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7. Ein Strafprozess

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Richter Dr. Prell hatte seine eigenen Ansichten über die Justiz. So erklärte er beispielsweise den Referendaren, die ihm zur Ausbildung zugeteilt waren, die richterliche Unabhängigkeit ungefähr so:

„Natürlich sind Richter unabhängig und können entscheiden, wie sie es für richtig halten. Wenn sie allerdings in bedeutenden Prozessen anders urteilen, als es oben für richtig befunden wird, dann sind Sie halt in höheren Ämtern nicht tragbar, denn es fehlt ihnen die notwendige Einsichtsfähigkeit. Sie bleiben dann halt ihr Leben lang beim Amtsgericht sitzen.“

Dr. Prell war selbst so ein „Sitzenbleiber“ und war höchst überrascht, als er eines Tages vom Justizministerium vorgeladen wurde. Misstrauisch wie er war, erwartete er nichts Gutes und erforschte auf der Bahnfahrt in die Hauptstadt sein Gewissen. Was mochte er angestellt haben, dass sich dieses Mal nicht sein unmittelbarer Vorgesetzter, sondern sogar das Ministerium seiner annahm?

Aber es kam ganz anders: Der zuständige Ministerialbeamte empfing ihn sehr freundlich und begann mit einer Lobeshymne:

„Sie stehen schon lange in unserem Blickfeld als besonders tüchtiger, zuverlässiger und stark belastbarer Mann, der eigentlich schon längst eine Beförderung verdient hätte...“

Während der Ministerialbeamte so weiter sprach, schossen Dr. Prell zwei Gedanken durch den Kopf: Ja, warum wurde ich dann bisher nicht befördert und was wollen die jetzt von mir? Nun diese beiden Fragen wurden sogleich beantwortet:

„Jeder Kollege soll auf dem Platz arbeiten, wo er sich am besten entfalten kann. Ein solcher Platz, der für Sie besonders geeignet ist, ist gerade jetzt durch die Pensionierung von Dr. Krampig frei geworden. Sie können, wenn Sie wollen, Vorsitzender der 4. Strafkammer werden. Ich muss dazu sagen, dass dort, wie Sie vielleicht wissen, der Prozess gegen einen unserer bedeutendsten Politiker anhängig ist. Dem Mann wird Steuerhinterziehung großen Stils vorgeworfen. Ein Fressen für die Presse. Dem Ministerium wäre es recht, wenn ein parteiloser Richter den Prozess übernimmt, der noch dazu dafür bekannt ist, dass er auf seine Unabhängigkeit Wert legt, wie es in Ihrer dienstlichen Beurteilung heißt.“

Dr. Prell dachte bei sich, dass der Fall für den Politiker völlig aussichtslos sein musste, wenn man es nun für besser hielt, das Image der Justitia zu pflegen.

„Na, was ist? Haben Sie es sich überlegt? Einverstanden?“ fragte der Beamte.

„O.K. Danke. Ich werde natürlich meine Pflicht tun“, antwortete Dr. Prell.

Der Strafprozess begann mit dem üblichen Geplänkel: Der Verteidiger lehnte den Vorsitzenden Dr. Prell aus fadenscheinigen Gründen wegen Befangenheit ab. Der einzig stichhaltige Grund, nämlich dass Dr. Prell eigens für diesen Prozess ausgewählt worden war, war dem Verteidiger nicht bekannt.

Dr. Prell hasste einen solchen nutzlosen Leerlauf wie dieses völlig überflüssige Ablehnungsgesuch, das ja mit der Sache selbst nichts zu tun hatte. Er wandte sich daher ganz unorthodox an den Angeklagten:

„Sie lassen mich durch Ihren Verteidiger ablehnen und kennen mich doch überhaupt nicht. Stellen Sie sich vor, ich schreibe nun in meiner Stellungnahme, dass ich mich befangen fühle, und stellen Sie sich weiter vor, dass Sie so mit Ihrem Ablehnungsgesuch durchdringen, dann kommt Ihr Prozess zu einem anderen Vorsitzenden, der schon genug zu tun hat und nun noch zusätzlich Ihren Prozess übernehmen soll. Was meinen Sie, wie der sich freut und wie unbefangen Ihnen der gegenübersteht? In die Pfanne hauen wird der Sie...“

„Wenn ich mich da einmischen darf“, beeilte sich der Verteidiger zu sagen, „das Ablehnungsgesuch ist allein auf meinem Mist gewachsen,,,“

„...Mist ist gut, das haben Sie gesagt...“, warf Dr. Prell ein.

