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Erkundung des Alltags

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Am Morgen nach unserer ersten Nacht im neuen Heim wollte ich frische Brötchen zum Frühstück besorgen. Der Hausmeister hatte mir einen Tipp gegeben. Ich machte mich zu Fuß auf den Weg. Ich ging die Jacques Duclos- (heute Möllendorff-)Straße Richtung Lichtenberger Rathaus, vorbei an der kleinen Pfarrkirche, und entdeckte auf der rechten Straßenseite einen Bäckerladen. Er war eines von den Geschäften, die privat geführt wurden. Der Geruch aus der Backstube steigerte meinen Appetit. Ich verlangte vier Schrippen, die kosteten zusammen 20 Pfennige Ost. Die Verkäuferin legte mir die Brötchen auf die Ladentheke. Ich schaute sie verdutzt an. In München bekam ich die Semmeln in einer Tüte. Die gab es hier nicht. Eine Tasche hatte ich nicht mitgenommen. Wohin mit den Brötchen? Schließlich steckte ich sie in meine Jackentasche. Es war meine erste Lektion über den Alltag in Ost-Berlin. Fortan ging ich – wie es DDR-Bürger zu tun pflegten – nicht mehr ohne Netz oder Beutel aus dem Haus.

Wir haben schnell begriffen, dass das Leben östlich der Mauer nach anderen Regeln verlief, als wir im Westen gewohnt waren. Und auch nach einem anderen Rhythmus. Ost-Berliner waren notorische Frühaufsteher. Nicht aus Lust oder Leidenschaft. Der Arbeitsprozess zwang sie dazu. Männer ebenso wie Frauen, die – anders als in der Bundesrepublik – in der DDR zu über 90 Prozent einer bezahlten Beschäftigung nachgingen.

Schon um 4.30 Uhr morgens gingen die ersten Lichter in den Wohnungen an. Ab fünf Uhr drängelten sich vor den Straßenbahnhaltestellen Werktätige auf dem Weg zur Frühschicht. Sicher, auch in Fabriken und auf Baustellen in Westdeutschland war um sechs Uhr Arbeitsbeginn. Aber hier in unserem Neubaugebiet schienen in den ersten Morgenstunden nahezu alle Bewohner auf den Beinen zu sein. Arbeiter, Büromenschen, Verkäuferinnen, Friseusen. Und viele Kinder, die – oft noch halb im Schlaf – von ihren Vätern oder Müttern zur Krippe und in den Frühhort gebracht wurden. Spätestens um halb neun waren die neuen Betonburgen, sofern keine Ausländer darin wohnten, entvölkert. Das Volk war – wie man in Berlin sagt – »auf Arbeit«.

Nicht weit von unserem Haus gab es eine Konsum-Kaufhalle. Dorthin gingen wir in der ersten Zeit einkaufen. Wir schoben den Gitterkorbwagen über den Betonboden und verglichen beim Blick in die Regale die Preise. Etliche Waren kosteten – setzte man nach dem offiziellen Umtauschkurs eine Mark Ost gegen eine Mark West – weniger als jenseits der Grenze. Das galt vor allem für die Grundnahrungsmittel, die von den Planwirtschaftlern der SED subventioniert wurden. Auch dann noch, als das Regime ökonomisch schon bankrott war. Dafür war die Auswahl der Waren wesentlich geringer und die Qualität schlechter.

Griff man ein Netz mit Kartoffeln, konnte es passieren, dass die Hälfte des Inhalts verdorben war und weggeworfen werden musste. Vor der Fleischtheke standen die Kunden in der Regel Schlange. »Könnten Sie mir bitte das Fett abschneiden«, bat meine Frau eine Verkäuferin, die dabei war, das Fleisch auszuwiegen. Die Frau sah uns an, als kämen wir vom Mond. »Das müssen Sie aber mitbezahlen«, blaffte sie uns an. »Was glauben Sie denn, wie ich der nächsten Kundin das Fett berechnen soll.« Wieder eine Lektion: Verkäuferinnen, die wie alle Werktätigen im »sozialistischen Wettbewerb« standen, konnten auf Sonderwünsche keine Rücksicht nehmen.

