Читать книгу Lust und Liebe dann kam das Leben - Peter Nimsch - Страница 6

11. OKTOBER

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Da saß ich nun … Paul, umgeben von Wänden ohne Putz und auf den spärlichen Resten einer für meine Verhältnisse sehr langen Beziehung.

Paul, also ich, im zarten Alter von 37 Jahren, ein lebenslustiger Typ, der immer daran glaubte, alles wird gut … Na ja, das dachte ich zumindest die letzten zwei Jahre und auch noch vor weniger als fünf Stunden. ›Aber das Leben wird einfach nie langweilig, ich kann nur lachen, wenn andere das Gegenteil behaupten.‹

Als ich heute so gegen 18 Uhr in unsere Straße einbog, sah ich schon von Weitem unseren 24-armigen Lieblingskerzenständer hell leuchtend auf dem Tisch vor dem Fenster stehen. Dies war schon immer ein Zeichen von Anja, meiner momentan großen Liebe, wenn sie mich, sehnsüchtig und meistens schon halb nackt vor dem Kamin liegend, erwartete. Schon als ich wenig später die Haustür aufschloss, breitete sich von meinem Unterleib ausgehend ein warmes, prickelndes Gefühl in meinem noch immer gut erhaltenen und in langweiligen Fitnessstudio- Stunden geformten fast 1,90 Meter großen Vorzeigebody, mit erstem kleinen Bauchansatz, aus. Die Kerzen im Fenster konnten eigentlich nur das Beste bedeuten, was ich vom heutigen Tag noch zu erwarten hatte.

Im Treppenhaus roch es leicht nach Kaminfeuer. Allein dieser Geruch brachte meine Lust noch mehr in Fahrt. Ich sah mich schon gemeinsam mit Anja vor dem Kamin wälzen, natürlich auf einem Tigerfell. Hatten wir seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht. ›He, wird das ein heißer Abend!‹ und beschwingt stieg ich die alten ausgetretenen Treppenstufen nach oben.

Bei Eva, die unter uns wohnte, knallten wie immer laute Ärzte-Songs durch die verschlossene Wohnungstür. Insgeheim hoffte ich, dass diese harten Beats unseren romantischen Abend nicht übertönen würden. ›Na ja, wird uns schon nicht stören‹, überlegte ich. ›Wenn wir so dabei sind, vergessen wir eigentlich alles um uns herum.‹

Schnell stieg ich nun Stufe um Stufe höher, konnte es kaum noch erwarten. Bums, stand ich im Dunkeln. Mal wieder hatte ich es nicht geschafft, in diesem vom Vermieter bestimmt aus Geiz so kurz eingestellten Beleuchtungsintervall unsere Wohnung im dritten Stock zu erreichen. ›Morgen schreibe ich endlich den lang geplanten Beschwerdebrief!‹, nahm ich mir zum wiederholten Mal fest vor.

Aber nach zwei Jahren kennt man ja zum Glück sein Revier und so stieg ich langsam, mit den Zehenspitzen die Anfänge der Treppenstufen suchend, nach oben. Als ich endlich unseren Treppenabsatz erreichte und einen großen Schritt zur Wohnungstür plante, blieb mein linker Fuß irgendwo hängen, meine restlichen Körperteile konnten diesem Klammergriff um meinen linken Fuß nichts mehr entgegensetzen und ich landete der Länge nach auf irgendwelchen harten und weichen Erhebungen auf unserem Treppenabsatz, die da eigentlich nicht hingehörten.

Noch leicht vom Sturz betäubt tastete ich in der Dunkelheit umher. Plastikfolien, Kartons, Bindfäden, Koffer, Bücher und noch andere Dinge erahnte ich im Dunkeln. ›Wo bin ich?‹, schoss es durch meinen Kopf, war ich doch felsenfest davon überzeugt, vor unserer Wohnungstür zu liegen. Langsam versuchte ich mich wieder aufzurichten, verzweifelt etwas zu finden, woran sich meine Finger festklammern konnten und Platz für meine Beine war. Irgendwie schaffte ich es endlich im Dunkeln einen freien Platz zu entdecken, an dem ich zumindest erst einmal einen Fuß aufsetzen konnte. Der andere Fuß baumelte noch immer suchend im Dunkeln und tastete langsam den Untergrund ab.

›So, hier ist eine Lücke‹, dachte ich und setzte entschlossen den linken Fuß auf. Es erklang ein warmer E-Moll-Ton und kurz darauf ein lautes, krachendes Geräusch, ähnlich wie splitterndes Holz. Aber mein Fuß hatte endlich festen Boden erreicht.

Langsam ging ich wieder in die Hocke und suchte nach der Ursache des Schmerzes im linken Unterschenkel, der sich langsam auch in mein Bewusstsein verlagerte. Zuerst fanden meine Finger Metalldrähte, deren Oberflächen mir sehr vertraut vorkamen. Meine Finger glitten an diesen Metalldrähten entlang und kamen zu einem abgebrochenen Gitarrenhals, dessen Ende sich ungefähr einen Zentimeter in meinen Unterschenkel gebohrt hatte.

Schlagartig, durch den stechenden Schmerz beschleunigt, fiel mir ein, dass ja Edwin, unser lieber, aber leider etwas verschrobene Nachbar, am nächsten Tag ausziehen wollte. ›Na der konnte sich morgen frisch machen!‹, dachte ich. ›Einfach seinen ganzen Müll vor unserer Wohnung schon mal vorparken.‹ Aber Edwin und Gitarre? Hat dieser schräge Typ versteckte Talente? Er konnte ja nicht einmal singen, jedenfalls bekam ich jeden Morgen spontanen Stuhlgang, wenn Edwin im Nachbarbad versuchte Wolfgang-Petry-Hymnen zu intonieren.

›Licht, ich brauche Licht!‹, schoss es mir durch den Kopf, ich wollte ja nicht noch mehr wertvolle Kulturgüter von dem lieben Edwin für immer über den Jordan schicken. Die Finger meiner rechten Hand fuhren ganz langsam über die Wand. Zentimeter um Zentimeter tastete ich mich vorwärts, und stieß endlich auf ein mir wohlvertrautes Loch, das ich dort vor zwei Jahren beim Einzug mit dem neuen Futonbett hinterlassen hatte. ›Da ist auch der Lichtschalter nicht mehr weit entfernt …‹, dachte ich erleichtert. ›Ein kurzer Druck mit dem Zeigefinger und die Welt ist wieder in Ordnung‹, hoffte ich naiv und freudig.

Die Lampen flammten auf, aber die Welt drehte sich plötzlich verdammt langsam, zumindest für mich. Mein erster wieder lichterhellter Blick wanderte natürlich sofort zu meinem mittlerweile höllisch brennenden Unterschenkel. Ich schaute immer wieder hin, hätte mich fast gekniffen, damit ich wach wurde, aber wacher als mit einem Gitarrenhals im Unterschenkel konnte man eigentlich nicht werden und so akzeptierte ich einfach dieses Bild, welches sich hinter meiner Stirn einbrannte, nein einmeißelte.

