterziehen und kehren dann verändert und gestärkt zurück in ihre Gemeinschaft. Dies ist aber genau der Grundstoff für den Prozess des Erwachsenwerdens, den auch heute jeder Jugendlicher bewältigen muss. Der zweite Band trägt daher den Titel: „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen“ (ISBN-Nr.: 978-3-86991-409-1. 2. Auflage Epubli Berlin, bereits auch als eBook erschienen ). Hinweise in diesem Buch auf Band II erfolgen mit der Abkürzung „Band II (HR)“.

Noch eine Vorbemerkung: Dieses Buch will keine wissenschaftliche Arbeit darstellen. Es ist vielmehr geprägt durch viele persönliche Erfahrungen eines Lehrers mit Jugendlichen über fast 40 Jahre hinweg und motiviert durch eine Erkenntnis, die mitunter leidenschaftlich vorgetragen wird: Unsere Jugendlichen brauchen von uns Erwachsenen geeignete Inititiationsrituale, um ihren Übergang ins Erwachsensein meistern zu können. Auch viele eigene Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Thema „Initiation“ sind eingeflossen.

Ich bitte den Leser um Nachsicht, wenn Wiederholungen auftreten (Der „Prediger“ kommt durch!) oder wenn gelegentlich der Eindruck entstehen sollte, dass zu vereinfacht argumentiert wird. Dies soll vielmehr dem Grundanliegen dieses Buches gewidmet sein, unsere Jugendlichen bei ihrem bisweilen schwierigen und langwierigen Prozess des Erwachsenwerdens zu begleiten und ihnen beizustehen. Diese Initiations-Thematik ist auch zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung im Jahre 2011 noch immer genau so aktuell und brisant.

Olching im Sommer 2011 und Kühbach im Februar 2021

Peter Maier

Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft

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