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3. Vaterschaftsprozesse

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Richter Dr. Prell schloss die Tür zu seinem Sitzungssaal des Amtsgerichts Dornberg auf und warf nebenbei einen Blick auf seinen „Speisezettel“, wie er scherzhaft seine Aushangtafel neben der Eingangstür zu nennen pflegte, auf der genau aufgelistet war, wann welches Verfahren zum Aufruf kommen würde. „Nicht öffentlich!“ stand groß darüber in roter, von hinten beleuchteter Schrift, denn von 8.00 bis 9.00 Uhr hatte er lauter Vaterschaftsprozesse angesetzt. Er ließ immer etliche zusammen kommen, damit die Vertreterin des Jugendamts als Amtsvormund der nichtehelichen Kinder nicht wegen jedes einzelnen Verfahrens bei Gericht erscheinen musste. Heute hatte er sich besonders viel vorgenommen:

Es begann ganz schlicht mit einem Vater, der brav 16 Jahre lang für seine nichteheliche Tochter Unterhalt bezahlt hatte und sich nun auf einmal einfallen ließ, die von ihm anerkann­te Vaterschaft anzufechten. Er berichtete, es habe sein Gewis­sen belastet, dass er dieses Kind in die Welt gesetzt habe, ohne sich darum kümmern zu können, denn er sei ja schon damals verheiratet gewesen und habe für seine Familie sorgen müssen. Er habe es nicht einmal fertig gebracht, seine nichteheliche Tochter auch nur ein einziges Mal anzuschauen.

Als er gerade mitten in seinem reuigen Bekenntnis war, ging die Tür des Sitzungssaals auf und eine bildhübsche junge Dame schaute herein.

„Dies ist eine nicht öffentliche Sitzung, wie draußen ange­schlagen ist!“ bemerkte Dr. Prell.

„Darf ich nicht vielleicht doch rein? Ich bin nämlich das Streitobjekt.“

Dr. Prell musterte das junge Mädchen und wandte sich an den Vater (der es vielleicht doch nicht war):

„Schauen Sie sich das Mädel an! Jeder andere wäre froh, so eine Tochter zu haben. Und da wollen Sie die Vaterschaft bestreiten?“

Das „Streitobjekt“ errötete wegen dieser Bemerkung, was ihr recht gut stand, wie Dr. Prell fand.

Der zweifelnde Vater sagte:

„Ich möchte doch gern, dass ein Gutachten erholt wird. Das würde mein Gewissen unheimlich entlasten.“

Während Dr. Prell einen entsprechenden Beschluss erließ, flüsterten Vater und Tochter miteinander. Dann verließen sie gemeinsam den Sitzungssaal – fast wie ein Liebespaar, denn die Tochter hatte sich spontan bei ihrem neu erworbenen Vater eingehängt.

„Das ist die Stimme des Blutes!“ bemerkte Dr. Prell, der diesem eigenartigen Paar nachschaute.

Dann rief er den nächsten Fall auf: Ein schüchternes junges Mädchen trat vor, im Amtsdeutsch „Kindsmutter“ genannt.

„Da haben Sie uns anscheinend bei Ihrer letzten Verneh­mung einen Bären aufgebunden“, sagte Dr. Prell, indem er die junge Frau vorwurfsvoll über die Brille hinweg ansah. „Sie haben behauptet, Sie hätten in der gesetzlichen Empfängnis­zeit nur mit Herrn Humberger verkehrt. Nun steht aber nach dem Gutachten fest, dass er nicht der Vater sein kann. Sie haben Glück gehabt, dass ich Sie nicht vereidigt habe, sonst wäre das ein Meineid geworden.“

„Ich habe auch schon darüber nachgedacht, wie es das gibt, Herr Richter. Meine Aussage damals war schon richtig, ich hatte wirklich in der Verhängniszeit mit keinem anderen Mann einen richtigen Verkehr.“

„Und mit wem hatten Sie dann einen unrichtigen?“ wollte Dr. Prell wissen und musste wegen des treffenden Ausdrucks „Verhängniszeit“ (statt Empfängniszeit) lächeln.