Mein linker Fuß stand in einer roten Ovation-Gitarre, meiner Gitarre, meiner geliebten und teuren roten Ovation. Als die ersten Schockwellen in meinem Gehirn langsam wieder nur noch die halbe Amplitude über normal erreicht hatten, erfassten meine inzwischen wieder an das Licht gewöhnten Augen Objekte, die mir sehr bekannt vorkamen.

Der schwarze Lederkoffer mit dem ewig defekten Verschluss, der uns immer bei unseren romantischen Hotelbesuchen begleitet hatte, stand fein säuberlich mit hässlich braunem Paketband verklebt neben meinem rechten Fuß. Gerade vor mir standen zwei große blaue Müllsäcke, aus einem ragten, wie zu einem Peace-Zeichen drapiert, meine spitzen roten Lieblingsschuhe.

Hinter mir, natürlich ebenfalls fein säuberlich gebündelt, standen sechs oder sieben Päckchen Bücher. Dekorativ lag oben auf einem Päckchen ein einzelnes Buch. Mein Kopf ging nach unten und meine Augen entzifferten langsam den Buchtitel ›Szenen einer Ehe‹ …

Der Schmerz in meinem Unterschenkel bewahrte mich davor zu kollabieren, denn langsam wurde mir bewusst, wer hier auszieht, … ICH. ›Aber wer auszieht braucht zumindest gesunde Beine …‹ und so zog ich behutsam den gebrochenen Gitarrenhals meiner geliebten roten Ovation aus meinem Unterschenkel. Ich griff in eine vor mir liegende große Familienpackung Toilettenpapier – fürsorglich war ja Anja schon immer – und wickelte mir fünflagiges flaumiges Weihnachtsduft-Toilettenpapier um meine blutende Wunde. ›Lecken werde ich sie später‹, dachte ich wütend, ›erst mal sehen, welcher Film hier läuft.‹

Energisch und zu allem bereit steckte ich meinen Schlüssel in das Schloss unserer Wohnungstür. Drehte, drehte nochmals, aber das gewohnte Geräusch der sich öffnenden Riegel, das Geräusch des Nach-Hause-Kommens blieb auch nach dem x-ten Drehen des Schlüssels aus. Stattdessen wurde unsere Wohnungstür schwungvoll geöffnet und blieb mit lautem Knall an der Sicherungskette, welche ich erst vor vier Wochen mit blutenden und blasenverzierten zarten Gelegenheits-Musikerhänden – bin nun mal kein Handwerker – nach fünf Stunden endlich angebaut hatte, hängen. In der nun spaltbreit geöffneten Wohnungstür, im flackernden Licht der Kerzen, erschien Anja.

Nackt, na ja, fast nackt. Ihre wunderschönen, von mir schon vor längerer Zeit das letzte Mal heiß liebkosten Brüste, mit diesen einzigartigen hart und steil erigierten Brustwarzen, die so oft über meine besten Stellen geglitten waren, glänzten ölverschmiert im Schein unseres 24-armigen Kerzenständers. Ein Lederhalsband mit spitzen Stacheln ringsherum und eine im Schritt zerrissene schwarze Strumpfhose vervollständigten diese wahnsinnige Erscheinung.

»Du störst!« wurde es süß, mit der von mir so geliebten tiefen, rauchigen Stimme, durch ihre dunkelroten geschminkten vollen Lippen herausgehaucht.

»Was soll das, du spinnst wohl total!«, raunzte ich genervt zurück.

»Ich spinne nicht!« kam es ironisch von ihr zurück und dabei strich sie sich eine Strähne ihrer karminroten Haarflut aus dem verschwitzten Gesicht.

»Und was soll der Scheiß hier bedeuten …?!«

»Es ist endgültig vorbei mein Süßer«, hauchte sie, »ich will endlich mal wieder einen richtigen Mann, einen der mich abschießt und nicht die blöden Männlein in seinem Computer!«

»Eh, ich bin so scharf auf dich!«, schrie auf einmal eine fremde Stimme aus Richtung Kamin mit Tigerfell. »… wenn du nicht gleich kommst, platze ich, mach schnell die Tür wieder zu, der Loser soll einfach verschwinden!«

»Hast du nicht gehört?«, säuselte Anja wieder und ein Schweißtropfen rollte dabei langsam über ihre rechte Brust, blieb wie in Zeitlupe an der hart erigierten rechten Brustwarze hängen und glitzerte dort um die Wette mit dem Kerzenlicht von unserem Leuchter.

Im Normalfall hätte sich Klein-Paul, mein zweites diffuses Ich, welches leider schon so oft nicht mehr mit mir einer Meinung sein wollte, in den modischen Rissen meiner neuen Jeans ein Loch gesucht und hätte sich siegesbewusst Anja entgegengestreckt, aber heute versteckte er sich lieber ganz tief in meinen Boxershorts mit Tigermuster. Klein-Paul zitterte noch in seiner ganzen, aber fast nicht mehr vorhandenen Länge, als Anjas Stimme wieder in mein Bewusstsein drang.

»Verschwinde doch einfach! Heute Abend möchte ich mindestens so oft abgeschossen werden, wie du es bisher nicht einmal in einem Extra-Level für Anfänger in deinem scheiß Computer geschafft hast!«

Mein Mund wollte etwas entgegnen, aber mein Verstand setzte einfach aus und konnte keine Befehle mehr an meine Lippen geben.

»… am Anfang hast du mir ja wenigstens noch ab und zu einen Streifschuss verpasst!«

»… jaaaa, war doch schön oder?!?!«

»… wolltest du das etwa vögeln nennen?«, kam es gleich danach grinsend aus diesem ach so süßen Mund. »Aber nun nimm deinen Krempel und wandere weiter. Ich möchte heute Abend ungestört spielen und so richtig beschossen werden!«

Bums, die Tür war zu.

Ich stand da, dachte und verstand nichts oder eigentlich fast nichts, denn mir schwante, der Weltuntergang war vorverlegt. Die noch vorhandenen Reste meines kleinen Pauls waren bestimmt schamrot nach diesen Versagungsvorwürfen und ein Zittern breitete sich von meinem Unterleib ausgehend im ganzen Körper aus.

Gerade wieder kam etwas Leben in mich zurück, als die Tür erneut im Rahmen der Sicherungskette aufflog. Anjas Strumpfhose bestand mittlerweile nur noch aus einigen Maschen, die sich krampfhaft an ihren wohlgeformten Oberschenkeln festzuhalten versuchten. Was aber aussichtslos erschien, denn aus ihrer wie immer sorgsam blank rasierten Möse flossen Ströme einer mir wohlbekannten Flüssigkeit und rissen die letzten überlebenden Maschen mit in den Abgrund. Ich hatte wohl etwas länger gebraucht, um aus meiner Erstarrung zu erwachen. Ihr Oberkörper war etwas gerötet und ihre wahnsinnigen Brüste hoben und senkten sich im schnellen Tempo. Mit einer nach Luft ringenden Stimme kam es stoßweise aus ihrem Mund: »… ich bin ja nicht so … hech, hech …«, wieder nach Luft schnappend, »… viel … hech, hech … Glüüück …«. Sie warf mir einen Briefumschlag vor die Füße. Bums und die Tür war wieder zu und ich hörte das wohlklingende, vertraute Schließgeräusch, doch heute leider von der verkehrten Seite.

