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Nachbarn, Freunde und Bekannte

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»Wir gehen ins Kino, wollt ihr mit?« Was denn gezeigt werde, wollten wir von unseren Ost-Berliner Freunden wissen. »1900«, von Bernardo Bertolucci. Den Film hatten wir noch nicht gesehen. Wir baten die Frau des Hausmeisters, auf unsere Kinder aufzupassen, setzten uns ins Auto und fuhren zum »Toni« am Antonplatz im Stadtbezirk Weißensee. Das Epos über die Auseinandersetzung zwischen Faschisten und Kommunisten in Italien wühlte uns auf. Wir fuhren gemeinsam nach Hause, um darüber zu diskutieren. Sie wundere sich, dass dieser Film überhaupt in der DDR gezeigt werde, sagte meine Frau. Unsere Freunde schauten sie erstaunt an. Wieso, fragten sie. Der Regisseur sei bekennender Marxist und zeige die Brutalität und Menschenverachtung der Faschisten. »Eben darum«, beharrte meine Frau. »Das ist doch wie hier.« Auch die DDR sei ein Polizeistaat, in dem die Menschenrechte verletzt würden. Unsere Freunde protestierten heftig.

Sie waren nicht in der SED und standen dem Regime kritisch gegenüber. Aber diesen Vergleich wollten sie nicht zulassen. Er provozierte sie. Sie waren »im antifaschistischen Geist« erzogen. Und danach waren Kommunisten – historisch betrachtet – nicht Täter, sondern Opfer. Im Film hatten Faschisten ihre Gegner auf einen mit hohen Drahtzäunen umgebenen Sportplatz getrieben. »Ihr seid doch auch eingesperrt«, sagten wir. Wir fetzten uns verbal, bis es draußen hell wurde. Streckenweise sehr emotional. Schließlich haben wir den Disput abgebrochen, weil wir müde waren und wenigstens noch eine Stunde bis zum Aufwachen der Kinder schlafen wollten. Nie zuvor haben wir so intensiv diskutiert und gestritten wie in unseren ersten Jahren in Ost-Berlin. Unsere Gegenwart löste immer neue Kontroversen aus. Über die Ost-Politik der sozial-liberalen Bundesregierung, über Umweltschutz und Marktwirtschaft, über die Arroganz von Bundesbürgern und Erfahrungen mit West-Besuchern. Auch über Kindererziehung, Umgangsformen, Esskultur und die Stellung der Frau in der Gesellschaft.

Ostler haben oft auf ihren Staat geschimpft, auf die Mängel und Unzulänglichkeiten und die Borniertheit seiner Diener. Aber wehe, Westdeutsche oder West-Berliner maßten sich an mitzumosern, die Wertungen der Ostler durch eigene Urteile zu ergänzen. Und dies womöglich noch in überheblicher Pose. Plötzlich verteidigten DDR-Bürger Zustände, die sie noch kurz zuvor kritisiert hatten. Gespräche im Osten waren anstrengend. Auch für uns. Die Fragen waren unbequem. Phrasen ließ man uns nicht durchgehen. Man musste seine Sätze kontrollieren und wägen, musste lernen, Empfindsamkeiten rechtzeitig zu erkennen. Erst als wir uns besser verstanden, als aus Bekannten Freunde geworden waren, brauchten wir nicht mehr jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Konnten auch schon mal ironisch von den »Zonis« sprechen, ohne befürchten zu müssen, für reaktionär gehalten zu werden.

Als wir nach Ost-Berlin zogen, kannten wir lediglich eine DDR-Bürgerin, der wir bei einem Urlaub am Goldstrand in Bulgarien begegnet waren. Über sie lernten wir andere Ost-Berliner kennen. Das setzte sich fort wie bei einem Schneeballsystem. Schon nach wenigen Wochen zählte der Kreis der Bekannten ein Dutzend und mehr. Mit jeder Party, zu der man uns einlud, wurde die Zahl der Menschen, die dann auch bei uns ein- und ausgingen, größer. Kaum jemand, dem wir unsere Adresse gegeben hatten, meldete sich an. In vielen Haushalten gab es kein Telefon. Außerdem wollte man vermeiden, dass die Stasi schon vorab Bescheid wusste. In der Regel standen die Besucher vor der Tür und klingelten. Unser Domizil im Plattenbau wurde zur Wohnung der offenen Tür.

