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Immer unter Kontrolle

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Am 6. Juli 1993 sitze ich in einem Raum der Stasi-Unterlagenbehörde und lese in meinen Akten. Stunde um Stunde arbeite ich mich durch die Berge von Papier. Wie schon am Tag zuvor. Viele Opfer der SED-Diktatur haben sich vor diesen Stunden der Wahrheit gefürchtet. Die Vorstellung, jemand aus ihrem Verwandten- und Freundeskreis könnte sie bespitzelt haben, hat ihnen schon vor der Konfrontation mit den Aufzeichnungen schlaflose Nächte bereitet. Mir nicht. Ich bin vorbereitet und ohne Illusionen. Neugierig bin ich, das ja. Neugierig auf das Material, das Erich Mielkes Leute über mich gesammelt haben. Doch im Gegensatz zu DDR-Bürgern fühle ich mich nicht als Opfer, eher als publizistischer Gegenspieler der untergegangenen Staatsmacht.

Was ich über Inoffizielle Mitarbeiter bei der Lektüre erfahre, regt mich nicht sonderlich auf. Echte Freunde sind es nicht gewesen, die auf mich angesetzt waren. Es waren überwiegend Leute, die ich etwas geringschätzig als »Laufkundschaft« betrachtete. Bekannte, die ich ausgefragt, »abgeschöpft«, wie es im Stasi-Jargon heißt, aber nicht ins Vertrauen gezogen habe. Was andere schmerzhaft erlebten, bleibt mir anscheinend erspart. Niemand, zu dem ich eine enge Beziehung habe, hat mich hintergangen. Ich lese weiter. Ohne Beunruhigung und ohne besondere Emotionen. Sachstandsberichte mit Bewertungen meiner journalistischen Arbeit, Protokolle über Observierungen, IM-Berichte, Operativpläne, Vermerke und Auswertungen. Verfasst in einem gleichbleibend hölzernen Bürokraten-Deutsch.

Plötzlich wird mir heiß. Ich blicke auf eine Kopie mit Aufzeichnungen in meiner Handschrift. Ich fühle, wie mir Blut in den Kopf schießt. Hastig blättere ich, schaue mir die nächsten Seiten an. Vor mir liegen die Ablichtungen eines sehr privaten Tagebuchs. In einem Stenoblock habe ich meine Empfindungen während einer kritischen Phase unseres Ehelebens aufgeschrieben. Er lag ganz unten in meiner Schreibtischschublade. Begraben unter dienstlichen Papieren. Und nur für mich bestimmt. Verdammt noch mal, denke ich. Was geht den Staatssicherheitsdienst unser Intimleben an? Das war naiv. Dass der Stasi-Apparat keine Tabus kennt, war mir eigentlich klar. In der Theorie. Jetzt bin ich mit der Praxis konfrontiert. Der Gedanke an die heimlichen Mitleser wühlt mich auf. Wut mischt sich mit Hilflosigkeit, Erschrecken mit Scham.

Es dauert, bis sich an diesem Tag meine Erregung legt und ich meine Fassung zurückgewinne. Ich begreife, dass ich es mit den Ergebnissen einer konspirativen Durchsuchung meines Büros in der Clara-Zetkin-Straße zu tun habe. Am 26. März 1978 sind die Experten der Hauptabteilung VIII in mein Dienstzimmer eingedrungen. In einer sorgfältig vorbereiteten Aktion, die von der Führungsspitze des Staatssicherheits-Ministeriums genehmigt worden war. Der Einbruch war ja nicht ohne Risiko. »Stellen Sie sich vor, unsere Leute wären dabei erwischt worden«, hat mir lange nach dem Ende der DDR ein ehemaliger Stasi-Offizier gesagt. »Was das für ein Aufschrei im Westen gewesen wäre.«

Das Öffnen eines gewöhnlichen DDR-Schlosses war für die Spezialisten des MfS kein Problem. Es war ein Sonntag, Ostersonntag. Vermutlich kamen sie, als es dunkel war. Wo ich war, wussten sie. Ich stand unter Beobachtung. Sie müssen sicher gewesen sein, dass sie niemand überraschen würde. Kein Büromieter der Etage, kein zufälliger Passant. Die Fahnder durchstöberten Schubladen, Schränke und Regale. Was ihnen wichtig erschien, haben sie fotografiert. Adressbücher, Kalender, Briefe, Abrechnungen. Auch Notizen für meine journalistische Arbeit. Auf manchen Seiten sind noch die in dünnen Handschuhen steckenden Finger des Menschen zu sehen, der die Dokumente unter die Kamera gehalten hat. Nichts habe ich in der Zeit danach von dem heimlichen Besuch gemerkt. Alles, was die Profis angefasst und erschnüffelt hatten, lag auf dem gewohnten Platz. Spuren haben sie nicht hinterlassen.