„Also da war noch der Alfred Wanner aus Martinsried. Mit dem hab’ ich im Fasching ziemlich intim g’schmust und auf einmal war ich ganz nass am Oberschenkel – ganz oben, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Dr. Prell machte ein Gesicht, also ob er von einem plötzli­chen Zahnschmerz geplagt wäre, denn er war Junggeselle aus Überzeugung und hasste intime Details dieser Art. Dann sagte er:

„Ja, ja, ich verstehe schon, was los ist. Seit ich hier sitze, weiß ich, dass es Frauen gibt, die eine Männerhose nur anzu­schauen brauchen, um schwanger zu werden. Also gut: dann beziehen wir also den Herrn Wanner auch noch mit in das Gutachten ein.“

Der nächste Fall lag genauso: Wieder hatte die Kindsmut­ter behauptet, sie habe nur mit einem mit einem gewissen Alois Wimmer Verkehr gehabt und wieder war dieser durch ein Gutachten ausgeschlossen.

Dr. Prell stellte auch diese Frau zur Rede.

„Eigentlich sind Sie schuld!“ verteidigte sie sich. „Ich habe mich einfach geschämt, Ihnen als Mann zu sagen, dass ich nicht nur mit einem Mann...“

„Und wie viele waren es dann?“ musste Dr. Prell fragen und kam sich vor wie ein indiskreter Beichtvater.

„Nur zwei – ehrlich. Ich habe den zweiten nicht angegeben, weil ich mir ganz sicher war, dass es bei dem Wimmer geschnackelt hat.“

„Das ist mir neu, dass Frauen so etwas spüren. Vielleicht kenne ich mich als Junggeselle da nicht so aus. Aber wer war denn nun der zweite Mann?“

„Das ist ja gerade das Problem. Ich weiß es auch nicht, wie der heißt. Deshalb habe ich ihn auch nicht angegeben, weil mir das so peinlich ist.“

„Sie müssen uns doch irgendwelche Anhaltspunkte geben können, die uns ermöglichen, den Mann zu ermitteln. Was hat er denn über sich erzählt?“

„Also geredet haben wir eigentlich nichts. In der Disco war es so laut. Da konnt’ man nicht reden. Und bei dem... da red’t man auch nicht...“

„Wie alt war er denn oder wie hat er ausgesehen?“ wollte nun die Vertreterin des Jugendamts wissen.

„Also vielleicht um die 40. So 1,80 groß, mittelblond, vorn eher weniger Haar...“

„Sie meinen also: so ähnlich wie der Richter?“ hakte die Vertreterin des Jugendamts nach.

„Na hören Sie mal...“, warf Dr. Prell ein.

„Genau!“ antwortete die Kindsmutter. „Ich meine, dass er genau so ähnlich ausgeschaut hat, aber eben nur ähnlich. Er ist es nicht!“

„Da bin ich aber wirklich froh. Also, wenn Sie den Mann gefunden haben, kommen Sie wieder.“

Dr. Prell verkündete ein klageabweisendes Urteil gegen Alois Wimmer und schlug den nächsten Akt auf: Wieder das Gleiche!

„Warum haben Sie mich letztes Mal angeschwindelt? Ich habe Sie doch so eindringlich belehrt, dass es sinnlos ist zu lügen, denn die Wahrheit kommt so wieso auf.“

„Ich habe nicht gelogen! Ich hatte nur vergessen, dass ich einmal stockbetrunken war und nicht weiß, was da passiert ist.“

„Nun, wenn man betrunken ist, kriegt man noch kein Kind!“

„Man hat mir erzählt, dass der wachhabende Offizier...“

„Also langsam – der Reihe nach, damit ich mitkomme. Ich bin ein bisschen begriffsstutzig müssen sie wissen. Wo waren Sie und was haben Sie getrunken? Erzählen Sie bitte ganz von vorne, damit man weiß, was passiert ist.“

„Am Heiligen Abend habe ich erst mit meinen Eltern zu Hause gefeiert. Ich musste Weihnachtslieder mitsingen und so’n Scheiß. Da hatte ich schließlich keine Lust mehr und habe meine Freundin angerufen. Der ging das Feiern auch auf den Keks, und so haben wir verabredet, ins Kasernenstüberl zu gehen. Es waren auch Soldaten da. Mit denen haben wir Glühwein getrunken. Es war recht lustig, und da habe ich vielleicht ein bisschen mehr erwischt, als mir gut tat. Die Soldaten haben uns eingeladen, die Kaserne zu besichtigen. Sie hatten nämlich eigentlich Dienst und hätten gar nicht in der Wirtschaft sein dürfen, aber an Weihnachten ging das nicht so genau. Ja, und dann sind wir in die Kaserne gezogen, wo ich auf die Idee gekommen bin auszuprobieren, wie man in einem Soldatenbett liegt und bin eingeschlafen. Hinterher hat man mir erzählt, dass der wachhabende Offizier mit mir geschlafen haben soll, aber davon weiß ich nichts.“