Für unsere Besucher waren wir Exoten, Menschen aus einer anderen, für sie nicht zugänglichen Welt. »Es war so, als würde ein Fenster aufgemacht«, hat die 2006 verstorbene Schauspielerin Jenny Gröllmann gesagt. Bei uns sahen sie Bücher, die es in der DDR nicht gab. Sie schauten in Zeitungen und Zeitschriften, die ein gewöhnlicher Bürger des Arbeiter- und Bauernstaates nie zu Gesicht bekam. Vor allem aber konnten sie mit uns reden, uns fragen, uns beim Wort nehmen. Manche unserer Gäste ließ ich meine gedruckten und noch nicht veröffentlichten Artikel lesen. »Wie seht ihr das?«, wollte ich wissen. »Wenn ihr Einwände habt, sagt es.« Wechselseitig haben wir voneinander gelernt, haben Verständnis füreinander entwickelt.

Wenn Bundesbürger bei Verwandten in der DDR zu Besuch waren, haben sich beide Seiten oft etwas vorgemacht. Ostler haben die Tische üppig gedeckt und dabei verschwiegen, dass sie tagelang in Delikat- und sonstigen Läden herumgelaufen sind, um die Lebensmittel zu besorgen. Und Westler haben stolz ihre Autos vorgeführt, die sie nicht selten gebraucht oder auf Kredit gekauft hatten. Hinter die Fassaden hat man die anderen möglichst nicht schauen lassen. Und über Sorgen und Probleme sprach man ungern. Unser Leben dagegen war für die neuen Freunde transparent. Sie konnten überprüfen, ob bei uns Worte und Taten übereinstimmten, ob wir in Gesprächen Werte vertraten, nach denen wir auch im Familienalltag handelten. Unsere Glaubwürdigkeit stand täglich auf dem Prüfstand.

Unter den Menschen, die wir kennenlernten, waren Neugierige und Ängstliche, Sorglose und Misstrauische. Manche standen loyal zu ihrem Staat, andere machten aus ihrer Abneigung gegen den totalen Machtanspruch der regierenden Partei keinen Hehl. Oft hing die Bereitschaft, sich auf uns einzulassen, vom Beruf ab. Schauspieler, Musiker und Filmleute gehörten zu den Kontaktfreudigen, die sich über Abgrenzungsregeln der Machthaber am ehesten hinwegsetzten. Auch Ärzte und Naturwissenschaftler zeigten im Umgang wenig Scheu. Der Stasi blieb nicht verborgen, wer uns besuchte. »Pragal hat sich in einem Jahr einen DDR-Bekanntenkreis von 60 Personen aufgebaut«, lese ich in meiner Akte. »Der größte Teil gehört zur Intelligenz und ist prowestlich eingestellt.« Viele unserer neuen Bekannten sorgten sich, die Kontakte mit den West-Menschen könnten ihnen beruflich schaden. In etlichen Fällen war dies berechtigt. Aber meistens war die Neugier größer als die Angst. Und wenn aus dem gewachsenen Vertrauen erst einmal Freundschaft geworden war, hatten die Abgrenzungs-Ideologen der SED keine Chance. Mehr noch: Der Umgang mit den Westlern machte DDR-Bürger mutiger. »Durch euch«, sagt Henning Schaller, damals Bühnenbildner am Maxim-Gorki-Theater Berlin, »habe ich meine Anti-Haltung mit größerer Sicherheit gelebt.« Unsere Freundschaft war für ihn und seine Familie ein Schutz. Weder hat die Stasi versucht, ihn als Inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben, noch hat sie ihn offen schikaniert. Nach der Vereinigung wurde er Professor an der Kunsthochschule in Dresden.

