Читать книгу Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR - Peter Pragal - Страница 4
Augenzeuge beim Mauerfall
ОглавлениеAm Abend des 9. November 1989 saß ich im Wohnzimmer des Künstlers Trak Wendisch in der Florastraße in Berlin-Pankow. Ich war gekommen, um ein Bild auszusuchen, das ich meiner Frau Karin zu ihrem bevorstehenden Geburtstag schenken wollte. Ein Stillleben gefiel mir besonders gut. Ein Fliederstrauß in kräftig rot-violetten Farben. »Das nehme ich«, sagte ich. Über die Konditionen wurden wir uns schnell einig. Trakia, so der korrekte Vorname des Malers, sprach von einer bevorstehenden Reise in den Westen. Er besaß ein Mehrfach-Visum und plante, in den nächsten Tagen zur Kunstmesse nach Köln zu fahren. Seine Frau wollte ihn gern begleiten, glaubte aber nicht, dass die Behörden ihrem Antrag stattgeben würden. Demnächst gebe es ja ein neues Reisegesetz, sagte ich. Danach dürfe praktisch jeder DDR-Bürger in den Westen.
Zwei Stunden zuvor hatte ich an der Pressekonferenz teilgenommen, bei der Politbüromitglied Günter Schabowski im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße über die Beratungen des Zentralkomitees der SED informierte. Der Saal war überfüllt. Journalisten aus Ost und West drängten sich erwartungsvoll auf den Plätzen. Das DDR-Fernsehen übertrug das Frage- und Antwortspiel live. Aber was der SED-Funktionär in den ersten 50 Minuten von sich gab, war nicht sonderlich aufregend. Erst als ein italienischer Kollege gegen 19 Uhr nach dem Reisegesetz fragte, horchten die Medienvertreter auf.
»Wir haben uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen«, erklärte Schabowski. Der Mann war eigentlich eloquent. Was er hier von sich gab, war etwas umständlich formuliert. Er schaute auf einen Zettel und las stockend ab, was da aufgeschrieben war. »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.« Plötzlich war Spannung im Saal. Vorher hatte ich mich ein bisschen gelangweilt, nun war ich wie elektrisiert. Alle Augen richteten sich auf den Funktionär auf dem Podium. Er sah abgespannt aus. Zwischenfragen wurden gerufen. Wann die Regelung in Kraft trete, wollte ein Kollege wissen. Unsicher schaute der Mediensekretär auf die Notizen. »Nach meiner Kenntnis ... sofort, unverzüglich.« Zwei missverständliche, unbedacht gesprochene Worte, mit denen er eine Entwicklung von historischer Dimension auslöste.
Neben mir sprang ein Kollege auf und eilte zum Telefon. »Das ist eine Sensation«, rief er. Andere Journalisten stürzten hinterher. Reporter aus aller Welt hatten ihre Top-Meldung. »Jetzt«, murmelte jemand, »ist die Mauer überflüssig.« Ich dachte an den nächsten Tag und an den Redaktionsschluss. »Da werden wir wohl sehr früh aufstehen müssen«, sagte ich beim Hinausgehen zu einem befreundeten Korrespondenten. So wie wir die Menschen in der DDR kannten, würden sie schon lange vor Öffnung der Volkspolizeiämter anstehen, um sich die Genehmigung für einen Besuch im Westen zu holen. Ich überlegte, zu welcher VP-Stelle ich gehen sollte, um die Leute zu fragen, wie sie sich fühlten. Nun, da das Reisen über die Grenze kein Gnadenakt der Behörden mehr sein sollte. Der Gedanke, dass Ost-Berliner noch am selben Abend freien Ausgang aus dem Mauerstaat fordern würden, kam mir nicht in den Sinn.