Unsere Annäherung an das Alltagsleben im realen Sozialismus war eine Entdeckungstour, an der ich meine Leser im Westen von Anfang an teilhaben ließ. Die meisten Bundesbürger interessierte damals nicht, was östlich von Mauer und Metallgitterzäunen bei den »Brüdern und Schwestern« passierte. Urlaubsländer wie Griechenland, Italien und Spanien waren ihnen vertraut. Über das Leben der Menschen zwischen Oder und Werra wusste der gewöhnliche Westdeutsche jedoch wenig. Es sei denn, er war von dort vor dem Mauerbau geflohen oder er hatte Verwandte. Nicht etwa, dass es keine politische Berichterstattung gab. Was Walter Ulbricht, Erich Honecker und Genossen erklärten und anordneten, wurde sehr wohl registriert. Aber wie es in den Köpfen und Herzen ihrer Untertanen aussah, blieb dem durchschnittlichen Bundesbürger verborgen. Es war ihm, glaube ich, auch ziemlich egal.

Ich schrieb auf, was ich hörte und beobachtete. In der Straßenbahn und in der Kneipe, in Geschäften und auf dem Rummelplatz, auf der Poststelle und im Theater. Aus den Tagebuch-Eintragungen wurde eine Kolumne, die unter dem Titel »In der DDR notiert« in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung erschien und große Resonanz fand. Sie wurde von mehr Menschen gelesen als meine sonstigen Kommentare, Analysen und Reportagen, auf die ich so stolz war. Zunächst habe ich in vielen kleinen Szenen die Außenseite der Gesellschaft beschrieben. Aber je länger wir in Ost-Berlin lebten, desto mehr verwandelte sich mein Blick von dem eines Fremden in den eines Insiders, der seine Umwelt mit den Augen und den Empfindungen von Einheimischen wahrnahm.

Wenn wir schon hier in Ost-Berlin sind, so sagten wir uns, dann mit allen Konsequenzen. Meine Frau und ich nahmen uns vor, so wenig wie möglich auf die Fluchtinsel West-Berlin auszuweichen. Das hielten wir zwar nicht lange durch, aber in der Anfangszeit haben wir diesen freiwilligen Vorsatz erfüllt. Unsere Kinder waren oft krank. Auch eine Folge der verschmutzten Luft, mit der wir täglich konfrontiert wurden. Wir beschlossen, sie und uns vor Ort ärztlich betreuen zu lassen. Dazu mussten wir einen Berechtigungs-Ausweis zum Besuch medizinischer Einrichtungen der DDR beantragen. Die Jahrespauschale betrug 720 Mark pro erwachsene Person. Die Summe entsprach dem Höchstbetrag, den ein DDR-Bürger für die Sozialversicherung zahlen musste. Für die Behandlung unserer Kinder wurde keine zusätzliche Prämie erhoben. Im Haus der Gesundheit, einer Poliklinik am Alexanderplatz, war meine Frau mit den Kindern Stammgast. Lange warten musste sie selten. Ihr grüner Versicherungsausweis berechtigte sie »zur bevorzugten« ambulanten Betreuung. Klassenlos, wie es der Ideologie im sozialistischen Deutschland entsprochen hätte, war das staatliche Gesundheitswesen ohnehin nicht. Es gab ein Regierungskrankenhaus für die DDR-Prominenz. Diese Klinik stand auch den auswärtigen Missionschefs und ihren Familien sowie dem Botschaftspersonal im Diplomatenrang offen. Korrespondenten zählten nicht zu diesem erlauchten Kreis.