»Ihr habt es aber sehr nett hier.« Den Satz aus dem Munde von DDR-Bürgern haben wir oft gehört. Die Einrichtung unserer Wohnung unterschied sich von der Standard-Möblierung in den Plattenneubauten. Bei uns stand nicht die übliche dunkle Schrankwand, sondern ein aus Nussbaumholz gefertigter Biedermeierschrank. Statt einer wuchtigen Sitzgruppe, die das halbe Zimmer vollstellte, gab es ein englisches Sofa und entsprechende Sessel. Und auch die beiden Empiretische, auf denen Lampen mit Porzellanfüßen standen, entsprachen nicht dem Muster der propagierten sozialistischen Wohnkultur.

Im Laufe der Zeit haben wir Menschen getroffen, die ebenfalls Antiquitäten schätzten und besaßen. Menschen, die einem bürgerlichen Milieu entstammten und sich in ihrem Wohn- und Lebensstil bewusst von den Geschmacksvorgaben der herrschenden Funktionärsschicht abhoben. Aber im sozialistischen deutschen Staat, in dem kollektive Behaglichkeit mehr zählte als die Ästhetik von Individualisten, bildeten sie eine Minderheit. In den siebziger Jahren, als Hunderttausende DDR-Bürger aus heruntergekommenen Vorkriegshäusern, oft mit Außentoilette auf der halben Treppe, in neue Plattenbauten mit Fernheizung umzogen, verhielten sich Ostdeutsche so wie Millionen Westdeutsche etliche Jahre zuvor. Man wollte moderne Möbel und entledigte sich des vermeintlichen Plunders ihrer alten Einrichtungen, die von den Eltern und Großeltern stammten.

Mit den elektronischen Geräten, die sie in unserer Wohnung sahen, haben wir bei Besuchern Unverständnis, ja sogar Enttäuschung hervorgerufen. Wer aus dem Westen kommt, so dachten sie, der müsste technisch auf dem neuesten Stand sein. Aber das waren wir nicht. Unser tragbarer Fernsehapparat war schon ein paar Jahre alt, der Plattenspieler auch. Das Radio im Wohnzimmer war zwar ein neueres Modell, aber weit davon entfernt, HiFi-Qualität zu bieten. Und dann stand im Schlafzimmer noch ein alter Röhrenempfänger in einem Holzgehäuse. Geräte dieser Art waren selbst in der DDR längst aus der Mode und konnten bestenfalls als Liebhaberstück durchgehen. »Das ist ja unfassbar«, sagte ein befreundeter Physiker. Er war ein Elektronik-Freak und konnte nicht begreifen, warum wir uns mit einem derartigen Fossil von Radio begnügten. Ein Nachbar, der sich später als Stasi-Spitzel entpuppte, vermutete indes, das Uralt-Radio sei nur Tarnung. Es diene in Wahrheit dazu, von einem westlichen Geheimdienst verschlüsselte Nachrichten zu empfangen. In einem auf Tonband gesprochenen Bericht an seinen Führungsoffizier über Beobachtungen in unserer Wohnung hat er speziell die Wellenbereiche des Radios angegeben. Die Langwelle hielt er für so wichtig, dass er sich sogar die Kilohertz-Zahlen einprägte.

Versandhauskataloge übten auf DDR-Bürger einen besonderen Reiz aus. Sie blätterten fasziniert in den bunten Angebotsbüchern und staunten über die Fülle der offerierten Waren. Manche fragten zaghaft, ob sie sich die Kataloge für ein paar Tage ausleihen dürften. Andere sagten, sie hätten gern ein eigenes Exemplar. Beim Anschauen blieb es nicht. Etliche hatten West-Verwandte und besaßen D-Mark. Meine Frau notierte sich ihre Wünsche, ließ die Artikel auf ihren Namen an unsere West-Berliner Postfachadresse kommen und brachte die Pakete im Auto in unsere Wohnung. Die Ost-Freunde mussten nun nicht mehr ihre bundesdeutschen Verwandten oder die DDR-Oma, die als Rentnerin in den Westen reisen durfte, um einen Gefallen bitten. Leute, die uns noch nicht lange kannten, fragten uns manchmal, was wir für die Sachen bekämen. Sie meinten, wir verlangten einen Aufschlag. »Das, was sie kosten«, sagten wir. Wir betrachteten den Warentransport als Freundschaftsdienst.