Neugierig bückte ich mich und versuchte gerade mit zitternden Fingern den Umschlag zu öffnen, als rhythmisches Krachen aus der Wohnung drang. Das dabei zu hörende Quietschen kam mir bekannt vor. Es war unser alter Küchentisch, den ich schon seit Wochen reparieren sollte. Auch das ganz kurz nach dem Quietschen ertönende Klirren erkannte ich sofort. Es war die Sammeltassen-Sammlung ihrer Schwiegermutter, also meine, die von meiner Mutter mir liebevoll und in treue Hände anvertraute Sammlung. Aber die hatte Anja ja schon immer gehasst … Bei ihren kurz darauf folgenden schrillen Schreien hatte wohl auch die letzte Sammeltasse keine Überlebenschance mehr und wechselte pulverisiert in einen neuen Daseinszustand.

So langsam erkannte ich wieder meine Umwelt und setzte mich auf meinen Lieblingsstuhl, der unglücklich neben dem geliebten Spielcomputer stand und im kalten Licht der Treppenhausbeleuchtung auf sein neues Zuhause wartete. Nun schon etwas gefasster riss ich, von neuen rhythmischen Geräuschen aus meinem ehemaligen Liebesnest begleitet – diesmal musste wahrscheinlich ihr ach so geliebter Schaukelstuhl daran glauben – den mir zugeworfenen Brief auf. Ein ganz kurzes Zucken in meiner Hose bestätigte mir die Vermutung vom Schaukelstuhl. Dieses fast schon erotische Knarren kannte er noch aus einer längst vergangenen Zeit.

Als erstes fiel mir ein goldener Sicherheitsschlüssel in den Schoß. ›Sollte ich eine neue Chance bekommen? Aber mit über 37 Jahren hat man schon viele Glauben verloren.‹ Nachdem ich mich an die Zeitintervalle der Hausbeleuchtung gewöhnt hatte und auch nicht viel mehr in meinem Umfeld auf dem Weg zum Lichtschalter zu Bruch gehen konnte, versuchte ich die vermutlich letzten Zeilen von Anja zu lesen. Langsam las ich die wenigen Wörter, natürlich in ihrer ausgefeilten Handschrift zu Papier gebracht, die mir von ihr verblieben waren.

Mein Lieber Paul, ich habe dich immer gewarnt, aber auch immer wieder gehofft!

Es reicht!!!!

P.S.: Da ich in einem meiner vorherigen Leben Sozialarbeiterin war, hier ein Schlüssel für eine Wohnung. Diese ist bewohnbar und preiswert. Ideal für einen Musiker, der seit über 20 Jahren mit seiner Karriere verstecken spielt.

Statt einer Unterschrift war ein roter Abdruck mit Anjas dunkelrotem Lieblingslippenstift zu sehen, der mich an irgendetwas erinnerte … Fast sah er aus wie ein langer schmaler Schmetterling. Daneben stand in großen Druckbuchstaben:

Ich habe auch Rechte und meine Flügel werden schlapp, wenn ich nicht regelmäßig gegossen werde!

Ich bin im Gegensatz zu deiner virtuellen Welt lebendig und will es auch immer bleiben!!!

Mir gingen die Augen auf und blieben starr auf den roten Fleck gerichtet, vom Mund ganz zu schweigen, Maulsperre im Endstadium. Langsam bewegte sich meine Nase Richtung roter Fleck … Ja, so duftete Anja an ihrer schärfsten, immer blank gepflegten Stelle. Wenigstens ihr Geruch war mir geblieben.

›Aber jetzt nichts wie weg hier, habe genug gehört und erlebt für heute!‹, dachte ich mir. Zum Demontieren und für Statik-Prüfungen in unserer ehemaligen gemeinsamen Wohnung wurde ich nicht mehr benötigt, wie ich aus dem aufs Neue aufkommenden Klappern und Kratzen und den scheppernden, rhythmischen Lauten, spitzen Schreien und urzeitlichem Gestöhn entnehmen konnte.

Ich suchte wie immer krampfhaft in meinen Taschen nach dem Handy. Der Ladebalken zeigte, dass ich noch eine Chance für einen Anruf bei meinem alten Kumpel Fred hatte. Fred, mein engster Freund seit meiner frühesten Jugend und stolzer Besitzer eines Großraumtaxis, was ich jetzt dringend benötigte. ›Aber wohin soll es mich und meine Beziehungskistenreste fahren?‹ Erst jetzt fiel mir der gelbe Klebezettel an meinem mit fünflagigem Toilettenpapier mit Weihnachtsduft umwickelten Unterschenkel auf.

›Für die Wohnung meiner Freundin Maria auf der Karli. Sie braucht diese nicht mehr …‹, konnte ich entziffern. Fast unleserlich stand darunter noch eine Zahl. ›Ist hoffentlich die Hausnummer …‹, flehte ich innerlich. Der Zettel gehörte bestimmt zu dem goldenen Schlüssel, dem Abschiedsgeschenk von Anja. Nach dem Wählen von Freds Nummer ertönte nach nur zweimaligem Tuten seine aufgeräumte Stimme.

»Na, mein Lieber, hast dich ja ewig nicht gemeldet, wollen wir nicht mal wieder zusammen richtig einen drauf machen? … so wie früher?«

»Gerne«, kam es etwas verstört von mir, »aber erst einmal brauche ich dein super Taxi.«

»Habt wohl mal wieder zu viel Ramsch bei IKEA gebunkert?«, kam es lachend zurück.

»Ne«, murmelte ich, »ich brauch einen Transport mit meinen Beziehungsresten in eine neue Wohnung, und zwar bitte sofort.«

»Verstehe Bahnhof?!? Neue Wohnung?«

Eigentlich hatte ich keine Lust zu einer peinlichen Beichte, ich hatte aber keine andere Chance.

»Bin rausgeflogen bei Anja«, kam es stockend aus meinem Mund.

»Du wirst nie erwachsen« und ein herzhaftes Lachen dröhnte in mein Ohr. Und mit einer mir den letzten Rest gebenden Betonung ging es weiter, »so eine heiße Braut wie Anja gibt es nur wenige auf der Welt, aber Du kriegst auch das hin, bei ihr rauszufliegen …, … vielleicht habe ich jetzt endlich die Chance meines Lebens bei ihr, wollte sie schon immer gerne mal vernaschen, aber unter Kumpels ist man ja fair …, hahahahaaaa!«

»Kotzbrocken!!!«, schrie ich zurück.

»Komm, krieg dich ein, in fünf Minuten bin ich bei dir.«

Erleichtert, aber leicht angesäuert, steckte ich mein Handy in die Tasche, welches mit einem leisen Piep seine letzte Batteriespannung aushauchte.