Es war eine Zeit, in der unsere Kinder in manchen Nächten ins Elternbett krochen. Meistens war es der Sohn. Eines Tages entdeckten wir an seinem Körper rote Flecken, die wie Einstichstellen von Insekten aussahen. Die Ärztin im Haus der Gesundheit tippte auf Allergie. Als immer wieder neue Flecken auftraten, schilderten wir unsere Beobachtungen meiner Schwiegermutter. Die war Kinderärztin. Es könnten Wanzenbisse sein, sagte sie. »Wie alt ist eure Ärztin?« So Mitte dreißig, schätzten wir. Dann habe sie wohl mit Wanzenbissen keine praktische Erfahrung, sagte meine Schwiegermutter. Vielleicht hat uns die DDR-Medizinerin die in ihren Augen peinliche Diagnose auch nur ersparen wollen.

Wir nahmen unser Bett auseinander und fanden tatsächlich vier der kleinen, flachen Blutsauger. Wir verglichen ihre Körper mit Abbildungen in einem Tier-Lexikon, das uns DDR-Freunde geschenkt hatten. Kein Zweifel, es waren Wanzen, echte Wanzen. Sie hatten nicht meine Frau und mich, sondern nur unseren Sohn gepeinigt. Wir informierten die Hygiene-Inspektion. Als die Kammerjäger in unsere Wohnung kamen, glaubten sie, an der falschen Tür geklingelt zu haben. »Sind wir hier richtig?«, fragten sie. Bei uns sah es nicht nach Verwahrlosung aus. Sie sprühten dem Raum aus. Drei Wochen lang konnten wir unser Schlafzimmer nicht benutzen und mussten in einem anderen Raum die Nächte verbringen. Ich überlegte, wie ich das Ungeziefer eingeschleppt haben könnte. Bei meinen Dienstreisen übernachtete ich zuweilen in einem der Interhotels. Wenn ich nach Hause kam, legte ich meinen Koffer zum Ausräumen aufs Bett. Von Zeit zu Zeit, so hatte ich gehört, wurden Hotels in der DDR für ein paar Tage geschlossen. Kammerjäger reinigten Gästezimmer und sonstige Räume von allerlei Ungeziefer. Gut möglich, dass sie nicht nur Schaben jagten, sondern auch Bett-Wanzen.

Eines Tages beschloss meine Frau, sich im Städtischen Krankenhaus Friedrichshain operieren zu lassen. Die Klinik, an der in den zwanziger Jahren der Schriftsteller und Arzt Peter Bamm gewirkt hatte, genoss auch zu DDR-Zeiten einen guten medizinischen Ruf. Außerdem war sie nur ein paar Kilometer von unserer Wohnung entfernt. So konnte ich sie öfter besuchen. Gleich nach der Ankunft in einem Vierbettzimmer der Station 11 rief sie mich an und bat mich, ein paar Kleinigkeiten von zu Hause mitzubringen, darunter Messer, Löffel, Gabel und Tee. Den gab es ebenso wenig wie Bohnenkaffee. Nachthemd und Toilettenartikel hatte sie mitgenommen, aber kein Essbesteck. »Die anderen Frauen haben auch ihr eigenes dabei«, sagte sie. »Das ist hier so üblich.«

An den Betten gab es keine Nachttischlampe. Eine Glühbirne an der Decke beleuchtete den Raum. Es fehlten auch schwenkbare Tabletttische. Das Essen wurde nicht ans Bett gebracht. Die Patienten mussten aufstehen und die Mahlzeit auf dem Flur in Empfang nehmen. Wer das nicht konnte, weil er frisch operiert war, wurde von den gehfähigen Patienten versorgt. Mit dem Teller balancierte man auf der Bettdecke. Manche der Patienten halfen in der Küche. So also sah das von den Parteifunktionären hoch gepriesene Gesundheitswesen von innen aus. Wie in vielen Bereichen klafften auch hier Propaganda und Wirklichkeit auseinander.

