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2. Ein ganz normaler Tag
Оглавление„Ein ganz normaler Tag!“ dachte Amtsrichter Dr. Prell, als er wie immer pünktlich um 7.00 Uhr das Justizgebäude betrat. In der Eingangshalle warf er einen flüchtigen Blick auf die Statue der Justitia, eine „moderne“ Plastik, die an der Stirnseite des Raumes stand. Sie war wohl das scheußlichste Modell ihrer Art: ein flachbrüstiges Mädchen mit ausdruckslosem Gesicht und strähnigem Haar, bekleidet mit einer Art von Büßerhemd; mit der einen Hand stützte sie sich auf ein Schwert wie eine Behinderte auf ihren Stock und in ihrer anderen klumpigen Hand hielt sie eine Waage. Was dieser Figur aber noch einen besonderen Ausdruck verlieh, war die billig wirkende Goldbronze, mit der sie angestrichen war. Man hätte mindestens den Goldton nehmen müssen, mit dem seine Frau die Nüsse am Christbaum zu besprühen pflegte, hatte Dr. Prell einmal gefunden, als er sich vor Jahren ein einziges Mal gedanklich mit der Statue befasst hatte und zu dem Schluss gekommen war, sie sei vielleicht ein treffliches Sinnbild der Justiz in dieser Zeit. Aber nun pflegte er schon seit langem keine Notiz mehr von dieser Dame zu nehmen.
Dr. Prell konzentrierte sich vielmehr auf den Gang, in dem sein Dienstzimmer Nr. 209 lag. Er musste jedes Mal die vielen Türen genau abzählen und dann noch sicherheitshalber das Schild an seinem Zimmer lesen:
Zimmer Nr. 209
Amtsgerichtsrat Dr. Prell
An dieser Dienstbezeichnung erkennt der mit der Materie vertraute Leser, dass diese Geschichte schon einige Zeit zurückliegt, denn inzwischen hat eine Justizreform eine Neuerung gebracht, die wohl nur in Beamtenkreisen als eine solche empfunden wird: Aus dem guten alten „Amtsgerichtrat“ ist inzwischen ja bekanntlich ein „Richter am Amtsgericht“ geworden.
Dr. Prell betrat sein bescheidenes Dienstzimmer, das sein an der Universität tätiger Freund leicht spöttisch als „Zelle 209“ bezeichnet hatte. So etwas schmerzt normalerweise einen strebsamen Beamten, denn wie bedeutsam er ist, lässt sich an der Zahl der Quadratmeter ablesen, die ihm seine Behörde zur Verfügung stellt. Aber Dr. Prell war über solche Dinge erhaben, denn er war mit seinem Dasein als unabhängiger Richter in der nach seiner Meinung schönsten deutschen Stadt völlig zufrieden.
Er zog die Jalousie empor, öffnete das Fenster, um die frische Morgenluft hereinzulassen. Dann riss er ein Blatt seines Kalenders ab und schaute, was er für diesen Tag eingetragen hatte: „Waffe kaufen!“ stand dort mit roter Schrift – von ihm selbst so geschrieben, obwohl er seit seiner Schulzeit auf rote Tinte geradezu allergisch war. Aber er hatte sich selbst sozusagen den unwiderruflichen Befehl geben wollen, dieses Mal mit dem Waffenkauf wirklich Ernst zu machen. Er hatte sich zwar schon öfter mit dem Gedanken befasst, etwas für seine Sicherheit zu tun, etwa als er mit der Mafia oder der RAF zu tun gehabt hatte, aber dann hatte er doch gefunden, dass er sozusagen ein „Soldat des Rechts“ sei und keine Angst haben dürfe. Wie sollte er denn auch mit einer Pistole einen Attentatsversuch abwehren?
Doch dieses Mal war alles anders: Vor drei Jahren hatte er einen Perser (heute würde man wohl „Iraner“ sagen) verurteilt, der Rauschgift in einem LKW einschmuggeln wollte. Das Rauschgift war in den hohlen Wänden des Laderaums versteckt gewesen und dort von den Zollbeamten entdeckt worden. Natürlich hatte der Perser bestritten, etwas vom Vorhandensein des Rauschgifts gewusst zu haben, aber er war dadurch überführt worden, dass auf der Verpackungsfolie seine Fingerabdrücke gefunden worden waren. Dennoch war der Perser nicht zu einem Geständnis bereit gewesen. Als er dann zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wurde, war er ausfällig geworden: Er schrie Dr. Prell an:
„Das wirst du büßen, du Hurensohn! Dir schlitze ich den Bauch auf wie einer Sau!“
Dr. Prell hatte den Perser sofort aus dem Sitzungssaal entfernen lassen. Noch während der Wachtmeister den Mann zwangsweise hinaus transportierte, brüllte dieser weiter herum:
„Streich dir den Tag meiner Entlassung rot im Kalender an: Dann komme ich wieder, um mich zu rächen. Wenn ein Perser hasst, dann sieht er darin eine Lebensaufgabe, die er zu erfüllen hat.“
Dr. Prell hatte den Wortlaut der Äußerungen ins Sitzungsprotokoll aufnehmen lassen, weil er gefunden hatte, dass hierfür eine zusätzliche Strafe angebracht war (die dann auch verhängt worden ist). Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben eine Drohung durchaus ernst genommen, so hemmungslos bösartig war der Hass, der ihm von diesem Mann entgegengebracht worden war. Deshalb hatte Dr. Prell drei Jahre lang die bevorstehende Entlassung des Persers von einem Jahreskalender auf den nächsten übertragen und jeweils rot notiert: „Waffe kaufen“. Er hatte sich irgendwann einmal im Gefängnis erkundigt, wann der Mann entlassen würde. („Gefängnis“ nannte man damals so treffend jene Institution, die heute mit der scheußlichen Abkürzung „JVA“ bezeichnet wird.) Man hatte ihm mitgeteilt, der Strafgefangene würde praktisch bis zum letzten Tag sitzen, weil er das Bösartigste gewesen sei, was man dort je hinter Gittern verwahrt habe; anschließend werde der Mann nach Persien abgeschoben.