Als ich bei meinen Freunden in Pankow eintraf, war die Tagesschau der ARD schon vorbei. »DDR öffnet Grenze«, lautete die Spitzenmeldung. Da machten sich die ersten DDR-Bürger auf den Weg zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Im Fernsehen lief ein Spielfilm. Noch spürten wir nichts von den bevorstehenden Ereignissen. Plötzlich wurde die Handlung unterbrochen. Eine neue Meldung über die Reisefreiheit. Kurz darauf läutete das Telefon. Die Ehefrau nahm den Hörer ab. Ihre Schwester habe sich erkundigt, ob wir mehr wüssten, sagte sie. Es gingen da merkwürdige Gerüchte um. Da hielt mich nichts mehr. Als Reporter wusste ich, was ich zu tun hatte. »Tschüss«, sagte ich, »ich muss sehen, was los ist.«
Ich setzte mich in mein Auto und fuhr in Richtung Grenzübergang. Als ich von der Schönhauser Allee in die Bornholmer Straße einbog, blickte ich auf eine Blechkarawane. Die Kolonne der Wagen war bereits mehrere Hundert Meter lang. Mit jeder Minute wurde sie länger. Hinten anstellen, wäre zwecklos, dachte ich. Mein Auto trug eine blaue DDR-Nummer, ein Sonderkennzeichen, das mich als Korrespondent auswies. Ich fuhr an den Trabis, Wartburgs und Ladas vorbei und kam bis kurz vor den Vorposten. Weiter ging es nicht. »Was ist denn hier los«, fragte ich einen Grenzoffizier. »Sehen Sie doch«, antwortete der Uniformierte und zuckte mit den Schultern. »Oder haben Sie keine Nachrichten gehört?«
Ich schaute mich um. Das Bild, das sich mir bot, war ungewohnt. Sonst warteten hier Besucher aus der Bundesrepublik auf die Kontrolle zur Ausreise. Jetzt war ich umgeben von DDR-Autos. Hinter den Scheiben sah ich überwiegend junge Leute mit fröhlichen Gesichtern. Manche hupten, scherzten und lachten, wie Teilnehmer eines Happenings. »Wir fahren gleich in den Westen«, rief einer durchs geöffnete Fenster. Hinter mir sah ich auf den Gehsteigen Trauben von Menschen, die zur Grenze liefen. An der Endhaltestelle stauten sich die Straßenbahnen. Die Abfertigungsspuren vor mir waren verstopft. Ich hätte mit meinen Papieren passieren dürfen, aber ich war eingekeilt. Die Schlagbäume waren geschlossen. Einige Grenzposten liefen nervös und ratlos hin und her, andere blieben freundlich und locker. Ich holte meinen Schreibblock aus der Tasche, machte mir Notizen und wartete.
Was ich sah, war spektakulär. Nie zuvor in meinen elf Jahren als akkreditierter Korrespondent für die Süddeutsche Zeitung und den Stern hatte ich einen solchen Ansturm von DDR-Bürgern auf die Grenze erlebt. Die wirkliche Dramatik aber spielte sich für mich unsichtbar hinter der Tür des Dienstzimmers von Oberstleutnant Harald Jäger in einer der Baracken ab. Der stellvertretende Leiter der Passkontrolleinheit, den ich erst viele Jahre später persönlich kennenlernte, war an diesem Abend als verantwortlicher Chef ein einsamer Mann. Ein linientreuer, an Befehl und Gehorsam gewöhnter Stasi-Offizier, der sich von seinen Vorgesetzten im Stich gelassen fühlte und in einer äußerst prekären Situation auf sich allein gestellt war. Er war verpflichtet, den Grenzübergang »zuverlässig zu schützen«, also niemanden ohne Befugnis passieren zu lassen. Aber er wusste auch, dass er mit seinen wenigen uniformierten Leuten die Menschenmassen nicht würde aufhalten können, falls diese gewaltsam den Grenzdurchbruch erzwingen wollten. Jäger stand vor einem Gewissenskonflikt und wusste nicht, was er tun sollte. Erst waren es Hunderte, dann Tausende, die sich – angelockt von den Rundfunk- und Fernsehmeldungen über die angeblich offene Grenze – vor den Absperrgittern drängten. Als die Rufe »Tor auf« immer lauter wurden, hatte er seinen Vorgesetzten in der Leitzentrale geradezu angefleht: »Es muss jetzt irgendeine Entscheidung fallen.« Aber der dortige Oberst hatte auch keine Weisung aus Erich Mielkes Staatssicherheits-Ministerium. In einer Stimmung, bei der sich Enttäuschung mit Resignation mischte, rang sich Jäger zu einem eigenmächtigen und folgenreichen Entschluss durch. »Macht den Schlagbaum auf«, befahl er.