Als es ein Jahr später darum ging, ihre Mandeln herausnehmen zu lassen, entschied sich meine Frau trotzdem erneut für das Krankenhaus Friedrichshain. Diesmal lag sie in einem Zweibettzimmer. Einer der Chefärzte der Klinik war ein gebürtiger Bayer. Ein renommierter Chirurg, der etliche DDR-Prominente unter dem Messer gehabt hatte. Nach dem Krieg war er im Osten geblieben und hatte dort beruflich Karriere gemacht. Wir hatten ihn über seine Tochter kennengelernt. Er verleugnete seine bajuwarische Herkunft nicht. Meiner Frau brachte ich täglich die Süddeutsche Zeitung ins Krankenhaus. Sie hatte mit ihm verabredet, dass er sich seine »Lieblingszeitung«, wie er sich ausdrückte, abholen durfte. Beim ersten Besuch kam er ins Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen. Die Patientin im Nachbarbett war seine OP-Schwester aus der chirurgischen Abteilung. Er schien zu überlegen, ob er sich vor einer Mitarbeiterin die Blöße geben sollte, sich von einer Patientin aus der Bundesrepublik eine West-Zeitung aushändigen zu lassen.

»Ich hätte in diesem Moment heulen mögen«, hat mir später meine Frau gesagt. Da stand ein hoch angesehener Chefarzt und musste sich nach dem ersten Schrecken entscheiden, ob er wieder gehen oder den wahren Grund seines Besuches zugeben sollte. Was ist das für ein Staat, der seine Bürger in eine solche demütigende Lage brachte, fragte sie. Der Arzt entschied sich dafür, Farbe zu bekennen. Er begrüßte meine Frau, machte die Patientinnen miteinander bekannt und nahm später auch die Zeitung mit. Von da an kam er täglich. Und wenn er ging, hatte er eine Lektüre in der Tasche, die ihm sonst nicht zugänglich war.

Der grün uniformierte Volkspolizist, der auf einer Ost-Berliner Straßenkreuzung den Verkehr regelte, bemühte sich gar nicht erst um Höflichkeit. »Steig ab, fahr rechts ran und warte, bis ich komme«, herrschte er einen Jugendlichen an, der in den Augen des Ordnungshüters mit seinem Mofa ein wenig zu flott um die Kurve gefahren war. Doch der junge Mann, der mit vielen Gleichaltrigen das Schicksal teilte, von der Polizei besonders schikaniert zu werden, verhielt sich anders als erwartet. »Erstens haben Sie nicht du zu mir zu sagen, zweitens bleibe ich sitzen, und drittens werde ich gleich weiterfahren«, sagte der Mofa-Fahrer. Dem Volkspolizisten verschlug es die Sprache. Bevor er darüber nachdenken konnte, wie er diesem Angriff auf seine Autorität begegnen sollte, zeigte der junge Mann, Sohn eines befreundeten Mitarbeiters der Ständigen Bonner Vertretung, seine rote Diplomatenkarte. »Entschuldigung, konnte ich ja nicht wissen«, murmelte der Uniformierte und ging schnell auf die andere Straßenseite.