„Ja, also weil Sie neu in Ihrem Job sind, will ich Ihnen das erklären. Ablehnungsgesuche sind in spektakulären Prozessen üblich. Sie sind ein normales Ritual, sozusagen ein erstes Klingenkreuzen mit dem Gericht. Wir müssen schon frühzeitig mit dem Sammeln von Revisionsgründen anfangen.“

„Meinen Sie etwa, ich habe keine Zeitung gelesen? Natürlich ist mir bekannt, dass die Prozesse, die im Zentrum des Interesses stehen, meistens mit der Ablehnung von Richtern beginnen. Ich halte das für falsch und frage deshalb Ihren Mandanten, ob er das vielleicht auch so sieht. Es ist ja schließlich sein Prozess. Wollen Sie, dass heute nichts weiter geschieht, als dass über Ihr Ablehnungsgesuch entschieden wird? Sie wären dann ja umsonst hergekommen. Und glauben Sie wirklich, dass wir die Strafprozessordnung so wenig kbeherrschen, dass sich bei der Behandlung der Richterablehnung ein Fehler einschleicht?“

„Also, ich habe diese Einzelheiten noch gar nicht mit meinem Mandanten besprochen. Er hat das alles mir überlassen...“

„Nun gut, dann holen Sie das also jetzt nach. Wir unterbrechen dafür kurz die Sitzung.“

Der arme Angeklagte hatte während dieser Diskussion etwas verwirrt zwischen dem Vorsitzenden und seinem Verteidiger hin und her geschaut und schien doch schließlich Zweifel an der für ihn praktizierten Prozesstaktik zu bekommen.

Nach einer Pause war der ursprünglich auf Konfrontationskurs eingestellte Verteidiger wie aus gewechselt:

„Wir ziehen der Anregung des Vorsitzenden entsprechend unser Ablehnungsgesuch zurück. Was bleibt uns anderes übrig? “

Im weiteren Verlauf des Prozesses kam es dann zur Einvernahme von zwei Gutachtern, die sich mit der Frage der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zu befassen hatten. Einer war von der Staatsanwaltschaft beauftragt worden, der andere vom Verteidiger. Die beiden hatten – wie es in solchen Fällen üblich ist – zwar ursprünglich in schriftlichen Gutachten diametral entgegengesetzte Ansichten vertreten, doch Dr. Prell nahm die beiden ins „Kreuzverhör“ oder besser gesagt: diskutierte so lange mit ihnen, bis sie sich auf eine Linie geeinigt hatten: Man befand den Angeklagten als bedingt verhandlungsfähig unter folgenden drei Voraussetzungen:

1 Nach jeder Stunde sollte eine Viertelstunde Pause eingelegt werden.

2 Der Gesundheitszustand des Angeklagten, insbesondere sein Blutdruck, sollten vom Landgerichtsarzt ständig kontrolliert werden.

3 Der Angeklagte sollte bequem sitzend, am besten halb liegend, bei viel Frischluft am Prozess teilnehmen.

„Da geht es Ihnen besser als mir!“ wandte sich Dr. Prell an den Angeklagten. „Kein Mensch kümmert sich um meinen Blutdruck.“

Nach einer weiteren Sitzungspause war der Saal den Forderungen der Sachverständigen angepasst worden: Man hatte aus dem Büro des Landgerichtspräsidenten den einzigen Sessel beschafft, der sich auf eine halb liegende Position einzustellen ließ und hatte ihn am offenen Fenster aufgestellt.

Als die Strafkammer den Saal betrat, erhob sich alles von den Plätzen, nur der stark übergewichtige Angeklagte lag in seinem Sessel und schnaufte mitleiderregend vor sich hin. Nun war es so, dass der Sitzungssaal im Erdgeschoss lag und dass sich das auf Weisung des Arztes geöffnete Fenster direkt an einen der belebtesten Plätze des Landes befand. Wegen des Verkehrslärms konnte man sich nun nur noch schreiend verständigen. Ein weiteres, schwerer wiegendes Handikap kam hinzu: Vor dem Fenster bildete sich eine immer größer werdende Traube von Neugierigen, die zunächst nur herein glotzten, dann aber, nachdem sie den Angeklagten erkannt hatten, lautstark ihre Kommentare abgaben, bis man sich schließlich auf einen Satz geeinigt hatte, den man skandierte: „Hängt sie auf, die fette Sau!“

„Ich glaube, wir sollten in einen anderen Sitzungssaal umziehen“, meinte der Verteidiger. Aber sein Mandant ergänzte:

„Und ich glaube, dass es mir nun doch ein bisschen besser geht und wir das Fenster schließen können.“

Und – oh Wunder – von diesem Zeitpunkt an lief der Prozess so, wie es sich jeder Strafrichter wünscht: ohne alle Mätzchen, denn auch unser bedeutendster Jurist, nämlich Goethe, hatte schon gefunden:

„Getretener Quark wird breit, nicht stark.“

Adieu Justitia

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