Aus den fünf Minuten wurde zwar fast eine Stunde, aber ich hatte ja zum Glück keine Langeweile. Ich nutzte die Zeit, um mir inzwischen einen Überblick über die spärlichen Reste einer zweijährigen Beziehung zu verschaffen. Immer, wenn ich in regelmäßigen Abständen bei der Bestandsaufnahme verzweifeln wollte, gaben mir die im ungefähr zehnminütigen Abstand wechselnden rhythmischen Geräusche aus meiner ehemaligen Wohnung ein neues Rätsel auf, welcher geliebte Wohnungsgegenstand gerade laut DIN-Zerstörungsnorm getestet wurde.

Ganz hinten, auf dem Treppenabsatz in einer dunkleren Ecke, fand ich zum Schluss der Inventur erfreut meinen Zwei-Meter-Riesenspiegel – ein Erbstück von meiner Großmutter. Ich dankte innerlich vielmals, dass er noch heil war. Aber Anja war ja zum Glück etwas abergläubisch und wollte bestimmt nicht nur Blümchensex in den nächsten sieben Jahren.

Als sich über die Unversehrtheit meines Lieblingsspiegels gerade Erleichterung in mir ausbreiten wollte, sah ich auf der Spiegeloberfläche Anjas Kreativität. Mein Kopf gemalt, natürlich mit dem kaminroten Lippenstift, dessen Farbe und Geschmack ich immer so an ihr geliebt hatte. Über meinem vortrefflich getroffenen doofen Gesichtsausdruck stand in Anja-Schönschrift:

So sieht ein Scheiß-Kerl aus!

Bevor ich erneut in Selbstmitleid flüchten konnte, hörte ich schwere Schritte auf den alten Treppenstufen, zweieinhalb Zentner Lebendgewicht sind einfach nicht zu überhören.

»Neues Spiel, neues Glück mein Lieber«, kam es kurzatmig aus seinem Mund. »Zum Glück hat Anja ja schon mal ausgemistet, wie ich sehe. Das schaffen wir locker mit einer Fahrt und hinterher gehen wir auf die Piste!«, kam lachend hinterher.

»Ha, haa, haaaa …«, dieses typische Fred-Lachen, was ich an normalen Tagen so liebte, aber heute war ja der vorverlegte Weltuntergang, wie ich in den letzten Stunden schon mehrfach feststellen durfte.

Innerhalb einer halben Stunde hatten wir meine verbliebenen Habseligkeiten in Freds Taxi verstaut und starteten Richtung Karli.

»Wir sind da!« lachte Fred, »Hast ja mächtig Glück gehabt, coole Gegend, coole Kneipen und schräge Clubs! Haste eigentlich nicht verdient, … ha … haa, … haaa! … und vor allem in der Nähe meines Lieblingspubs!«

Ein kleiner Lichtblick am Ende des Tunnels wurde vor mir für Sekundenbruchteile sichtbar und Klein-Paul zuckte kurz gut gelaunt, als er Freds Hinweise hinsichtlich meiner neuen Wohngegend vernahm.

Nach knapp einer weiteren halben Stunde durch das mittlerweile nächtliche Leipzig standen wir nun vor meiner neuen Bleibe. Bewundernd ließ ich meinen Blick über die tollen Häuserfronten wandern, und soweit meine Augen blicken konnten: Kneipen, Cafés, Klubs und, und, und … ›Wirklich Glück gehabt.‹ Schwer rang ich mir ein kleines Dankeschön an Anja ab.

»Hör auf zu träumen!«, rief Fred, »Lass uns endlich deinen Krempel reinbringen, umso eher können wir losziehen.«

Schnell schnappte ich mir als Erstes Großmutters Riesenspiegel und ging langsam damit Richtung der ehemaligen Bleibe von Anjas Freundin Maria, deren Hausnummernschild mir von weitem entgegen lachte. Von außen sah das Haus super aus, frisch renoviert, wie fast alle Häuser auf der Karli. An der Tür angekommen, fischte ich in der Tasche nach dem goldenen Schlüssel. ›Fängt der Albtraum schon wieder an?‹ Egal wie ich versuchte, den Schlüssel in der Haustür zu platzieren, er passte nicht. Das konnte nur eines bedeuten, Anja wollte mich nur schnell von unserer Wohnungstür wegbringen, egal wie und der Schlüssel und die angebliche Wohnung waren ein Fake.

»Kannste nicht mal mehr lesen?«, schrie es von weitem und Fred streckte mir den gelben Klebezettel entgegen, »Du stehst vor der falschen Tür, auf Anjas Zettel steht kein ›a‹ neben der Hausnummer.«

Mein Blick wanderte zurück auf das Schild, jetzt sah ich es auch, ganz klein klebte daneben ein kleines schwarzes ›a‹.

Fred, der Schweiß tropfte ihm von der Stirn und die wenigen noch vorhandenen längeren Haare waren nur noch nasse Striche auf seinem Kopf, schleppte und zerrte in der Zwischenzeit Teile meines letzten Besitzes vor das Nachbarhaus. Wie oft hatte ich ihm schon geraten, etwas für seine Gesundheit zu tun, aber Fred liebte seinen Bauch. ›Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel‹, war einer seiner Lieblingssätze.

Ich hatte diese Ruine schon beim Aussteigen aus Freds Taxi halb aus den Augenwinkeln wahrgenommen. In meinem Unterbewusstsein hatte ich es als unsaniertes Haus aus dem letzten Jahrhundert abgehakt und gestaunt, dass es noch unsanierte Häuser auf der Karli geben sollte. Traumatisiert wandelte ich mit meinem Riesenspiegel zum Nachbarhaus, na ja, ein Haus war es vor über 100 Jahren mal gewesen, jetzt war es mehr ein Kunstobjekt. Aber es schien bewohnt zu sein, manche Fenster waren geöffnet und es schallte Musik fast jeder Stilrichtung heraus. Die vor einigen Fenstern durch permanenten Wassermangel liebevoll totgepflegten Blumenkästen hatten schon fast etwas Skurriles. Aus einem Fenster im ersten Stock kam ein süßer Duft in meine Nase und das passende Gewächs dazu stand gleich neben dem geöffneten Fenster unter einer bestimmt 1000 Watt Lampe. Wenigstens war ich nicht allein im Museumshaus. Mit dieser Gewissheit schleppten Fred und ich meine Habseligkeiten in den dritten Stock. ›Der nächste kleine Pluspunkt, denn unsere alte Wohnung war ja auch im dritten Stock, und wenn jetzt noch ungefähr die Anzahl der Treppenstufen stimmt, kann ich wie gewohnt in jedem Zustand meine neue Höhle finden‹, ging es durch meinen Kopf.