Die Konfrontation mit Menschen, die ihnen selbstbewusst begegneten, muss für die Vertreter der Staatsmacht ein Schock gewesen sein. Bisher waren sie gewohnt, dass sich Bürger ihres Staates bei geringsten Verstößen gegen die Regeln von Disziplin und Ordnung devot verhielten. Jetzt hatten sie es ab und zu mit Leuten zu tun, die sich ihren barschen Ton verbaten und sich nicht einfach abkanzeln ließen. Oder sich so benahmen, wie es in ihren westlichen Heimatländern üblich war. Im Bewusstsein, dass ein Polizist für die Bürger da ist. Oder zumindest da sein sollte. Zum Beispiel, indem man mitten auf der Kreuzung neben einem Verkehrspolizisten anhielt, die Scheibe der »Ente« hochklappte und sich höflich erkundigte, wie man am schnellsten an einen bestimmten Ort kommen würde. »Was habt ihr gemacht?«, haben uns ungläubig DDR-Freunde gefragt, als wir ihnen diese Episode erzählten. Unser Verhalten war nach DDR-Regeln ungebührlich. Sie selbst hatten eine andere Praxis verinnerlicht: Auto am Straßenrand abstellen, zu Fuß zum Polizisten gehen und in Demutshaltung um Auskunft bitten oder – falls man etwas falsch gemacht hat – sich einen mündlichen Verweis abholen. Dieses Verhalten war für uns schwer verständlich, weil die »Grünen«, wie man in der DDR Volkspolizisten nannte, in der Gesellschaft eher gering geschätzt wurden. Man machte sich, wie zahlreiche Witze belegen, gern über sie lustig. Frage: Warum treten Volkspolizisten häufig als Paar auf? Antwort: Weil sie nur zu zweien ihre zehn Klassen Oberschule zusammenkriegen. Oder: Was ist, wenn es keine Ökonomen mehr gibt? Dann sind die Volkspolizisten wieder die Dümmsten.

Dass wir in einen Obrigkeitsstaat geraten waren, bei dem sich preußisch-wilhelminische Traditionen mit sozialistischer Bevormundung mischten, haben wir vom ersten Tage an gemerkt. In Gaststätten, wo Gäste am Eingang stehen gelassen wurden, bis ein Kellner nach längerer Wartezeit sie gnädig an einem der vielen freien Tische platzierte. In Kulturhäusern, wo Besucher auf Hinweistafeln ermahnt wurden, in »einwandfreier Kleidung« zu erscheinen. In Rathäusern, wo man vom Pförtner barsch angefahren wurde, wenn man nicht unaufgefordert seinen Ausweis zeigte. Wer ständig nach oben buckeln muss, neigt dazu, andere seine kleine Macht spüren zu lassen. Vielleicht war es ja Zufall, aber Rentner sind uns besonders häufig als Besserwisser und Rechthaber aufgefallen. Irgendwann haben wir mit unseren Kindern in einer Grünanlage gespielt. »Gehen Sie runter, das ist verboten«, herrschten uns Veteranen an, die auf einer Bank saßen. Wir waren in keinem Park mit einem gepflegten Rasen, wo man Einschränkungen akzeptieren konnte, sondern auf einer gewöhnlichen Wiese am Rande des Weißen Sees, nicht weit von unserer Wohnung entfernt. Meine Frau und ich sahen uns an. Als Studenten hatten wir in München erlebt, wie uns berittene Polizisten von den Wiesen des Englischen Gartens vertreiben wollten. Immer wieder hatten wir ihre Aufforderungen ignoriert, bis die kommunale Obrigkeit irgendwann aufgab und uns gewähren ließ. Und jetzt sollten wir uns diesen zänkischen Alten beugen? Wir überhörten ihr Gezeter und spielten weiter mit unseren Kindern.

Am Wochenende fuhren wir hinaus aus dem Häusermeer ins Brandenburgische. Unser Auto war inzwischen in der DDR zugelassen. Die Buchstaben QA auf dem Kennzeichen symbolisierten den Status als akkreditierter Korrespondent. Die Ziffer 57 stand für Bundesrepublik Deutschland. Jeder Staat, der in Ost-Berlin eine diplomatische Mission unterhielt, hatte eine spezielle Kennziffer. Geordnet nach der zeitlichen Reihenfolge, in der die Beziehungen aufgenommen worden waren. Jeder Volkspolizist wusste sofort, mit wem er es zu tun hatte. Immerhin wurden wir an der Stadtgrenze zwischen der »Hauptstadt« und der DDR nicht angehalten und kontrolliert, wie das in unserer Anfangszeit mit Personen in Autos aus West-Berlin oder der Bundesrepublik geschah.

