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(2) Solozeit

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Das Kernritual beginnt


Um 5.30 Uhr am Morgen des dritten Tages wird mit einer Trommel geweckt; nach einer kurzen Morgentoilette finden sich die Jugendlichen bei Sonnenaufgang nach und nach mit Rucksack, Schlafsack und Regenplane am Ende des offenen Grundstücks ein. Ihren Plastikkanister mit vier oder fünf Litern Wasser haben sie schon am Tag zuvor an ihren ganz persönlichen Ritualplatz gebracht, wo sie den heutigen Tag und die bevorstehende Nacht verbringen werden. Kurz nach dem Aufstehen haben manche die Möglichkeit genutzt, ein letztes Mal mit ihren Eltern zu telefonieren. Jetzt müssen sie ihre Handys abgeben. Es herrscht eine gespannte Aufmerksamkeit, ja es liegt eine würdevolle, fast feierliche Stimmung in der Luft.

Nun steht das eigentliche Kernritual des WalkAway unmittelbar bevor: Die Jugendlichen werden gleich für 26 Stunden alleine, ohne Essen, ohne Zelt und auch ohne die gewohnten Gegenstände wie Uhr, Handy, MP3-Player usw., ohne die ihr sonstiges Alltagsleben undenkbar wäre, in die „wilde“ Natur hinaus geschickt – ganz sich selbst überlassen. Sie werden über 40 Stunden fasten, denn die letzte Nahrung wurde ja schon am Tag zuvor mit dem Abendessen eingenommen. Und auch nach ihrer Rückkehr werden sie nicht gleich zu Essen bekommen. Was geht den jungen Leuten wohl durch den Kopf? Haben sie Angst vor dem bevorstehenden Schritt? Oder sind sie eher gespannt und neugierig, was mit ihnen geschehen wird, wenn sie ganz allein und „unsichtbar“ draußen in der Natur sein werden? Wie werden sie wohl die Nacht überstehen und wie den Hunger? Und vor allem: Werden sie Langweile erleben, wenn die gewohnten Medien, Geräte und Kontakte fehlen, mit denen sie sonst ihren Alltag gestalten?

Schon am Tag zuvor ist aus den Äußerungen nach den Naturübungen klar geworden, dass sich 16- bis18-jährige Jugendliche sonst eben nie allein im Wald aufhalten oder einfach nur so durch die Landschaft streifen. Die Leiter haben erfahren, dass dies keiner von den Teilnehmern macht, auch Jungen nicht; es wäre irgendwie ohne Sinn für sie und man wüsste gar nicht, warum man dies als Jugendlicher tun sollte. Andererseits wurde offenbar, wie elementar die Natur mit ihrer Schönheit, ihrer „grünenden Kraft“ und mit ihrer Magie auch auf Jugendliche in heutiger Zeit wirken und sie faszinieren, packen und in ihren Bann ziehen kann.

Das Ritual des WalkAway ist anscheinend in seiner Grundstruktur so alt und bewährt, dass es nicht nur Mitglieder indigener Völker, sondern ebenso „moderne Westler“ des 21. Jahrhunderts in nicht einmal zwei Tagen voll erfassen und durchdringen kann. Es scheint gerade so, als ob es in dieser kurzen Zeit gelungen ist, das Wilde, Ursprüngliche und Natürliche, das unter einer oberflächlichen Schicht von städtischer Kultur und rational-technischer Prägung in jedem der Jugendlichen geschlummert hatte, nun in ihnen aufzuwecken und zu aktivieren. Bei allen Teilnehmern ist eine sehr gespannte Aufmerksamkeit und der klare Wille zu spüren, nun alleine und ganz bewusst „hinaus“ gehen zu wollen. Etwaige Ängste vor dem Unbekannten sind zumindest im Augenblick bei allen gewichen.

Abschied am Steinkreis


Um 6.00 Uhr am Morgen versammeln sich alle um den am Tag zuvor gelegten Steinkreis mit den vier Himmelsrichtungen. Die Leiter und Assistenten versichern den Jugendlichen nochmals, dass während der ganzen Dauer der Solozeit immer mindestens einer von den Mentoren im Seminarzentrum Wache halten wird. Sie wünschen allen die Kraft und den Mut für das nun beginnende Kernritual, bei dem jeder Jugendliche auf sich allein gestellt sein wird.