Von dem Führungschaos in den Zentralen der DDR-Machthaber ahnte ich nichts, als ich in meinem Auto wartete. Einzelheiten erfuhr ich erst viel später. Grenzoffiziere hatten mir inzwischen einen Weg bis unmittelbar an die Abfertigungsbaracke gebahnt. Da ging plötzlich die Barriere auf. Anfangs versuchten einzelne Grenzer noch, einen Stempel in die ihnen hingehaltenen DDR-Personalausweise einzutragen. Doch schon bald gaben sie es auf. Zöllner standen tatenlos da und verfolgten irritiert das für sie wohl gespenstische Schauspiel. Ich fuhr über die Brücke, passierte den weißen Strich, der die Grenze markierte, und hielt hinter der gelben Telefonzelle auf der rechten Seite der Straße, schräg gegenüber der West-Berliner Zollstation. Mobiltelefone gab es damals noch nicht. Ich nahm einige Münzen aus meiner Geldbörse und rief die Stern-Redaktion in Hamburg an. »Schickt bitte die Fotografen hierher, die Grenze ist offen.« Das könne nicht sein, meinten die Kollegen. Sie schauten gerade im Fernsehen einen Live-Bericht vom Grenzübergang Invalidenstraße. Dort sei alles ruhig. »Ich rede von der Bornholmer Straße«, beharrte ich.
Dann ging ich zu Fuß zurück zur Brücke. Dem Strom von Autos und Fußgängern entgegen, die in immer dichteren Pulks Richtung Westen strebten. West-Berliner Passanten bildeten ein Spalier und applaudierten. Fremde Menschen umarmten sich. »Ich kann es nicht fassen. Das ist Wahnsinn«, schrie einer aus dem Osten. Ein Satz, den ich noch Dutzende Male hörte. Jemand öffnete eine Sektflasche. Viele der Ost-Berliner waren spontan gekommen, von zu Hause, von der Arbeit, aus der Kneipe. Sie wollten testen, ob es wirklich stimmt, was sich in Windeseile herumgesprochen hat: Die Mauer ist offen. »Los, steig ein, ich fahr euch durch die Stadt«, bot jemand einem Paar aus Ost-Berlin an. West-Berliner Polizisten erklärten Pkw-Fahrern, wie sie am schnellsten zum Kurfürstendamm kommen. Zum Ku’damm zog es viele Ostler. »Bloß mal gucken, wie es hier ist.« Ein Passant ließ sich von der ausgelassenen Stimmung nicht anstecken: »Mir ist das unheimlich. Hoffentlich gehen die auch alle wieder nach Hause.«
Als ich genug gesehen und gehört hatte, fuhr ich nach Charlottenburg, in unser Zuhause. Neben der Dienstwohnung in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte hatte ich – anders als in meinen ersten fünf Korrespondenten-Jahren – ab 1984 für meine Familie eine zweite Wohnung gemietet. Meine Frau saß vor dem Fernseher und verfolgte eine Sondersendung. »Die Grenze ist auf«, rief ich. Eben habe der Reporter am Kontrollpunkt Invalidenstraße noch was anderes gesagt, erwiderte sie. »Ruf doch mal den SFB an.« Beim Sender Freies Berlin wussten sie schon Bescheid. Soeben, sagte man mir, sei die Meldung von der Bornholmer Straße gekommen. Kurz nach Mitternacht klingelte es an unserer Haustür. »Hier sind wir.« Ein befreundetes Ehepaar aus Pankow nebst schulpflichtiger Tochter wollte die neue Freiheit ausprobieren. Ihr Sohn war drüben geblieben. Er hatte so fest geschlafen, dass ihn die Eltern nicht wecken mochten. »Wo ist denn Katharina?«, fragte das Mädchen. Unsere Tochter schlief im ersten Stock. Als Rike vor ihrem Bett stand, wurde sie wach. »Was machst du denn hier?«, sagte Katharina schlaftrunken. Dass ein Mädchen aus Ost-Berlin mitten in der Nacht in West-Berlin auftauchte, konnte sie im ersten Moment nicht begreifen. Es war eines dieser kleinen Wunder, die am 9. November und in den Tagen danach viele Deutsche in Berlin und anderswo erlebten.