Drei Tage nach dem Einbruch, der auch nach DDR-Recht illegal war, hat die für die Korrespondenten zuständige Hauptabteilung II/13 die Ergebnisse der »konspirativen Durchsuchung« in einem mehrseitigen Bericht ausgewertet und zusammengefasst. Aus den Materialien in meinem Büro gehe hervor, so lese ich, dass ich die mir als Korrespondent zustehenden Befugnisse überschreite, Kontakt zu »feindlichen und politisch-negativen Kräften« sowie »sogenannten Kritikern des realen Sozialismus« suche und über »die angebliche Entwicklung einer inneren Opposition in der DDR« recherchiere. Die im Büro dokumentierten Unterlagen bestätigten ferner »die vielfältigen Verbindungen des Pragal zu solchen Bürgern der DDR, die mit rechtswidrigen Anträgen zur Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung in die BRD in Erscheinung getreten sind«.

Es folgt eine Aufzählung von Personen, die ich nach Ansicht der Stasi zu ihrem Begehren der freien Ausreise »inspiriert« oder sie dabei beraten habe. Als besonders wichtigen Fund der Durchsuchung werteten die Fahnder die »Riesaer Petition«. Ein Originalschriftstück mit rund 30 Namen und Adressen von Bürgern, die auf Initiative des sächsischen Arztes Karl-Heinz Nitschke unter Berufung auf die UN-Konvention über Menschenrechte die Übersiedlung in die Bundesrepublik gefordert hatten. Über mich heißt es in dem Stasi-Protokoll: »Er unterhielt persönliche Kontakte zu Mitgliedern dieser Gruppe, ließ sich umfassend über deren feindliche und negative Aktivitäten informieren und wertete diese Kenntnisse publizistisch ... in verleumderischer und diffamierender Weise gegen die DDR aus.«

Wer als West-Korrespondent im Machtbereich der DDR lebte, stand unter totaler Kontrolle des kommunistischen Geheimdienstes. Die Zimmer waren »verwanzt«, Telefongespräche wurden abgehört, Briefe geöffnet und mitgelesen, Hauspostkästen und Wechselsprechanlage kontrolliert, Kontaktpersonen registriert, Fahrten und Spaziergänge beobachtet und protokolliert. Wo immer wir waren, was immer wir machten – die Stasi hatte fast immer ein wachsames Auge auf uns. Was ich früher nur geahnt oder angenommen habe, ist in meinen Akten als »Operativer Vorgang Starnberg«, später »OV Kumpan, Teil Starnberg« auf etlichen Tausend Blatt dokumentiert.

Der Aufwand, den das MfS gegen uns »Klassenfeinde« betrieb, wirkt im Rückblick grotesk. Dass ich bei dienstlichen Fahrten in die DDR beobachtet wurde, war noch verständlich. Aber dass sich die »Firma« auch im Ost-Berliner Alltag über längere Zeitabschnitte von früh bis spät an unsere Fersen heftete, lässt sich wohl nur aus einem maßlos übersteigerten Sicherheitsdenken erklären. Sobald meine Frau und ich das Haus verließen, wurden mit akribischer Gründlichkeit über uns »Beobachtungsberichte« angefertigt.

Das liest sich so: »19.18 Uhr begab sich ›Starnberg‹ in Begleitung seiner Ehefrau Karin Pragal, welche den Decknamen ›Kobra‹ erhält, zum abgeparkten Pkw. Beide Personen fuhren auf direktem Weg zur Staatsoper. 19.37 Uhr betraten ›Starnberg‹ und ›Kobra‹ die Staatsoper. Im Kassenraum begrüßte ›Starnberg‹ eine unbekannte männliche Person mit Handschlag. Diese Person erhält im weiteren Bericht den Decknamen ›Boa‹. ›Starnberg‹ und ›Kobra‹ begaben sich zur Garderobe. Während der Vorstellung standen sie nicht unter operativer Beobachtung.« Aber danach. Denn im Bericht heißt es weiter: »22.16 Uhr verließen ›Starnberg‹ und ›Kobra‹ die Oper, begaben sich zu ihrem Pkw und fuhren auf direktem Weg zu ihrer Wohnung, wo sie den Pkw auf dem Parkplatz abstellten und das Haus um 22.31 betraten. In der Wohnung wurde kein Licht festgestellt. Bis 24.00 Uhr trat ›Starnberg‹ nicht wieder in Erscheinung. Zu diesem Zeitpunkt wurde die operative Beobachtung unterbrochen.«