Das Leitungsteam wird die Energie für die jungen Leute halten, die jetzt gleich ganz zu sich in das Alleinsein gehen werden. Vielleicht werden sie sich dabei einsam fühlen; oder aber sie dürfen die Erfahrung vom „All-eins-Sein“ mit der Natur und mit all den Lebewesen in ihr machen. Denn diese Wortbedeutung steckt ja auch im „Alleinsein“. Zur Stärkung und um ein Gefühl von Verbundensein auch während der Solozeit zu vermitteln, singen alle noch einmal ein in den vergangenen zwei Tagen gelerntes Lied. Es soll ein emotionaler Anker sein, wenn es den Initianden in der Einsamkeit vielleicht schwer mit sich allein werden sollte: „Der Fluss geht auf die Reise, stetig und leise...“

Nun verabschieden sich die Jugendlichen von einander und von den Leitern. Dann tritt jeder Teilnehmer einzeln in den Steinkreis, der ihnen für einen langen Augenblick etwas sehr Feierliches, ja Heiliges, vermittelt. Dort wird er von einem der beiden Leiter, der auch die Rolle eines „Ritualmeisters“ übernommen hat, mit Salbei geräuchert; jeder der Initanden soll für die Zeit „da draußen“ symbolisch in eine Schutzaura gehüllt werden. Der Mentor spricht über jedes Mädchen und über jeden Jungen einen stärkenden Segen und durchschneidet anschließend - wiederum symbolisch - mit einer Adlerfeder die unsichtbaren Bindungen zu allen Menschen, zur Familie, zum Freundeskreis, zu den Leitern und auch zu den anderen Mitgliedern dieser Gruppe. Dieses Ritual soll den Jugendlichen in sehr markanter Form die tiefere Bedeutung des jetzt bevorstehenden Schrittes vermitteln: Erwachsen werden kann man nur im Alleinsein, wenn man ganz auf sich gestellt ist und wenn in einem die Kindheit stirbt.

Danach geht der Initiand ganz bewusst wieder aus dem Kreis heraus und gilt ab jetzt für 26 Stunden als „unsichtbar“ für alle Menschen. Falls ihm während des langen Tages jemand aus der Gruppe oder aus der Bevölkerung der umliegenden Gehöfte begegnen sollte, wird er ausweichen und sich zurückziehen, sich also rechtzeitig „unsichtbar“ machen. Das Abenteuer der Solozeit hat begonnen.

Als der letzte der Jugendlichen aus dem Sichtkreis verschwunden ist, stellen sich die vier Mitglieder des Leitungsteams selbst nochmals um den Steinkreis und bitten – jeder in seiner eigenen Glaubensvorstellung oder entsprechend seinem eigenen Weltbild – Gott und alle guten Geister dieses Ortes um Schutz, Kraft, Erfolg und Segen für die ihnen anvertrauten Initianden. Die Leiter sind überzeugt davon, dass diese guten Wünsche und Bitten sowohl die Seelen der Jugendlichen erreichen als auch von „den Göttern“ oder dem Universum gehört werden.

Die Leiter halten die Stellung


Kurze Zeit später setzt ein Regenschauer ein: Ein Gewitter ist im Anmarsch. Den Jugendlichen wird wohl nichts erspart bleiben. Nun sind sie wirklich allen in dieser Gegend um diese Jahreszeit denkbaren „Kräften der Natur“ ausgesetzt. Sie werden eine Ahnung von den Elementen und von der Kraft, die von ihnen ausgeht, bekommen. Sie werden Wind und Regen, Sonne, Wärme und Kühle und die Dunkelheit der Nacht erleben, sowie die unterschiedlichen Aspekte und Erscheinungsweisen der Natur mit ihren Feldern, Wiesen, Wäldern und den vielfältigen Lebewesen darin hautnah spüren und erfahren.

Dies ist ja auch ein Sinn dieser Übung, dieses Rituals. Nur wenn sich die Initianden den Elementen in der Natur wirklich aussetzen und die gewohnten Sicherheiten aufgeben - insbesondere die drei Sicherheiten der Nahrungsaufnahme, der Gemeinschaft und die einer festen Behausung -, können sie zu ihren eigenen inneren Kräften, Gefühlen, ja zu ihrer eigenen Seele mit all ihrem Bilderreichtum und ihrer Symbolkraft vordringen, weil sie nun durch nichts mehr abgelenkt werden.