Für mich begann eine Zeit, die noch hektischer war als die Wochen und Monate zuvor. Menschen tanzten auf der Mauer. Souvenir-»Spechte« klopften Stücke aus dem Beton. Der Westteil der Stadt war voller Ostdeutscher. Vor den Banken standen DDR-Bürger Schlange, um ihre 100 D-Mark Begrüßungsgeld abzuholen. Und in Ost-Berlin, meinem eigentlichen Arbeitsplatz, jagte ein dienstlicher Termin den anderen. Turbulente Zeiten für Journalisten. Bald begann eine Diskussion darüber, wer sich welchen Anteil am Mauerfall zugute halten durfte. Waren es die Blätter eines großen Zeitungskonzerns, die in der Zeit des Kalten Krieges unbeirrt »Macht das Tor auf« gefordert hatten? Vielleicht. Waren es die bundesdeutschen Politiker und Beamten, die seit Beginn der neuen Ost- und Deutschlandpolitik Anfang der siebziger Jahre in mühsamen Verhandlungen mit der DDR die Härten der Teilung zu mildern versuchten? Schon eher. Waren es die Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, die mit großem persönlichem Engagement gesamtdeutsches Bewusstsein unter DDR-Bürgern wachhielten und förderten? Ganz gewiss. Und dann gab es ja auch noch uns, die Korrespondenten und ihre Familien. Auch wir haben in unserem jeweiligen Freundes- und Bekanntenkreis dazu beigetragen, den Menschen Mut zu machen und selbstbewusst gegenüber der sozialistischen Obrigkeit aufzutreten.
Wenn man den 9. November 1989 nicht als Einzelereignis, sondern als Schlusspunkt eines längeren Prozesses versteht, dann haben viele dazu beigetragen: Bürgerrechtler und Oppositionelle, Demonstranten und Botschaftsflüchtlinge. Allesamt Menschen aus der DDR. Auch Ungarn, das den Eisernen Vorhang öffnete, und Michail Gorbatschow, der Reformer aus dem Moskauer Kreml. Und nicht zuletzt der Oberstleutnant von der Bornholmer Straße, der in einer brisanten Situation Mut und gesunden Menschenverstand bewiesen und das schwer bewachte Loch in der Mauer ohne ausdrückliche Weisung als Erster freigegeben hat.
Jedem Kopf, der politisch denken konnte, war zu diesem Zeitpunkt klar, dass es mit der DDR zu Ende gehen würde. Jedenfalls mit der DDR als Staat unter kommunistischer Parteidiktatur. Auch wenn viele der Bürgerrechtler und SED-Gegner von einem eigenständigen, demokratischen deutschen Ost-Staat träumten – früher oder später würden die Deutschen wieder in einem Gemeinwesen ohne Grenze leben. Damit, so überlegte ich, liefe auch meine Zeit als Korrespondent auf einem auswärtigen Posten ab. Ich fing an, Bilanz zu ziehen. Elf Jahre in Ost-Berlin, unterbrochen von unserer Zeit in Bonn – das war für meine Frau und mich die aufregendste und spannendste Etappe unseres bisherigen Lebens, beruflich und privat. Voller Neugier und Enthusiasmus waren wir in dieses für uns weitgehend unbekannte Land gekommen. Offen und lernbegierig. Bereit, Mühsal in Kauf zu nehmen, und willens, menschliche Gräben einzuebnen statt sie aufzureißen. Mit unseren Freunden haben wir gehofft, dass es ihnen besser gehen möge. Materiell und geistig. Und wir haben mit ihnen gelitten, wenn ihre Erwartungen enttäuscht und Ansätze von Reformen und Freizügigkeit von der Funktionärsherrschaft erstickt wurden.
Als ich 1974 nach Ost-Berlin zog, begannen die zarten Pflanzen der Hoffnung gerade zu sprießen. Erich Honecker, erst seit 1971 im Spitzenamt der SED, erweckte den Eindruck, als wollte er die verkrustete Partei auf einen vorsichtigen Reformkurs führen und seine politischen Ziele vor allem am Wohl der Bürger und ihren Bedürfnissen ausrichten. Das Konsumangebot wurde verbessert, ein Wohnungsbauprogramm verabschiedet, ein Bündel sozialer Verbesserungen beschlossen. Künstlern und Intellektuellen versprach der Parteichef mehr Freiheit, vorausgesetzt, sie stellten den Sozialismus nicht in Frage. Wenige Jahre später war der kulturpolitische Frühling schon wieder vorbei. Als im Herbst 1976 zahlreiche Schriftsteller und andere Vertreter der Kulturszene gegen die Zwangsausbürgerung des rebellischen Sängers Wolf Biermann protestierten, griff die in einem starren Freund-Feind-Denken gefangene Parteiführung wieder nach den Instrumenten der Repression.