In der Regel habe ich von der Oberservierung nichts gemerkt. Wenn ich doch mitbekam, dass ich verfolgt wurde, dann war dies von Stasi-Leuten beabsichtigt. Es gab westliche Diplomaten und Berufskollegen, die versucht haben, potenzielle Verfolger abzuhängen. Ich habe von solchen Spielereien nichts gehalten. Aber aus den Akten weiß ich, dass ich es meinen Beschattern auch ohne Absicht nicht leicht gemacht habe. Am 4. März 1978 waren die Beobachter wieder einmal in Ost-Berlin hinter mir her. Laut Protokoll passierte um 11.23 Uhr Folgendes: »In der Ho-Chi-Minh-Straße wendete ›Starnberg‹ verkehrswidrig und fuhr in Richtung Frankfurter Allee. Dabei geriet er aus verkehrstechnischen Gründen außer Kontrolle.« Sie hatten mich aus den Augen verloren.

Eines Tages hatte es meine Frau satt, dass Kollegen aus der Münchner Redaktion tagsüber bei uns zu Hause anriefen und wissen wollten, wo ich gerade sei. »Das weiß ich doch nicht«, sagte sie. »Wenn er nicht im Büro ist, dann hat er einen Termin.« Manchmal fügte sie noch provozierend hinzu: »Vielleicht ist er auf der Toilette oder bei seiner Freundin.« Als ich abends in unsere Wohnung kam, meinte sie, der Verlag müsse mir endlich einen Anrufbeantworter für mein Büro besorgen. Dann würden die lästigen Anrufe in der Privatwohnung wohl aufhören. Ich war schon drei Jahre in Ost-Berlin und hatte mehrfach in München auf die Notwendigkeit einer technischen Neuanschaffung zur Verbesserung der Kommunikation hingewiesen.

Beim Besuch eines Verlagsmanagers trug ich erneut mein Anliegen vor und fand bei ihm Verständnis. Dann erkundigte ich mich beim Dienstleistungsamt, was außer einer Zolleinfuhr-Genehmigung für die Installation nötig sei. »Da stellen Sie mal einen Antrag«, sagte ein Sachbearbeiter, »und dann geht die Sache schon klar.« Das Verfahren sei ähnlich wie beim Telefon. Außerdem müsse ich mit ein paar Mark Gebühren rechnen. Obwohl ich die verlangte Formalität rasch erledigte, zog sich die Angelegenheit hin. Das Gerät sei in der DDR unbekannt, erklärte der Sachbearbeiter. »Wir brauchen noch die technischen Unterlagen.« Neben der Bedienungsanleitung benötige die Post auch die Schaltpläne. Ich lieferte die gewünschten Unterlagen. Aber auch dann rührte sich nichts. Schließlich wurde ich aufgefordert, das Gerät zu einer technischen Prüfung zur Verfügung zu stellen. »Nur für ein paar Tage.«

Nach etwa zwei Wochen bekam ich den Anrufbeantworter zurück. Verbunden mit dem Hinweis, dass ich die Kosten für die technische Untersuchung zu tragen habe. Mit rund 1000 Mark werde ich wohl rechnen müssen. Ich protestierte. Die DDR, so argumentierte ich, habe sich auf diesem Wege neues technisches Wissen aus dem Westen verschafft. Dafür auch noch Geld zu verlangen, sei eine Zumutung. Auf den Anschluss des Gerätes musste ich weiter warten. Fast hatte ich die Hoffnung aufgegeben, den Anrufbeantworter in meinem Büro nutzen zu können, da bekam ich einen Anruf, die Sache gehe in Ordnung. Am nächsten Tag kam ein Techniker und schloss das Gerät an. Von einer Rechnung war nicht mehr die Rede. Den wahren Grund für die Verzögerung habe ich später erfahren. Vor mir hatte ein Korrespondenten-Kollege in seinem Ost-Berliner Büro einen Anrufbeantworter installieren lassen, der es ermöglichte, die gespeicherten Gespräche auch von auswärts abzuhören, etwa aus Hamburg oder Berlin (West). Das rief die Stasi auf den Plan. »Die haben hier rotiert«, sagte mir ein Eingeweihter. Man vermutete wohl bei meinem Gerät eine ähnliche Funktion und inspizierte sein technologisches Innenleben. Die Enttäuschung hätten sich die DDR-Experten sparen können. Mit einer Fernabfrage konnte ich nicht dienen.