In den West-Katalogen entdeckten Freunde mitunter Waren, die ihnen bekannt vorkamen. Etwa Möbel, die in der DDR hergestellt worden waren und die es dort nur in seltenen Glücksfällen zu kaufen gab. In der Regel waren es Produkte der zweiten Wahl, die irgendeinen Fehler hatten und von westdeutschen Einkäufern nicht genommen wurden. Der Vergleich der Preise hat unsere DDR-Freunde schockiert. Das Versandhaus bot eine komplette Sitzgarnitur zu einem D-Mark-Preis an, für den sie in Ost-Mark gerade mal einen Sessel hätten erstehen können. Schlagartig wurde unseren Freunden klar, wie billig volkseigene Produkte, die auf dem Binnenmarkt fehlten, ins »kapitalistische Ausland« verhökert wurden. Und wie tief ihnen der sozialistische Staat mit den überhöht festgesetzten Preisen selbst in die Tasche griff. Hätten sie geahnt, in welch gigantischem Umfang heimische Erzeugnisse zu Dumping-Preisen verschleudert wurden, ihre Empörung über die Machthaber wäre schon damals so groß gewesen wie gegen Ende der DDR, als sich selbst SED-Genossen von ihren vergreisten Regenten abwandten.

Je mehr Leute wir kennenlernten, desto umfangreicher und spezieller wurden die Aufträge. Meine Frau, die sich weitaus mehr als ich um die Erfüllung der Warenwünsche kümmerte, lernte viele Fachgeschäfte in den westlichen Stadtbezirken kennen. Einer unserer Freunde, ein leidenschaftlicher Bastler, benötigte bestimmte Elektronikteile. Ein Arztehepaar, das sich am östlichen Stadtrand ein Haus baute, wollte eine Duschtrennwand fürs Badezimmer. Und ein Handwerker überraschte uns mit der Bitte, für seinen Nachwuchs die Kinderbücher von Erich Kästner zu besorgen. Von »Emil und die Detektive« bis zu »Pünktchen und Anton«. Die Bände gab es in den Buchhandlungen der DDR nicht.

Zu den Vorzügen unseres Korrespondenten-Lebens gehörte die Möglichkeit, im Versina einzukaufen. So hieß das von der DDR-Regierung betriebene Unternehmen zur Versorgung von Diplomaten mit zollfreien Waren und Dienstleistungen. Der Valuta-Shop in der Otto-Grotewohl-Straße (heute Wilhelmstraße) bot Zigaretten, Spirituosen und Kaffee zu konkurrenzlos niedrigen Preisen. Eine Stange Camel oder Kent kostete in den siebziger Jahren 5,50 DM, eine Flasche Weinbrand 2,80 DM. Das war deutlich weniger, als man im DDR-Intershop zahlen musste. Das Sortiment bei Versina wurde ständig erweitert. Es reichte von Parfum über Haushaltsgeräte bis zu Lebensmitteln. Als es in der Grotewohl-Straße zu eng wurde, zog der Diplomaten-Laden in einen von Schweden errichteten Neubau im Stadtteil Marzahn. Natürlich wussten die Mitarbeiter, dass die Kunden mit den Sonderausweisen nicht nur ihren eigenen Bedarf deckten. Doch verkauft wurde ohne Mengenbeschränkung. Es gab Abnehmer, die orderten bei einem einzigen Besuch hundert Stangen Zigaretten. Die Billig-Ware wurde häufig per Auto nach West-Berlin geschmuggelt und an Händler und Hehlerringe abgesetzt. Angehörige und Bedienstete von Botschaften besserten durch solche illegalen Geschäfte ihr Gehalt auf. Ganz ohne Risiko war das nicht. In der DDR akkreditierte Diplomaten genossen im Westteil der Stadt keine Immunität. Am Checkpoint Charlie und anderen Grenzübergängen ließ der Westzoll schon mal stichprobenartig die Kofferräume öffnen. In krassen Fällen wurde nicht nur die Ware beschlagnahmt, sondern mitunter das Auto gleich mit.