Das Unterbewusstsein wusste ja angeblich viel mehr als man selbst je über sich erfahren würde, hatte ich oft gelesen, aber nie so recht daran geglaubt. Als ich die Wohnungstür aufgeschlossen hatte und im Dunkeln endlich einen Lichtschalter fand, beschloss ich, in meinem mir noch verbleibenden Leben nie mehr an dieser Tatsache zu rütteln: ›HÖHLE‹ schrie es mir förmlich entgegen, ›Höhle im wahrsten Sinne des Wortes!‹. An einem Draht baumelte eine 40-Watt-Energiesparlampe von der Flurdecke. Hatte die ›liebe‹ Anja etwa auch daran gedacht, dass diese komische Erfindung ein paar Minuten braucht, um ihre volle Leuchtkraft zu erreichen und ich so die Gelegenheit bekam, mich in Minutenintervallen an meine neue Höhle bzw. Wohnung gewöhnen zu können, um nicht nach dem Heraufschleppen meiner Habe sofort einen Herzkasper zu bekommen?

Nach wiederum einer halben Stunde, die Zeitspanne kannten wir ja schon, hatten wir alles in meiner neuen Bleibe, das Wort Wohnung war bestimmt für die nächsten Monate aus meinem Wortschatz gestrichen.

»Bis in zwei Stunden, dann hole ich dich ab und wir ziehen um die Häuser!«, rief Fred und polterte laut pfeifend die Treppen hinab.

Ich suchte mal wieder nach meinem Handy, da ja Fred in zwei Stunden wieder hier auftauchen wollte und ich dazu eine aktuelle Zeitangabe benötigte. So oft ich auch drückte, alles blieb schwarz auf dem Display und so viel Großzügigkeit, mir auch noch ein Ladekabel mit einzupacken, konnte ich ja nun wirklich nicht von Anja erwarten. Langsam schlich ich zu dem Scheiterhaufen meines Lebens in das größere Zimmer, wo Fred und ich die Reste vom Vorleben bzw. meine Startpakete in neue Abenteuer aufgeschichtet hatten. Als ich aus dem Fenster sah, erkannte ich genau gegenüber eine große öffentliche Normaluhr, ihre Zeiger zeigten die zehnte Stunde. Ich legte spontan für mich fest, 24 Uhr beginnt ein neues Leben.

Ich konnte noch nie die Menschen verstehen, die ihren Urlaub schon für das nächste Jahr planen. Hier hatte ich mal wieder einen handfesten Beweis für meine Theorie, innerhalb von nur vier Stunden hatte sich meine kleine heile Welt total auf den Kopf gestellt. Auch Klein-Paul war auf dem Weg zu meiner alten Wohnung noch siegesbewusst mit geschwollener Brust gewesen, als ich den 24-armigen Kerzenleuchter im Fenster erblickt hatte, aber jetzt war er verschwunden. Ich hoffte, dass ich ihn wenigstens beim Pinkeln wieder finden konnte.

›Ein einfach schräger Tag bis jetzt, aber es kann ja nur besser werden‹, versuchte ich mir Mut zu zusprechen. Ich, Paul, saß in meiner Höhle und starrte auf unverputzte Höhlenwände. ›Werde erst einmal eine Bestandsaufnahme machen in diesem Loch, anders kann man es nicht bezeichnen‹, bevor Fred mich zu einer ersten Tour auf die Karli abholen wollte.

›Liebe Anja, ich danke Dir von ganzem Herzen und wünsche dir die Pest an den Hals!‹, und noch andere ausgefallene Wünsche gingen mir für meine Ehemalige, ›wow, klingt echt gut‹, durch den Kopf, währenddessen ich wie ein Häuflein Elend dahockte und die Reste meines vorherigen Lebens anstarrte. ›Du vögelst dir gerade die Seele aus dem Leib und ich kann nicht mal den Putz von den Wänden fressen, da es ja hier keinen gibt.‹

Mir wurde schon nach den ersten Schritten durch meine Ausbauhöhle klar, warum diese so billig in der Miete war und Anjas liebe Freundin diese nicht mehr wollte. Irgendjemand hatte – ich vermutete, Marias schräge Bekanntschaften – versucht, dieses Loch in einen bewohnbaren Zustand zu bekommen, hatte aber irgendwann verzweifelt aufgehört, wie ich bei einem Blick in das Toilettenbecken feststellen musste. Bestimmt die letzte frustrierte Handlung, bevor diese Typen fluchtartig die sogenannte Wohnung verlassen hatten. Im Toilettenbecken lag ein großer Fladen, der sich bis in den Abfluss erstrecke. Nur dieser Fladen war nicht braun und stank auch nicht, er war grau und hart, wie ich beim Betasten mit den in der Ecke lümmelnden Resten einer Klobürste feststellen konnte. Es war steinharter Mörtel. Bestimmt war es der Rest von dem Mörtel, mit dem Maria und ihre Typen versucht hatten, die in der ganzen Wohnung schon frei gehackten Fenster, welche sicher irgendwann ausgetauscht werden sollten, wieder abzudichten, sodass sie nicht befürchten musste, im Winter zu erfrieren und bei Herbststürmen durch die Wohnung geweht zu werden.

Klein-Paul meldete sich wieder mal und ich merkte, dass ich eigentlich die Toilette benutzen sollte, aber die war ja zugemörtelt. Mit gutem Zureden, dass es gleich so weit wäre und er seinen zweiten Verwendungszweck schnellst möglich ausführen können würde, machte ich mich auf die Suche nach etwas, was man als Bohrer oder Stemmeisen verwenden konnte. Beim Suchen stellte ich fest, dass meine Höhle gar nicht so verkehrt war: ein großes Zimmer von ungefähr zwanzig Quadratmetern und zwei kleinere.

Dazu gab es eine Küche, wo sogar noch ein alter E-Herd dahinvegetierte und eine Toilette, die aber seit Wochen Ruhetag hatte. Leider kein Bad, aber da würde mir bestimmt, was einfallen. In allen Zimmern baumelten zum Glück die romantischen Notleuchten – ein Draht, eine Fassung und eine natürlich vollkommen verdreckte Glühbirne. Auch in den restlichen Zimmern waren teilweise schon Löcher in den Putz gehackt, umgeben von Tapetenresten aller bisher in der Menschheitsgeschichte beliebten Stilrichtungen. ›Bestimmt feierten noch vor Kurzem, wo jetzt die frei gehackten Löcher waren, Schimmelpilze ihre Erweiterungspartys.‹ In einem von den beiden kleineren Zimmern, das ich mir schon als Ruheraum auserwählt hatte, türmte sich in der Mitte ein Sandhaufen. ›Da ich kein Bett mitbekommen hatte, brauchte ich wenigstens nicht auf den harten Dielen zu nächtigen‹, bei diesem Gedanken wurde mir bewusst, dass sich langsam mein Humor leise zurückmeldete.