Immer unter Kontrolle zu sein – das war für manche der in Ost-Berlin lebenden Westler auf Dauer schwer zu ertragen. Wenigstens im Urlaub wollten sie das Gefühl der Freiheit genießen. Möglichst weit weg von der DDR, der Stasi und ihren Spitzeln. Verständlich, dass der eine oder andere sich an die Stirn tippte, als wir ihnen erzählten, wir blieben auch in unseren Ferien im Lande. Mal an der Ostsee, mal in märkischen Gefilden. Etwa in Menz am Roofensee, wo das Dienstleistungsamt für Diplomaten und »bevorrechtigte Personen« ein »Ferienobjekt« unterhielt und gegen Valuta Häuser vermietete. Auch dort hatte die »Firma« ein sorgsames Auge auf uns.

Kaum hatten wir das Haus 3 an einem Tag Ende Juni 1988 für zwei Wochen bezogen, da begannen die Mitarbeiter der Potsdamer Bezirksverwaltung ihre Aktion »Blitz«. Die Wände im »Objekt Wüste« waren mit Abhöranlagen präpariert. Der Genosse von der Auswertung war informiert. Und ein IM schickte sich an, unseren Tagesablauf zu kontrollieren und in einem »Zeitfilm« festzuhalten. »Im Verlaufe der Nacht keine Bewegungen«, notierte er handschriftlich morgens um 8 Uhr. Um 9.45 war immer noch »Ruhe im Haus. Pkw und Fahrräder stehen vor der Tür«. Der IM blieb wachsam: »11.35 Waldlauf von ihm allein. Zu 19.30 wurde die Sauna bestellt.«

Tag für Tag schrieb er auf, was er beobachtete. Seite um Seite. Mit genauer Zeitangabe. Ein Sammelsurium von Banalitäten. Als DDR-Freunde telefonisch für das Wochenende ihren Besuch ankündigten, war IM »Peter« rechtzeitig auf Posten. »Um 10.38 Uhr begab sich der Pragal zu Fuß in Richtung Toreinfahrt des Geländes«, schrieb er ins Protokoll. »Hier zeigte er Warteverhalten.« Die Besucher kamen eine Stunde später. »Die männliche Person trug eine Kollegmappe, die weibliche Person einen Blumenstrauß.« Als gewissenhafter Spitzel notierte er sich auch Farbe und polizeiliches Kennzeichen des Autos vom Typ »Trabant«, mit dem unsere Freunde gekommen waren.

Um auf dem Laufenden zu bleiben, ließ ich mir die Tageszeitungen zustellen, die ich sonst in mein Büro bekam. Blätter aus dem Westen und aus der DDR. Ein Kurier brachte sie jeden Morgen nach Menz. Nach dem Frühstück lasen wir ausgiebig in den Gazetten. Ohne dabei viel zu reden. Manchmal, wenn mir bei der Lektüre etwas Interessantes auffiel, las ich es meiner Frau vor. »Hör mal, was sich Leipziger Schüler gegen das Rauchen haben einfallen lassen. Das wird dir gefallen.« So steht es wörtlich in einem Protokoll, in dem unsere Unterhaltung auf Tonband aufgezeichnet und später abgeschrieben worden ist. Der nächste Satz in der Abschrift lautet: »Papierknistern. Etwas später sagt sie: ja.«

Bei seinem Drang, mich auszukundschaften, beschränkte sich das Staatssicherheits-Ministerium nicht auf das eigene Territorium. Es dehnte seine Observierung auf das »Operationsgebiet« Berlin-West aus. Im Falterweg in Charlottenburg hatten wir – anders als in den siebziger Jahren, in denen wir ausschließlich in Ost-Berlin lebten – nach meiner Rückkehr aus Bonn neben meiner Ost-Berliner Dienstwohnung in der Leipziger Straße einen zusätzlichen Wohnsitz genommen. Wir dachten dabei vor allem an unsere Kinder, die inzwischen in einem Alter waren, das schulische Experimente im realen Sozialismus verbot.