Auch wir haben mehr gekauft als wir selbst verbrauchten. Wenn wir irgendwo eingeladen waren, nahmen wir oft eine Flasche Whisky oder Cognac mit und erfreuten damit unsere DDR-Gastgeber. Ein befreundetes Ehepaar hatte in einem Dorf an der Ostseeküste ein kleines Bauernhaus erworben, das es zum Feriendomizil umbauen wollte. Örtliche Handwerker waren schwer zu bekommen. Neben Geld musste man mehr zu bieten haben. Etwa Schnaps einer westlichen Marke. Wir halfen mit Dutzenden Flaschen eines Weinbrands aus, der einen französischen Fantasienamen trug. Im Grunde war der Inhalt »ein Rachenputzer«. Die Bauleute aus Vorpommern aber ließen sich damit locken und halfen mit, das Gebäude zu renovieren. Über Bekannte lernten wir einen privaten Fleischer kennen. Der verwendete für seine von den Kunden hochgeschätzten Würste Naturdarm, der in der DDR schwer zu beschaffen war. Er bekam ihn von seinem Lieferanten nur gegen Whisky, den er mit Valuta im Intershop kaufte. Für den »Johnnie Walker«, den wir ihm besorgten, musste er viel weniger zahlen. Er revanchierte sich, indem er uns Filets gab, die – weil sie rar und begehrt waren – zumeist gar nicht erst auf die Fleischtheke kamen. Die Menge war so üppig, dass wir die Filets zum größten Teil an unsere Freunde Weitergaben.

Indem wir mitmachten in diesem System des Gebens und Nehmens, haben wir bald begriffen, wie die DDR-Gesellschaft wirklich funktionierte. Jeder, der etwas zu bieten hatte – sei es eine Ware oder eine Dienstleistung – war bestrebt, etwas anderes zu bekommen, das ihm fehlte. Die starre Planwirtschaft wurde von den Bürgern durch Tauschgeschäfte aller Art unterlaufen. Wer Beziehungen hatte, spielte diesen Vorteil ungeniert aus. Jemanden zu kennen, der an Autoersatzteile herankam, war Gold wert. Manch einer entwickelte dabei herausragende Fähigkeiten, die es ihm ermöglichten, auch in einer Mangelgesellschaft ganz gut über die Runden zu kommen.

Wer als Westler im Osten wohnte, konnte sich den vielfältigen Bitten, mit denen er konfrontiert wurde, nur schwer entziehen. Gewiss gab es unter den bundesdeutschen Diplomaten extrem vorsichtige Naturen, die sich überaus korrekt an alle Gesetze und Verordnungen der DDR hielten. Korrespondenten litten weniger unter solchen Skrupeln. Briefe zu befördern, die nicht von der Stasi gelesen werden sollten, waren für mich und die meisten meiner Kollegen selbstverständlich. Manuskripte von ostdeutschen Autoren habe ich ebenso »nach drüben« geschafft wie Filme von Ost-Berliner Fotografen. Was uns bevorzugt in Ost-Berlin lebende Westler dazu trieb, gegen DDR-Bestimmungen zu verstoßen, war nicht Abenteurertum oder Lust an der Provokation, sondern das Bewusstsein, die Härten der deutschen Spaltung lindern zu können. Wie konnte man jemanden abweisen, der aus der DDR herauswollte und sich mit seinem Begehren schriftlich an bundesdeutsche Behörden oder an die Menschenrechtskommission der UNO wandte? Wir Korrespondenten wussten, wie die »stille Diplomatie« funktionierte. Wir hatten mitbekommen, dass sich hinter den Kulissen oftmals mehr zugunsten bedrängter Menschen regeln ließ, als wenn man den Fall an die große Glocke hängte.