Wir fuhren über Straßen, die von mächtigen Laubbäumen dicht gesäumt waren. Ihre Kronen berührten sich und bildeten ein Dach, unter dem wir uns bewegten. Wir freuten uns an dem ungewohnten Anblick. Wenn wir in Westdeutschland unterwegs waren, konnte man oft nicht erkennen, wo eine Gemeinde aufhörte und wo eine andere begann. Die Landschaft war zersiedelt. Hier, in der DDR, war ein Dorf noch ein Dorf. Und dazwischen Felder, Wälder und Wiesen. Manchmal holperten wir über Kopfsteinpflaster. Wir dachten an unsere begradigten, zu Schnellpisten ausgebauten Straßen in der Bundesrepublik, an denen man Bäume gefällt hatte, weil sie ein Sicherheitsrisiko darstellten. Hier sah es noch so aus wie in der Zeit vor dem Krieg. Vermutlich hätten die SED-Regenten die Verbindungswege auf ihrem Territorium gern nach westdeutschem Muster modernisiert. Dass dies nicht geschah, war weniger ihrer Liebe zur Natur geschuldet als dem Mangel an Arbeitskräften und Material.

Was wir bei unseren Ausflügen wahrnahmen, erinnerte uns häufig an die eigene Kindheit in den Nachkriegsjahren. In den Gärten von Freunden kam das Wasser nicht aus der Leitung, sondern aus einer Pumpe. Für unsere Kinder, die nackt umhersprangen, war das ein Erlebnis. Auch die Erwachsenen waren in ihrem Verhalten ungezwungen. Viele badeten in den Seen ohne Badehose und Badeanzug. FKK war weit verbreitet. Als nach dem Ende der DDR unter dem Einfluss westdeutscher Kurdirektoren die Freizügigkeit des Nacktbadens an der Ostsee wieder eingeschränkt wurde, liefen viele Einheimische gegen die neue Bevormundung Sturm.

Und noch etwas fiel uns bei unseren Erkundungstouren auf. An Halteplätzen der Landstraßen standen mitunter Dörfler und boten Früchte aus ihrem Garten zum Kauf an. Äpfel, Birnen und Beeren. Frisch geerntet und in der Regel ungespritzt. Wir genossen den ursprünglichen Geschmack. Auch Pilze wurden offeriert. In den Kaufhallen hätte man wohl vergeblich danach gesucht. Wir gewöhnten uns daran, dass in der sozialistischen Mangelgesellschaft das Warenangebot der jeweiligen Jahreszeit entsprach. Kohl im Winter, Kirschen im Sommer, Pflaumen im Herbst. Apfelsinen, die für Devisen importiert werden mussten, spendierte die Obrigkeit ihren Untertanen meistens nur zu Weihnachten.

DDR-Bürger beneideten die Westdeutschen um ihren kulinarischen Überfluss. Wir dagegen fanden, dass sich die Ostdeutschen – wenn auch nicht freiwillig – ein Gefühl für den natürlichen Rhythmus des Jahres und der Natur bewahrt hatten. Weil nicht alles, wie in den westlichen Ländern, zu jeder Zeit verfügbar war. Etwa frische Erdbeeren im Winter – eingeflogen aus dem Süden. Werden Freude und Genuss nicht gedämpft, wenn sie immer zu haben sind? Waren die Menschen in der DDR, ohne dass ihnen dies bewusst war, wegen des allgegenwärtigen Mangels vor Übersättigung geschützt? Wir behielten solche Überlegungen für uns, aus Sorge, wir könnten für zynisch oder elitär gehalten werden. Im Dezember brachte meine Frau aus West-Berlin frische Blumen mit, die es in Ost-Berlin nicht gab. Eine DDR-Nachbarin kam zu Besuch. Sie sah den Strauß und sagte: »Rote Tulpen unter dem Adventskranz. Das ist ja pervers.«

Der geduldete Klassenfeind: Als West - Korrespondent in der DDR

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