Vollbeschäftigung, stabile Preise, soziale Sicherheit – damit meinte die SED-Führung sich die Zustimmung des Volkes sichern zu können. Auf Dauer. Aber das war ein Irrtum. Denn die viel gepriesenen Wohltaten waren auf Pump finanziert. Die DDR lebte über ihre Verhältnisse. Schulden wurden mit neuen Schulden bezahlt, Industrie und Wirtschaft, belastet durch eine starre, zentrale Planung, auf Verschleiß gefahren. Mit Hilfe der Bundesrepublik wurde der langsame Niedergang verschleiert. Die DDR ließ sich Bonner Wünsche nach mehr Durchlässigkeit der Grenze und den Ausbau der Verbindungen zu West-Berlin teuer honorieren. »Geld gegen Menschlichkeit« wurde zur dauerhaften Geschäftsgrundlage der deutsch-deutschen Zusammenarbeit, egal ob in der Bundeshauptstadt Sozial- oder Christdemokraten regierten.
Um möglichst viel harte Währung in die Staatskasse zu bekommen, lockerte die DDR-Führung die Devisenbestimmungen und baute ihr Intershop-Netz aus. Läden, in denen West-Waren gegen West-Geld verkauft wurden. Die Folgen wirkten sich für Honecker und Genossen verheerend aus. Nicht mehr der reale Sozialismus, sondern der kapitalistische Westen setzte die Maßstäbe für den Lebensstandard der DDR-Bürger. Sich ideologisch von der insgeheim bewunderten Bundesrepublik abzugrenzen, wurde immer schwieriger. Wer sollte unter diesen Umständen der Parteipropaganda glauben, der Sozialismus werde siegen, wenn jeden Tag die Überlegenheit westlicher Erzeugnisse vor Augen geführt wurde?
Stur behaupteten die roten Staatslenker, die DDR habe sich kontinuierlich und gradlinig entwickelt. In Wirklichkeit gab es zahlreiche Wendemanöver und abrupte Kurswechsel. Erst ließ man die Zügel der Unterdrückung etwas lockerer, dann zog man sie wieder straff an. Mal versprach die SED mehr Rechtssicherheit, dann ließ sie der Willkür freien Lauf. Zeitweise führten sich die Spitzenfunktionäre als Friedensfürsten auf und trieben zugleich die Militarisierung der Schulen und der Gesellschaft voran. Widersprüche über Widersprüche, und ein Zick-Zack-Kurs gegenüber dem eigenen Volk wie gegenüber der Bundesrepublik. Je länger die Ära Honecker währte, desto stärker zeigten sich die Spuren des Obrigkeitsstaates, der seine Bürger entmündigte. Staatsverdrossenheit und Verantwortungsscheu, Arbeitsschlamperei und politische Apathie breiteten sich rasant aus. »Privat geht vor Katastrophe«, lautete der Volksspruch. Selbst viele SED-Mitglieder verfielen der Resignation. »Die Genossen werden sich schon etwas dabei gedacht haben«, sagten sie mit bitterer Ironie, wenn sie wieder einmal eine Entscheidung von oben nicht verstanden hatten.
Ihre letzte Chance, den Untergang aufzuhalten, vergaben die Herrscher im Zentralkomitee und im Politbüro, als sie sich gegen die Moskauer Reformpolitik stellten. Eigensüchtig, halsstarrig und realitätsblind. Seit seiner Gründung lebte der SED-Staat vom Wohlwollen und vom Schutz der Sowjetunion. Ohne den Rückhalt aus Moskau war die DDR nicht lebensfähig. Als Honecker dann auch noch den Massen von Flüchtlingen, die über Ungarn der DDR den Rücken kehrten, den zynischen Satz nachrief, niemand weine ihnen eine Träne nach, verloren auch treue Anhänger den Glauben an die Führungskunst ihrer selbst ernannten Herrscher. Viele SED-Mitglieder deckten die Parteibüros mit kritischen Briefen ein oder gaben desillusioniert ihre Mitgliedsbücher zurück. Honecker und seine Mitregenten, so stellte sich mir und vielen anderen Menschen nach der Grenzöffnung die Lage dar, haben ihren mit Zwang zusammengehaltenen Staat in den Bankrott geführt. Politisch, ökonomisch und moralisch. Aber wer hat das, als ich meine Arbeit als Korrespondent begann, vorausgesehen? Ich jedenfalls nicht.