Dr. Prell war trotzdem beunruhigt. Auf einmal fiel ihm ein, was sein Vater, ein tief religiöser Mann, einmal zu ihm gesagt hatte:
„Die Prells stehen unter dem besonderen Schutz Gottes!“ Womit sich seine Familie diese besondere Auszeichnung verdient haben sollte, war Dr. Prell inzwischen entfallen, aber er konnte sich daran erinnern, dass ihm sein Vater eine Reihe von Beispielen aufgeführt hatte, aus denen er diesen besonderen Schutz Gottes hergeleitet hatte. Eines davon war so skurril, dass es ihm noch in Erinnerung war:
Ein Lehrer hatte seinen Vater mit den Worten beschimpft: „Nehmen Sie eine Titelgestalt von Schiller und setzen Sie Ihren Namen ohne das ‚r‘ dahinter: Dann wissen Sie, was Sie sind!“ (Ein bisschen kompliziert, aber wir befinden uns ja auch auf dem Gymnasium. Haben Sie, verehrter Leser, erkannt, wovon die Rede war? Der Tölpel (Tell-Pell) war gemeint!) Kaum waren diese bösen Worte dem Munde des Lehrers entfahren, brach er zusammen und starb unter fürchterlichen Qualen.
Aber Dr. Prell erinnerte sich nicht nur an dieses merkwürdige Beispiel, sondern auch daran, dass sein Vater nach dem letzten Krieg von früheren Angehörigen seiner Kompanie besucht worden war, wobei alle ungefähr das Gleiche berichtet hatten: Erst hätten sie insgeheim gelacht, als sie von seinem Vater gehört hätten, sie bräuchten an seiner Seite keine Angst zu haben, weil er unter dem besonderen Schutz Gottes stehe. Dann hätten sie aber immer wieder durch die merkwürdigsten Wunder die schlimmsten Situationen überlebt. So waren sie gekommen, um sich bei ihm zu bedanken.
Dr. Prell kehrte zum Ausgangspunkt seiner Gedanken zurück: Sollte er sich nun eine Waffe kaufen oder nicht? Inzwischen wandte er sich seinem Akteneinlaufsfach zu. Das war jeden Tag der spannendste Augenblick: Dr. Prell konnte Pech haben, dass der Aktenstapel die Höhe von einem Meter überschritt. Einmal hatte er sogar sein ganzes Zimmer voll von Akten vorgefunden und geglaubt, er habe sich in der Tür geirrt. Tatsächlich aber hatte man bei ihm Straftaten aus einem umfangreichen Konkursstrafverfahren angeklagt, mit denen er sich dann ein Vierteljahr lang befassen musste.
Heute aber staunte Dr. Prell nicht schlecht, als in seinem Fach nur ein Brief auf ihn wartete. Irgendwie wollte der Brief schon auf den ersten Blick überhaupt nicht zum billigen Plastikfurnier des Akteneinlaufregals passen. Das Couvert war aus Büttenpapier und doppelt so groß wie normal. Es trug ein großes Wappen und exotische Briefmarken. Adressiert war es an „Seine Exzellenz, Herrn hochwohlgeborenen Richter Dr. Prell“. Die Justizeinlaufstelle hatte vor diesem Brief offenbar einen solchen Respekt, dass sie ihn nicht wie sonst üblich geöffnet hatte. Ein Wachtmeister hatte nur ein Zettelchen mit dem Vermerk angeklammert:
„Bitte Briefmarken an mich!“
Dr. Prell öffnete den Umschlag vorsichtig, um die Marken nicht zu beschädigen, und entnahm den Brief. Die erste Seite bestand aus einem goldenen Pfau mit arabischen Schriftzeichen. Genauso waren wenige Zeilen auf der zweiten Seite geschrieben.
Dr. Prell ging mit dem Brief zu einer Angestellten, die aus Persien stammte und einen Deutschen geheiratet hatte. Er ließ sich von ihr den Brief übersetzen und war mehr als überrascht:
Auf der ersten, eng beschriebenen Seite stand:
„Der Schah von Persien, der größte Herrscher unter der Sonne, das Stammesoberhaupt aller... usw., usw.“ Hier waren alle seine Titel aufgeführt. Die eigentliche Mitteilung des Schahs bestand nur aus einem Satz auf der zweiten Seite und dieser lautete: „...beehrt sich, hochwohlgeborenen Richter Dr. Prell zu grüßen und ihm mitzuteilen, dass der dort verurteilte Delinquent sofort nach seinem Eintreffen noch auf dem Flugplatz in Teheran erschossen wurde.“
Dr. Prell, der nun sein Tagespensum erledigt hatte, gönnte sich einen herrlichen freien Tag. Und er dachte daran, was sein inzwischen verstorbener Vater wohl dazu gesagt hätte:
„Da siehst du wieder mal: Das ist der besondere Schutz Gottes.“