„Na, dann fragen wir ihn halt“, sagte Dr. Prell und griff zum Telefon. Er ließ sich bei der Bundeswehr den wachhaben­den Offizier geben und fragte, wer Weihnachten Dienst gehabt habe.

„Ich“, antwortete der Mann.

„Na, dann kommen Sie mal gleich rüber. Sie werden sofort als Zeuge gebraucht.“

„Ich weiß nicht, ob das so einfach geht!“

„Sagen Sie Ihrem Vorgesetzten, dass Sie hier dringend benötigt werden und dass sonst der Richter persönlich kommt, um Sie abzuholen.“

Schon nach einer viertelstündigen Pause erschien der Offi­zier in Uniform aus der nahen Kaserne.

Dr. Prell belehrte ihn über seine Pflicht, wahrheitsgemäß auszusagen und fuhr dann fort:

„Kurze Frage: Hatten Sie mit dieser Frau hier“ – er deutete auf die Kindsmutter – „Geschlechtsverkehr?“

Er nannte noch die gesetzliche Empfängniszeit, also den Zeitraum, auf den sich die Frage bezog.

„Jawohl!“

Diese kurze zackige Antwort schien den Richter misstrau­isch zu machen. Er hakte nach:

„Ich muss da leider etwas indiskret werden: Wie war das denn nun genau. Haben Sie zwei Ihrer Soldaten ausgeschickt, um sich jemand ins Bett zu holen?“

„Also das kam so. Wir hatten am Heiligen Abend Dienst und da war uns fad. Jemand kam auf die Idee, ob nicht vielleicht im Kasernenstüberl Frauen sitzen könnten, die auch nichts mit dem Fest anfangen konnten. Und so sind dann zwei von uns hinübergegangen und haben tatsächlich zwei Weiber angeschleppt – ich wollte sagen: zwei Damen mitgebracht. Die waren ziemlich angesäuselt. Die eine legte sich gleich ins Bett und wollte ganz offensichtlich... , und da wollte ich auch nicht nein sagen.“

„Fröhliche Weihnacht – kann man da nur sagen“, bemerkte Dr. Prell trocken. „Und die anderen haben zugeschaut?“

„Nee, die haben auch mitgemacht – einer nach dem ande­ren.“

„Dann müssen wir also bei dem Vaterschaftsgutachten die ganze Wachkompanie einbeziehen oder hat vielleicht einer doch Hemmungen gehabt?“

„Doch einer. Aber dann hat jemand ‚Feigling‘ gerufen und dann war der auch dabei.“

Dr. Prell konnte sich nicht verkneifen zu sagen:

„Und da gibt es Leute, die glauben, die Bundeswehr hole die Erzie­hung nach, die von den Eltern versäumt wurde. Übrigens noch eine Bemerkung: Die Frau war nach ihren Angaben nicht angesäuselt, wie Sie es ausgedrückt haben, sondern total betrunken. Wer einen solchen Zustand ausnutzt, macht sich einer schweren Straftat schuldig.“

Während er den Beschluss, ein Gutachten zu erholen, diktierte, verließen die Kindsmutter und der Soldat einträch­tig den Sitzungssaal.

Für die nächste „Sache“, wie die Juristen zu sagen pflegen, brauchte Dr. Prell nur eine Minute: Ein junges Mannequin hatte ein Kind zur Welt gebracht und wusste nicht, wer der Vater war. Zwei Männer, die sie als ihre Partner benannt hatte waren durch ein Vaterschaftsgutachten ausgeschlossen worden. Dr. Prell fragte die junge Frau, ob sie nicht doch noch irgendwie Anhaltspunkte für die Suche nach dem wirklichen Vater beisteuern könne. Sie antwortete:

„Nein, das kann ich nicht. Ich war auf der Mailänder Modemesse. Da sind lauter schöne junge Leute, die nichts zu tun haben. Ist doch klar, was da passiert: Sie glauben es nicht, wie da rumgevögelt wird. Ich kenne die Männer gar nicht... Ich weiß nicht einmal, aus welchem Land die kamen.“

Dr. Prell dachte bei sich: Ob die Frau weiß, was auf sie zukommt, wenn sie nun ihr Kind allein aufziehen muss? Irgendwie wunderte er sich darüber, dass sie mit ihrer locke­ren Moralauffassung das Kind nicht abgetrieben hatte.