Klein-Paul schnürte sich immer mehr die Luft ab, da mein Druck in der Blase immer größer wurde. Aber es war einfach nichts aufzutreiben, was als Brecheisen verwendbar gewesen wäre. Mit eiligen Schritten ging ich zur Toilette zurück, in der Hoffnung, dass wenigstens das Waschbecken einen Abfluss hatte. Freudig begrüßte mich Klein-Paul und unter Hochgenuss entleerte ich mich und stellte erleichtert fest, dass hier keine Verstopfung vorlag. Auch war es ein schönes Waschbecken. Ich hatte mit meinem nicht enden wollenden Urinstrahl SCHEISSE in den Dreck geschrieben und dabei kam ein wunderschönes graziles Muster zum Vorschein. Als mein Blick nach dem Entleeren meiner Blase zum Spiegel wanderte, oder besser gesagt, was mal wieder ein Spiegel werden wollte, entdeckte ich einen angeklebten Zettel.

Hallo Paul, willkommen im neuen Heim. Ich weiß, dass Du jetzt gerade nicht gut drauf bist, da Anja meine Freundin ist und ich demzufolge schon seit Längerem von Deinem Auftauchen vor diesem Spiegel ahnte.

Wenn Du hier bleiben willst, und davon gehe ich bei Deinen finanziellen Verhältnissen aus, überweise einfach regelmäßig auf folgendes Bankkonto, siehe Rückseite, die Miete und Du kann hier bestimmt ewig hausen.

Gruß und Trost-Kuss Maria

P.S. Ich hoffe, Du hast bessere Nerven und mehr Elan als ich und kriegst die Bude bewohnbar.

Was kann das hier kosten, eigentlich müsste man ja hier noch etwas rauskriegen und ich riss neugierig den Zettel vom Spiegel, neben der Bankverbindung stand 150 Euro. Ist bitte pünktlich am vierten jedes Monats zu überweisen. Pünktlich war dick unterstrichen, Maria konnte einfach nicht verleugnen, dass sie seit Jahren als Lehrerin tätig war und immer eine erzieherische Note mit einfloss, solange ich sie kannte.

Langsam fand ich mich zurecht und ging zielgerichtet zum größeren Zimmer, aus dessen Fenster ich die Uhr auf der Straße erkennen konnte, weil ich wissen wollte, wie spät es war. ›Noch eine Stunde Zeit, bis Fred hier aufschlagen wird‹, dachte ich mir, griff mein Handy und wollte mir, da sich langsam ein Hungergefühl breitmachte, eine Pizza bestellen. Nur hatte ich leider vergessen, dass das Handy leer war und mich statt Anja nur eine schwarze glänzende Oberfläche anlachte.

›Ich brauche dringend ein Ladekabel!‹ Erstens hatte ich Hunger und zweitens sollte mich Anja auf keinen Fall mehr begrüßen, wenn mein Handy wieder Strom hatte.

Drei wichtige Vorhaben für die nächste Stunde, ›Handy aufladen, Hintergrundbild sofort wechseln und Pizza bestellen!‹ Die Toilette hatte jetzt, aus rein biologischen Gesetzmäßigkeiten, etwas länger Zeit, da ich gerade pinkeln war und ich zur Not auch noch das restliche schöne Muster des Waschbeckens beim nächsten biologischen Bedürfnis freilegen konnte. Da diese Ruine von einem Haus bewohnt war, versuchte ich mein Glück zwecks Ladekabel mal an der benachbarten Wohnungstür. Stefan Friedrich stand auf einem mit einer Reißzwecke befestigten Schildchen. Nach zweimaligem Klingeln öffnete ein dürrer Typ im Bademantel.

»Hi, ich bin dein neuer Nachbar Paul«, sagte ich und blickte in große erstaunte Augen eines ungefähr 35-jährigen, mittelgroßen, sehr dünnen Typen mit einer wirren Frisur, ähnlich meiner. Erst jetzt merkte ich, worauf sie starrten, mein blutgetränktes Weihnachtsduft-Toilettenpapier hatte sich langsam von meinem Unterschenkel gelöst und schlängelte sich vergnügt über die ganze Etage bis in meine Höhle zurück.

»Kleinen Unfall beim Einzug gehabt«, log ich spontan entschuldigend.

Stefan lachte: »Sieht aber nicht gut aus«, als sein Blick das blutdurchtränkte Weihnachtsduft-Toilettenpapier bestaunte.

»Hat schon aufgehört zu bluten«, meinte ich erleichtert, als meine Finger das immer noch schmerzende Loch behutsam abtasteten. »Halb so schlimm, habe heute schon viel Schlimmeres erlebt.«

»Bist du Stefan?«

»Ja«, kam es trocken zurück.

»Und wie wohnt es sich hier denn so?«, fragte ich, da ich mir etwas Mut machen wollte.

»Wohne schon länger hier, einfach ein cooles Haus und echt billig.«

»Kannst du mir bitte mal ein Ladegerät für mein Handy leihen, habe leider momentan keins mehr.«

Stefan verschwand in seiner Wohnung und kam kurz danach mit einer Pappkiste zurück, in der sich ein Knäuel von Ladekabeln tummelte.

»Versuch dein Glück«, lachte er und drückte mir die Kiste in die Hand. »Bring sie mir einfach in den nächsten Tagen wieder vorbei, hab noch mehr davon.«

»Danke, echt nett von dir!«

»Kein Problem, kannst immer kommen, wenn du mal etwas brauchst, ist hier zum Glück im ganzen Haus noch so Brauch. Nur unten bei Jüttes brauchst du es nicht zu versuchen. Sind ganz merkwürdige Menschen, ein fetter komischer Typ von bestimmt schon vierzig Jahren wohnt dort mit seiner Mutter. Echt eigenartige Figuren, die beiden. Schönen Abend noch!« und Stefan verschwand in seiner Wohnung. Konnte gerade noch ›danke‹ hinterherrufen.

Meinem penetrant duftenden, geringelten und blutgetränkten Weihnachtsduft-Toilettenpapier folgend, ging ich in meine Höhle zurück, nahm auf meinem Sandhaufen im kleinen Zimmer Platz und begann das passende Ladekabel zu suchen. Natürlich war es das Vorletzte, das passte, aber das ist ja eigentlich immer so bei mir. ›Jetzt noch ein Südseebild an die Wand malen …‹, dachte ich ironisch, als so langsam das Sandgefühl durch meine Hosen drang, ›und mit dieser Höhle brauche ich nicht mal mehr in den Urlaub zu fahren. Bei meinem nächsten Einkauf im Baumarkt, der eigentlich schon gestern hätte sein müssen‹, beschloss ich – als ich die ersten eingebrannten Gruselbilder meiner Höhle im Kopf wieder abrief – ›kaufe ich mir eine Palme. Harmoniert bestimmt vortrefflich mit meinem Sandhaufen.‹

›Meine Höhle wird eine schräge Höhle!‹, nahm ich mir fest vor.

So, jetzt wurde es langsam Zeit mal die nötigen Grundutensilien in den Resten meiner Existenz zu suchen.