Im Frühjahr 1985 setzte das MfS einen Agenten in Marsch, um die Örtlichkeiten »aufzuklären«. Zwar stand unser Name nicht im West-Berliner Telefonbuch, aber der Stasi war die neue Adresse bekannt. Die Ausbeute des Kundschafters war mager. Und einer der Hellsten schien er auch nicht gewesen zu sein. Er konnte sich während seiner halbstündigen Beobachtung nicht einmal die richtige Zahl merken und übermittelte eine falsche Hausnummer. Ein Studentenwohnheim in unserer Nachbarschaft hielt er für ein »Aufnahmelager für polnische Bürger«. In seinem Bericht an die Hauptabteilung II/13 kam er zu dem Schluss, dass Pragals ein für die Zwecke der Stasi-Observierung ungeeignetes Haus gemietet hatten. Der Falterweg sei eine Sackgasse. »Da es sich um eine reine Wohngegend ohne jede Geschäfte handelt, ist eine direkte, längere Beobachtung des Hauses nicht möglich.« Ferner sei zu beachten, »dass es in dieser Gegend kaum Fußgänger gibt«.

Diese Auskunft hinderte die Hauptabteilung II/13 nicht daran, Stasi-Kollegen bei einem späteren Anlass um Amtshilfe zu bitten. Durch »inoffizielle Hinweise« hatten meine Aufpasser mitbekommen, dass ich den Leiter der Ständigen Bonner Vertretung, Hans-Otto Bräutigam, meinen damaligen Chefredakteur Rolf Winter und den Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel zu einem Abendessen in unsere Charlottenburger Wohnung eingeladen hatte. Zur Adresse im Falterweg, so heißt es in einem Schreiben an die zuständige Diensteinheit, seien bereits Ermittlungen geführt worden. »Es wird um die Einleitung von operativen Kontrollmaßnahmen zur Feststellung weiterer Teilnehmer (genutzte Pkw) gebeten.«

Im Sommer 1984 habe ich meine Familie mit einem Urlaubsplan überrascht. Ich wollte an die polnische Ostseeküste. Nach Kolberg, das heute Kolobrzeg heißt. Ich war dort während des Krieges mit meiner Mutter zu einem kurzen Urlaub. Ich meinte, mich an den warmen, gepflegten Sandstrand der hinterpommerschen Küste erinnern zu können. Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Jedenfalls zog es mich in nostalgischer Verklärung dahin. Meine Frau und meine Kinder willigten ein, skeptisch und ohne Begeisterung. Über ein West-Berliner Reisebüro buchte ich einen 14-tägigen Aufenthalt im Orbis-Hotel »Solny«. Meine Reiseabsicht blieb der Stasi nicht verborgen. Sie vermutete, der Urlaub sei nur Tarnung. In Wahrheit wolle ich in der damaligen Volksrepublik Polen über die aktuelle politische Lage Informationen einholen. Jedenfalls wurde der polnische Geheimdienst vor mir gewarnt. Pragals Aufgabenstellung, so lese ich in einer Aktennotiz des MfS, bestehe in der »Eigenerkundung zum Stand des Einflusses von Solidarnošč und der Stabilität der inneren Lagebedingungen in der VRP«. Um Übermittlung und Einleitung geeigneter Kontrollhandlungen werde gebeten.

Unser Urlaub war ein Reinfall. Das Wetter war schlecht, die Ostsee kalt, der Hotelservice mies, und die Kinder langweilten sich. Drei Wochen nach unserer Abreise beantwortete die Geheimdienst-Zentrale in Warschau das Auskunftsersuchen des ostdeutschen Bruderdienstes. Der polnische Offizier Z. Wasilewski berichtete, dass wir Kontakt zu einem polnischen Ehepaar aufgenommen hätten, das uns ein Bekannter aus Ost-Berlin empfohlen hatte. Der überaus gastfreundliche Mann war kein Solidarnošč-Anhänger, sondern Kommunist und ehemaliger Offizier. Was dann in dem Schreiben folgt, dürfte die Stasi enttäuscht und ernüchtert haben: »Der Aufenthalt von Pragal in Kolobrzeg hatte typischen Erholungscharakter. Eine Kontaktaufnahme mit Personen, die uns interessieren, wurde nicht festgestellt.«

Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR

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