Einige der humanitären Dienste waren politisch heikel. Da war zum Beispiel ein Ost-Berliner Krankenhausarzt, der bei einer Dienstreise im Westen geblieben war. Er hoffte, dass seine Frau und seine beiden Kinder bald in die Bundesrepublik nachkommen dürften. Aber die DDR-Behörden, die an ihm ein Exempel statuieren wollten, verweigerten die Ausreise. Mehr als drei Jahre lang. Um im Westen arbeiten zu können, benötigte der geflüchtete Arzt Dokumente, darunter seine Promotionsurkunde. Die hatte er, um bei der Ausreise-Kontrolle nicht aufzufallen, zu Hause gelassen. Wir sorgten dafür, dass er die Papiere bekam. Und wenn wir seiner Frau außer schriftlichen Nachrichten den von ihm in West-Berlin besorgten Wochenendeinkauf einschließlich Katzenstreu brachten, nahmen wir auf dem Rückweg Briefe an ihn mit. So blieben die getrennten Eheleute in unkontrolliertem Kontakt.

Die Stasi hat den Kurierdienst mitbekommen, ohne freilich im Detail zu wissen, was alles hin- und hertransportiert wurde. Sie schaute mir nicht nur in meiner beruflichen Tätigkeit auf die Finger. Sie sammelte auch eifrig Informationen, die dazu dienten, Korrespondenten zu kriminalisieren. Das Augenmerk der Stasi-Offiziere richtete sich besonders auf meine Frau. Wie über mich so hatten sie auch über sie eine Akte angelegt, in der die Paragrafen des Strafgesetzbuches aufgelistet waren, gegen die sie laut Stasi-Verdächtigungen verstoßen habe. »Die P. steht im Verdacht«, so heißt es dort, »ihren Ehemann bei der Begehung von Straftaten zu unterstützen bzw. arbeitsteilig mit ihm vorzugehen.« In einem weiteren Satz musste die Stasi allerdings einräumen, dass sie konkret wenig in der Hand hatte, was sie offiziell verwerten konnte. »Die bisher erarbeiteten, den Verdacht begründenden Hinweise tragen inoffiziellen Charakter.« Und das bedeutete: Gegenüber der Justiz waren die Erkenntnisse nicht zu verwerten.

»Da wird mir ja jetzt noch ganz komisch.« Frau Freitag schaut auf ein Blatt Papier mit der Überschrift: »Auskunftsbericht zum operativen Material Freitag.« Sie liest und sagt verblüfft: »Was die alles gewusst haben.« Freitag ist nicht ihr wirklicher Name. Wir haben sie nur so genannt. Weil sie aus Furcht, bei der Stasi aufzufallen, es so wollte. Frau Freitag war in Ost-Berlin unsere Putzfrau. Eine »illegale Reinigungskraft«, wie sie jetzt in dem Aktenvermerk des MfS liest. Wir haben uns lange nicht gesehen. Sie hat noch einmal geheiratet. Ihr neuer Name war meiner Frau und mir unbekannt. Erst durch gemeinsame Bekannte aus DDR-Zeiten haben wir ihre neue Adresse herausgefunden.

Im Frühjahr 1974 stand sie zum ersten Mal in unserer Wohnung in der Ho-Chi-Minh-Straße. Eine kleine, schmächtige Frau, der man ihre Unsicherheit ansah. Begleitet wurde sie von ihrem damaligen Ehemann, einem gelernten Schlosser, der unseren Hausmeister kannte. Den hatte meine Frau gefragt, ob er nicht jemanden wüsste, der bei der Reinigung der Wohnung helfen könnte. Frau Freitag sah sich um, ging durch die Wohnung und willigte ein. Sie kündigte ihre Arbeitsstelle beim Staatlichen Außenhandel und kam fortan zweimal in der Woche für jeweils fünf Stunden. Dafür bekam sie 50 D-Mark. »Das war viel Geld«, sagt sie. Ihr Wochenverdienst entsprach nach dem Schwarzmarkt-Kurs etwa 200 Mark Ost. Der neue Job war lukrativ: In zehn Stunden Arbeit bei uns verdiente sie ungefähr so viel wie in 43¾ Stunden regulärer Wochenarbeitszeit vorher. Der Gewinn an freier Zeit kam ihrem Sohn zugute.