Aber wohin damit, alles war hier mit Baustaub und sonstigem Dreck überzogen und viele kleine Höhlenmitbewohner schienen sich in ihrer Ruhe gestört zu fühlen. Eine dicke fette Spinne schaute mich von der Decke missmutig an. Aber ich war ja im Improvisieren gut, also riss ich den ersten blauen Müllsack langsam auf und verteilte meine daraus hervorquellenden Klamotten auf die anderen Haufen und Türme meines umfangreichen Besitzes. Die nun vorhandene Plastikplane breitete ich in der saubersten Ecke des großen Zimmers aus und drapierte meine Kleidungsstücke aus dem ersten Müllsack darauf. Langsam arbeitete ich mich durch meinen Besitz und endlich kamen meine Pflegeprodukte zum Vorschein.

War nicht viel, was ich in meine neue Selbstständigkeit von Anja mitbekommen hatte, aber zum Ausgehschickmachen mit Fred heute Abend reichte es allemal.

Mein Bauch meldete immer noch Bedürfnisse an, doch bei der Bestellhotline teilte man mir hektisch mit, Wartezeit sei zwei Stunden. So beschloss ich das Essen auf morgen zu verschieben oder später mit Fred eine Kleinigkeit zu essen, was auf der Karli bestimmt kein Problem sein sollte.

›Diese Nacht werde ich es richtig krachen lassen‹, nahm ich mir vor. Sollte doch Madam Anja nicht die Einzige sein, die heute Spaß hatte. Ich entledigte mich meiner vom Umzug und Nervenstress verschwitzen Klamotten und untersuchte meine Gitarrenhalswunde. Zum Glück sah sie gar nicht mehr so schlimm aus, ein großes Pflaster, was sich glücklicherweise irgendwie in meine Waschtasche verirrt hatte, verschloss nun endgültig dieses Anja Rauswurf-Kapitel.

Meinen großen Erb-Oma-Spiegel hatte ich gleich beim Einzug standsicher im hinteren Zimmer deponiert. Nackig stellte ich mich davor und wurde natürlich sofort von meinem Lippenstift-Konterfei begrüßt. ›So, mal sehen, was noch so mein Marktwert ist‹, dachte ich mir und ließ den Blick über meinen Body gleiten. Da glücklicherweise die Heizung in meiner Höhle funktionierte, hatte auch Klein-Paul seine normale Größe wieder erlangt. Aber so ganz zufrieden war ich leider nicht mit dem Bild im Spiegel, da half es auch nicht, dass der Spiegel etwas dreckig war. ›Fange mal oben an‹, dachte ich. Haare? Naja, Haare konnte man es eigentlich nicht nennen, eher Feen-Haar, lang und dünn reichte es bis zu den Schultern, das liebte ich schon immer. Oberarme und Beine waren eigentlich okay. Der kleine Bauchansatz, den Anja so geliebt hatte, war leider nicht nur im Spiegel ein großer Bauchansatz geworden, der verniedlichende Attribute einfach nicht mehr verdiente, von dem unrasierten Paul und Anhang einmal ganz abgesehen.

›Hab mich ganz schön gehen lassen, das war zum Anfang mit Anja ganz anders‹, dachte ich leicht traurig. Aber da ja nun mein Marktwert wieder gefragt war, wurde auch das Essen für heute vollkommen aus dem Kopf verbannt und in meinen Pflegeutensilien suchte ich nach meinem Vierklingen-Rasierer.

›So unrasiert wird nicht ausgegangen, erst oben, dann unten‹, nahm ich mir vor. Mit fünflagigem Weihnachtsduft-Toilettenpapier, von welchem ich als einziges von allem mehr als genug besaß, brachte ich notdürftig Waschbecken und Badespiegel in ein wenig an alte Zeiten erinnernden Glanz zurück. Ohne größere Schnitte war meine obere Hälfte schnell ausgehfein.

Zurück zum Erb-Oma-Spiegel, jetzt war Klein-Paul mit allem im Umkreis von zehn Zentimetern fällig, man wusste ja nie, was der Abend noch so brachte.

›Werde es heute mal hier versuchen‹, warum wusste ich auch nicht, mir war einfach so. Ich fasste Klein-Paul kräftig an der Spitze, zog ihn schön lang und rasierte ganz vorsichtig ringsherum. Drehte ihn in alle Richtungen und begutachtete das Ergebnis. ›Schon erstaunlich …‹, stellte ich wie immer fest, wie weit man da drehen kann. Ein paar Zentimeter in Richtung Bauchnabel und danach die Leistengegend, das ging relativ schnell, ich war ja weit genug von meinem besten Teil mit dem so superscharfen kalten Stahl entfernt. Jetzt kam das Schwierigste …

Der Sack, der Beutel, der Hodensack, die Eier …, eigentlich alles für so ein wichtiges und ebenfalls sehr auf Reize ansprechendes Teil blöde und abgewrackte Begriffe. Finde für mich wohl nie eine coole Bezeichnung. Innerlich einigte ich mich heute auf den Begriff Beutel, da ja hier auch gute und wertvolle Sachen von mir aufbewahrt und geschützt wurden und auf ihren möglichen, oft sehr spontanen Einsatz warteten. Wieder wurde Klein-Paul kräftig mit der Spitze nach oben gezogen, danach von meinem linken Unterarm an den Bauch gedrückt, so hatte ich jetzt die Finger der linken Hand frei, um diesen etwas faltigen Beutel, die Heizung funktionierte also doch nicht so gut, langsam und sachte ebenfalls in die Länge zu ziehen. Mit dem Vier-Klingen-Superscharfrasierer kämpfte ich mich langsam über die narbige und durchfurchte Oberfläche. Erst die Vorderseite, dann ebenfalls das ganze Teil nach oben zerrend, die Rückseite. Geschafft!!! Jetzt kam das Schönste, Klein-Paul und Anhang wurden eingeölt, erstens war es gut für die an manchen Stellen sehr strapazierte Haut und zum anderen wollte ich auch in der unteren Hälfte gut duften, besonders heute Abend.

Beim genüsslichen und langsamen Ölverreiben, das war einfach schön, einfach geil, ging ein Zucken durch Klein-Paul und nach wenigen Sekunden brauchte ich meine Hand nicht mehr zum Hochhalten meines kleinen besten Kumpels. ›Kein Wunder‹, dachte ich mir, ›sind wir uns ja in den letzten Wochen nur noch auf der Toilette begegnet.‹

Wie schon immer in solchen Momenten wurde auch heute aus Klein-Paul, meinem oft so eigensinnigen und nervenden zweiten Ich, wieder ein ganz normaler, lustvoll zuckender Schwanz, mein Schwanz. Wir waren wieder eins. Eine leider in meinem bisherigen Leben recht seltene Einigkeit in Bezug auf meine und seine Vorstellungen von Liebe oder sogar Partnerschaft.

Das Ölverreiben war schon längst vergessen, immer fester streichelte und rieb ich mich. Es im Stehen vor dem Spiegel zu tun machte mich heute irgendwie total an und das Kopfkino begann zu rotieren.

Bei einem Blick nach unten quollen bereits die kleinen klaren Tropfen aus der Spitze, die ich so mochte. Langsam nahm ich einzelne Tropfen mit der Fingerspitze ab, führte sie genüsslich zum Mund und leckte meinen Finger ab.