Es geht also um eine tiefe „rechtshirnige“, d.h. intuitive und gefühlsorientierte Selbsterfahrung, und dazu ist der WalkAway mit der Solozeit als dem eigentlichen Kern des gesamten dreiteiligen Rituals ein sehr erprobtes, uraltes und geeignetes Mittel. Für die jungen Teilnehmer ist es wichtig, in diesem von den Leitern geschaffenen Rahmen, den so wichtigen Übergang vom letztlich behüteten Jugendlichen zum selbständigen Erwachsenen zu schaffen. Zumindest aber sollen sie ein Gefühl dafür bekommen, was es heißt, allein auf sich gestellt zu sein; denn dies gehört zum Erwachsensein einfach dazu.

Die Mitglieder des Leitungsteams können sich jetzt erst einmal entspannen. Denn auch für sie, die die Verantwortung tragen und mit solch einem Prozess, in den die jungen Leute nun hineingegangen sind, Erfahrung haben, war vieles sehr aufregend und berührend. Besonders der intensive Vorgang der Verabschiedung, bei dem noch einmal ganz bewusst eine sehr enge Verbindung zu den Teilnehmern aufgebaut wurde, um sie in ihrem Vorhaben zu bestärken, hat Klarheit und volle Präsenz verlangt und Kraft gekostet.

Bei einem ausgiebigen Frühstück anschließend wird der Tag besprochen, der vor ihnen liegt. Vor allem muss geklärt werden, wer sich zu welcher Zeit im oder vor dem Tagungsraum aufhält. Denn dies ist der Ort, an den die Jugendlichen zurückkommen können, wenn sie ihren Prozess unterbrechen sollten oder sogar beenden müssten. Für diesen Fall muss unbedingt jemand von den Leitern oder Assistenten präsent sein, um die Initianden auffangen zu können. Vor allem in der Nacht ist es nicht auszuschließen, dass der eine oder andere Teilnehmer vielleicht aufgrund unerwarteter Ängste die Solozeit vorzeitig abbrechen muss. Die Assistentin erklärt sich bereit, die Nacht über im Seminarraum zu wachen.

Etwa um 13.30 Uhr Mittag hat der Regen aufgehört, auch das Gewitter hat sich wieder verzogen. Am Nachmittag wechseln sich Wolken und Sonnenschein ab, aber der Abend wird schön. Glück für die mutigen Teilnehmer da draußen im Wald.

Eine letzte Sicherheit gibt es nicht


Für ein Mädchen war es wichtig, den Ort für ihre Solozeit im Wald ganz in der Nähe des „Basislagers“ zu wählen, vielleicht nur fünf Gehminuten entfernt. Das gibt ihr die Sicherheit, die sie für ihren Prozess braucht. Alle anderen Initianden befinden sich jenseits der Asphaltstraße in einer hügeligen, stark bewaldeten Landschaft. Sie sind alle ein bis zwei Kilometer vom Zentrum entfernt; sie haben Trillerpfeifen dabei, um sich in einem Notfall bemerkbar machen zu können. Aber auch nur dazu darf die Pfeife verwendet werden. Als weitere Sicherheitsmaßnahme dient das bereits erwähnte sogenannte „Buddy“-System: Jeder Teilnehmer hat einen Ritualpartner, der sich mit seinem „Lager“ in der Nähe – d.h. nur ca. 300 bis 400 Meter entfernt - befindet, auch wenn er unsichtbar bleibt. In einem Notfall kann er aber reagieren, d.h. bei dem Betroffenen nachschauen und dann aus dem Zentrum sofort Hilfe holen.

Eine allerletzte Sicherheit gibt es jedoch nicht, das ist allen bewusst. Denn dies ist ja gerade Teil, Sinn und Inhalt der Prüfung: Dass jetzt vielleicht zum ersten Mal im Leben Mami oder Papi eben nicht sofort erreichbar sind oder etwa im Form der Ritual-Leiter hinter dem nächsten Baum stehen und aufpassen. Nur wenn ein Rahmen des wirklichen Allein- und Ausgesetzt-Seins geschaffen worden ist, kann die Übung erst ihre ganze Kraft und ihren vollen Sinn entfalten: auf sich zurück geworfen zu werden und ganz auf sich allein gestellt zu sein. Diese Erfahrung ist ja gerade ein Symbol für das Erwachsensein. Denn für einen Erwachsenen gibt es Situationen und Umstände, in denen niemand mehr außer ihm selbst Entscheidungen treffen muss und für die er dann auch ganz alleine verantwortlich ist. Und genau dieser Zustand wird sehr symbolisch für einen langen Tag und für eine vielleicht noch längere Nacht mit der Solozeit des WalkAway für die Jugendlichen hergestellt.