Zum Abschluss kam noch ein Fall zur Verhandlung, der dem Akteninhalt nach eine Routineangelegenheit war: Ein Ehemann focht die Vaterschaft an mit der Behauptung, dass seine Frau die Ehe gebrochen habe. Die Ehefrau gab dies zu und behauptete, der Mann, mit dem sie Geschlechtsverkehr gehabt habe, sei ihr unbekannt. Natürlich musste auch hier ein Gutachten darüber erholt werden, ob der Ehemann der Vater war oder nicht.

Dr. Prell legte nun eine kleine Sitzungspause, bevor er die allgemeinen Streitigkeiten behandelte. Vor dem Saal traf er die Vertreterin des Jugendamts und fragte sie:

„Na, wie geht’s denn so?“

„Viel Arbeit!“ erwiderte diese und fuhr fort: „Wissen Sie, dass sich hinter dem letzten Fall eine tiefe menschliche Tragik verbirgt?“

„Ich glaube, dass Vaterschaftsprozesse oft Tragödien zum Hintergrund haben: Wenn ich mir die vielen Mädel so vorstel­le, die sich oft dumm und leichtgläubig auf etwas einlassen, was sie allein kaum durchstehen können.“

„Um auf den letzten Fall zu kommen: Da habe ich eine tolle Geschichte gehört – unter dem Siegel der Verschwiegen­heit – versteht sich. Aber Ihnen kann ich’s ja erzählen, denn Sie dürfen ja auch keine Dienstgeheimnisse ausplaudern. Sie sollen doch wissen, um was es in Ihrem Prozess geht. Wenn die Gerüchte zutreffen, wissen die beiden Eheleute genau, wer der Ehebrecher ist und wer also auch als Vater in Betracht kommt. Sie schämen sich nur, das zuzugeben.“

„Sie machen mich ja richtig gespannt. Normalerweise bin ich ja froh, wenn mir der Hintergrund meiner Prozesse erspart bleibt, denn ich bin schon mit dem Vordergrund voll ausge­lastet. Aber ich bin überzeugt, dass es etwas anderes ist, wenn Sie es mir erzählen wollen.“

„Also, die Ehefrau des letzten Falles stammt aus den Philippinen. Ihr Mann hat sie auf einer Urlaubsreise kennen gelernt und nach Deutschland mitgebracht. Es hat damals eine große Hochzeit gegeben, über die sogar die Zeitungen berichtet haben, denn der Bräutigam war der Sohn des Bürgermeisters von Rockszell. Sie haben ja schon sicher von dem Mann gehört: Er ist der größte Hurenbock, der hier frei herum läuft...“

„Solche Ausdrücke bin ich ja von Ihnen gar nicht gewohnt, Frau Wahlmann“, meinte Dr. Prell lachend.

„In dem Fall treffen Sie aber genau den Kern der Sache, wie noch sehen werden: Auf der Hochzeit waren alle Beteiligten ziemlich betrunken. Irgendwann wurde die Braut entspre­chend dem alten Brauch entführt – vom Vater des Bräutigams und einigen Burschen. Der Vater hat die Braut in einem Zimmer des Hotels, in dem man feierte, versteckt. Dort hat er ihr erzählt, dass nach bayrischer Sitte die erste Nacht dem Vater des Bräutigams gehört. ‚Ius primae noctis‘ hat er das genannt, und die dumme Gans von Frau hat das geglaubt und mitgemacht. Ja, und nun weiß man nicht, von wem das Kind ist. Vater und Sohn sind zerstritten und das junge Paar auch. Eine einzige Katastrophe!“

Bevor sich Dr. Prell verabschiedete, konnte er sich diese Bemerkung nicht verkneifen:

„Wenn man hört, was in Bayern so alles unter dem Begriff ‚Brauchtum‘ verstanden wird, muss man direkt Gott danken, als Preuße auf die Welt gekommen zu sein.“

Adieu Justitia

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