›Wer sich nicht selbst lieben kann, kann auch nicht so viel Spaß mit anderen haben, kann niemand anderem so richtig Spaß bereiten‹, ging es mir durch den Kopf. Einer der Lieblingssätze von Anja, … und sehr wahr, wie ich schon öfter zustimmend feststellen musste.

Immer fester und schneller rieb ich und im Kopf jagten sich nur so die Bilder … Anja mit von Gurten gespreizten Beinen auf unserer Liebesschaukel …

Anja, mich mit ihrem großen geilen Mund verschlingend, … Anja, wie wild auf mir reitend …, Anja, vor mir kniend und bis zum letzten Millimeter von mir ausgefüllt … mein hartes Glied, was immer schneller und schneller, vor Nässe glänzend, in ihr verschwand und wieder auftauchte …

Das geliebte und ersehnte Zittern breitete sich blitzartig aus und im hohen Bogen spritzte ich auf mein Lippenstiftantlitz auf den vor mir stehenden Erb-Oma-Spiegel.

›… jetzt heule ich auch noch …‹, wie mir die glitzernden Tropfen, die nun über mein Lippenstiftantlitz laufen, weismachen wollten … ›Hast ja recht …‹, dachte ich nicht nur in Richtung Klein-Paul, langsam wieder zur Ruhe kommend, war eine echt geile Zeit mit Anja … ›Zumindest am Anfang …‹, fügte ich entschuldigend für mich hinzu.

›… Scheiße, Fred kommt pünktlich!‹, schoss es durch meinen Kopf, der gerade noch am Verarbeiten des gerade Erlebten zu kauen hatte, als ich schon von Weitem die schweren und vertraut lauten Schritte im Treppenhaus vernahm. ›Was zuerst, verdammt noch mal, so soll er mich doch auf keinen Fall sehen.‹ Schnell sprintete ich zum Dufttoilettenpapier und riss hastig so viel davon ab, wie ich gerade fassen konnte. ›Wird wohl doch schneller alle als vermutet‹, dachte ich noch, und sprintete schnell zurück zum Spiegel. Genug geweint für heute und mit schnellem Wischen beseitigte ich mein Lippenstiftantlitz vom Erb-Oma-Spiegel. Mit dem langsam klebrig werdenden und sich in seine Einzelteile zerlegenden Dufttoilettenpapier putzte ich die restlichen Lustspuren von meinen Oberschenkeln, rannte dabei im Dämmerlicht meiner Notbeleuchtung zurück zu den Haufen mit meiner Unterwäsche und griff mir wahllos das Erstbeste, das mir zwischen die Finger kam. Halb im Laufen und halb im Hüpfen versuchte ich, mich auf dem Weg zur Tür in den Slip zu zwingen. So notdürftig bekleidet erreichte ich gerade noch rechtzeitig die Tür, an der es schon kräftig wummerte.

»Ha … haa … haaa …«, war alles, was ich aus Freds grinsendem Mund vernahm, als ich die Tür aufriss. »Erwartest wohl schon die nächste Braut?«, lachte Fred. Als er mich nur mit Slip bekleidet vor sich stehen sah. »Kannst dich wieder anziehen, die nächste Dame musst du dir heute Abend erarbeiten, die kommt nicht so einfach hier hereinspaziert. Aber falls du Glück haben willst, würde ich an deiner Stelle andere Unterwäsche tragen. Ha … haa … haaa …« und sein ganzer Körper bog sich vor Lachen.

Erstaunt blickte ich an mir herab und sah entsetzt, dass ich einen Frauenslip trug, genau den, den ich Anja zu unserem Einjährigen geschenkt hatte und zu dem sie sagte: ›… das trage ich mal, wenn ich im Altersheim einen flotten Achtzigjährigen vernaschen will, die haben meist schwache Augen.‹

»Hab dir was mitgebracht, sollst ja nicht leben wie ein Hund« und klirrend stellte er mir ein altes Campingbett in den Flur. In der anderen Hand hielt er noch eine leicht gelbliche, an manchen Stellen sehr stark gelbliche dünne Matratze. Vor seinen Füßen lag dazu noch ein Bündel, das wie eine eingeschnürte Steppdecke aussah. »Hatte gesehen, dass in deinen Beziehungskistenüberresten kein Bett dabei war und ich wollte dieses Museumsstück schon lange entsorgen, wenn du alleine darauf schläfst, müsste es noch ein paar Wochen überleben.«

Nach einer kurzen Begutachtung konnte ich diese wahren Worte nur bestätigen, ›… ist aber immer noch besser, als auf meinem höhleneigenen Sandhaufen zu schlafen‹, dachte ich mir.

»Lass mich mal schnell rein, muss eilig pinkeln, bin fast zwei Stunden ohne eine Pause durch Leipzig gekutscht«.

»Waschbecken putzen oder Stemmeisen besorgen!«, endlich konnte ich auch mal wieder lachen.

Fred schaute mich verwundert an. »Komm mit, ich zeige es dir« und ich führte Fred in meine stark sanierungsbedürftige Toilette. Nach einem sehr verwunderten Blick in die Toilettenschüssel verstand er auf einmal das Problem und wendete sich, eilig schon die Hose öffnend, dem Waschbecken zu.

»Aber auch schön die hartnäckigen Flecken putzen!« kam es spitz von mir, und ich verließ meine Toilettenbaustelle.

Kurze Zeit später stand Fred schon wieder grinsend und die nassen Finger – ich hoffte, nur vom Händewaschen – an der Hose abschmierend vor mir. »Da haste ja ein echtes Problem ha … haa … haaa …, aber auf der Karli gibt es ja zum Glück viele Cafés, die früh für deine größere biologische Gesetzmäßigkeit geöffnet haben. Haa … haaa …, aber im Ernst, da hilft kein Brecheisen, da hilft nur ein Fachmann, der dir ein neues Toilettenbecken einbaut. Ruf morgen früh einfach mal hier an« und Fred hielt mir sein Handy unter die Nase.

Hastig schrieb ich mir die Nummer ab, während Fred laut stapfend meine Höhle begutachtete. Immer mal wieder hörte ich das typische ›ha … haa … haaa …‹

»So viele Nummern von Fachleuten habe nicht mal ich in meinem Handy, mein Lieber. Wenn ich mich hier so umsehe, braucht dieses Loch ein Komplettprogramm … Ha … haa … haaa … Da kannst sogar du noch zum Handwerker werden. Aber nicht verzweifeln, ich helfe dir. Doch jetzt habe ich Feierabend, lass uns endlich auf die Piste gehen.«

Schnell riss ich mir die misslungene Geschenkidee zu unserem Einjährigen vom Leib und suchte mir aus meinen Klamottenstapeln die, so hoffte ich, passenden Bekleidungsstücke – schwarze enge Jeans und T-Shirt, meine Lieblingskapuzenjacke und natürlich rote Schuhe – für den kommenden Abend, ›Nein, Nacht!‹ stellte ich fest, als meine Augen beim Ankleiden zufällig die Normaluhr auf der Karli vor meinem Fenster streifen.

Lust und Liebe dann kam das Leben

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