Bei dem Informationsabend, der etwa sechs Wochen zuvor verpflichtend für die Eltern aller Interessenten des WalkAway stattfand, ging es auch um exakt diese Sicherheitsfragen für das in unserem westlichen Kulturkreis noch weitgehend unbekannte Initiationsritual. Einige Eltern hatten – aus verständlichen Gründen – Angst, vor allem die Eltern der Mädchen. Es war die Aufgabe von den dabei anwesenden Leitern, die Eltern von der Sinnhaftigkeit und von dem soliden Rahmen des Projektes zu überzeugen.

Dabei wurde natürlich die Gretchenfrage „Wer fürchtet sich vor dem wilden, unbekannten, schwarzen Mann?“ aufgeworfen. Es ging um die berechtigte archaische Urangst vor der Schutzlosigkeit und dem Ausgesetztsein „allein im dunklen Wald“, die vor allem jedes Mädchen und jede Frau als Grundgefühl wohl gut kennt. Nachdem die Eltern mit ihren Befürchtungen, ihren Meinungen und mit ihren konkreten Rückfragen ausführlich zu Wort gekommen waren, konnten sie von dem Ritual im Allgemeinen und dem Sicherheitssystem im Besonderen überzeugt werden, so dass schließlich alle Eltern ihre Zustimmung zu dem WalkAway ihrer Kinder gaben.

Vor allem konnte ein Vergleich mit der in vielen Schulen durchgeführten Schul-Skifahrt überzeugen, bei der es durchaus sein kann, dass der eine oder andere Schüler mit kleineren oder auch größeren „Blessuren“ zurückkehrt. Weil so eine Schulfahrt aber vielleicht seit Jahrzehnten (v.a. an bayerischen Schulen) fest installiert ist, haben die Eltern eher wenig Bedenken und nehmen die Möglichkeit in Kauf, dass ihr Sohn oder ihre Tochter mit einer Fleischwunde, einem Beinbruch oder sogar einem Bänderriss nach Hause kommen.

So kamen in einem mir bekannten Gymnasium von den 80 Jungen und Mädchen, die zur Schul-Skifahrt aufgebrochen waren, nach einer Woche nur 60 wirklich unversehrt zurück. 20 von ihnen hatten deutliche Blessuren und Gehirnerschütterungen erlitten, ein Junge kam mit einem Bänderriss zurück, ein Mädchen mit einem gebrochenen Schienbein...

Weil der WalkAway aber noch nicht (so) bekannt ist und weil es ja tatsächlich wie bei allen Outdoor-Veranstaltungen immer ein Restrisiko gibt, haben die Eltern womöglich zunächst Bedenken. Ich bin aber persönlich der Meinung, dass es für ein Mädchen viel gefährlicher ist, abends oder gar nachts alleine von einer U-Bahn-Station in München, Hamburg oder Berlin nach Hause zu gehen als eine Nacht allein im Wald in der Nähe eines niederbayerischen Dorfes zu verbringen - unter der Aufsicht von verantwortungsvollen Initiations-Mentoren und mit einigen Freunden in nächster Nähe.

Um es kurz zu sagen: Dieser WalkAway wird zu einem großen Erfolg. Alle Jugendlichen halten durch, keiner kehrt vorzeitig zurück. Da sie aber keine Uhren mit dabei haben, müssen sie sich – der Praxis von Urvölkern früherer Zeiten für diese Situation entsprechend – nach Tag und Nacht, Sonne, Mond und Sternen und vor allem nach dem am Morgen einsetzenden Vogelgesang orientieren.

Vielleicht kann der eine oder der andere auch den über die ganze Landschaft tönenden Glockenschlag der umliegenden Kirchturmuhren hören, wahrscheinlich aber das morgendliche „Gebetläuten“, das in den katholischen Kirchen um diese Jahreszeit immer exakt um 6.00 Uhr früh erklingt. Spätestens aber bei Sonnenaufgang ist es dann Zeit aufzustehen, seine Plane abzubauen, die mit Schnüren an umliegenden Bäumen befestigt war, Schlafsack und Matte einzurollen, den Rucksack zu packen und zum Basislager zurück zu kehren.

Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft

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