»Ich habe mich bei Ihnen wohlgefühlt«, sagt Frau Freitag. »Und ich habe mir viel abgeguckt.« Etwa, wie wir Gäste bewirtet haben. »Ich komme aus einfachen Verhältnissen«, erzählt sie. Wie sollte sie wissen, wie man den Tisch für ein Essen mit mehreren Gängen deckt. Die Erfahrungen kamen ihr später zugute. Nach dem Ende der DDR hat sie eine Pension eröffnet, die sie noch heute erfolgreich führt. Zwölf Jahre, während meiner gesamten Korrespondenten-Zeit, hat Frau Freitag bei uns geholfen. Umsichtig, fleißig, zuverlässig. Eine »Perle«, die wir an andere West-Haushalte in Ost-Berlin vermittelt haben. »Zwischendurch habe ich schon mal Angst bekommen«, sagt Frau Freitag. Aber die hat sie erfolgreich verdrängt.

Die Stasi hat sie beobachtet, aber gewähren lassen. Frau Freitag besitze einen Schlüssel zur Wohnung des Pragal, steht in einem Aktenvermerk, den ich ihr bei unserem Besuch mitgebracht habe. »Somit ist sie in der Lage, diese auch in der Abwesenheit von Pragal aufzusuchen.« Nie, sagt Frau Freitag, sei sie von der Stasi angesprochen worden. Warum habe man nicht versucht, sie zu erpressen. Die Frage lässt ihr keine Ruhe. »Sie waren zu nahe an uns«, mutmaße ich. »Sie hätten uns davon erzählen, und ich hätte darüber berichten können. Das wollte man vermeiden.« Stattdessen hat das MfS sie ausgeforscht. Ihre Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse ebenso wie die Arbeitsstelle ihres Lebensgefährten. »Anlage: Kontaktübersicht zum Material Freitag«, steht am Schluss des Vermerks von Leutnant R. Das Papier fehlt. Schade, wir hätten gern gewusst, was der Offizier noch alles aufgeschrieben hat.

Abgesehen von Einkaufs- und Besorgungsfahrten führte uns in den siebziger Jahren selten der Weg nach Berlin (West). In Ost-Berlin kannten wir uns aus. Hier lebten die Menschen, mit denen wir Umgang hatten. Ich lernte, mich zu bewegen, ohne als Westler aufzufallen. »Pragal war bemüht, wie ein DDR-Bürger zu leben und zu denken«, stellte ein Stasi-Offizier fest. Das stimmte. Mehr und mehr nahm ich die Umwelt im realen Sozialismus mit den Augen meiner Freunde wahr. Ich lernte zwischen den Zeilen zu lesen, Vorgänge wahrzunehmen, die sich nicht einfach in ein Schwarz-Weiß-Klischee einfügen ließen. Ich legte auch ihre Maßstäbe an, verglich ideologischen Anspruch mit der sozialen Realität. Und da ich darüber schrieb, die wachsende Diskrepanz an Beispielen aus dem Alltag darstellte, hielten manche Staatsdiener mich, den erklärten Anhänger einer selbstbewussten, offensiven Entspannungspolitik, für gefährlicher als einen kalten Krieger aus dem erzkonservativen Lager.

In Ost-Berlin bekamen wir auch Besuch von westdeutschen Freunden und Bekannten. Sie waren neugierig und wollten wissen, wie wir leben. Sie reisten mit Tagesvisum ein und mussten »die Hauptstadt« um Mitternacht verlassen. Eines Tages war unser Wohnzimmer mal wieder voll von Menschen. Bürger Ost und Bürger West. Ab 22 Uhr wurden die Wessis unruhig. Sie blickten auf die Uhr und meinten, sie müssten uns bald verlassen, um rechtzeitig zum Grenzübergang zu kommen. Ab 23 Uhr bestand die verbliebene Runde nur noch aus Ostlern, meiner Frau und mir. »So, jetzt sind wir unter uns«, sagte eine Nachbarin, als der letzte Bundesbürger gegangen war. Da wussten wir: Jetzt sind wir wirklich angekommen und gehören dazu.

Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR

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