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5. Der alte Pensionist
ОглавлениеDr. Prell hatte seit seiner Pensionierung endlich Zeit, das zu tun, was ihm Spaß machte, und das genoss er. So unternahm er täglich kleinere Spaziergänge in der näheren Umgebung oder auch längere Wanderungen in den Bergen. Als er eines Tages auf einem Ausflug am Aussichtspunkt oberhalb der Kleinstadt halt machte und sich auf eine Bank setzte, kam ein Mann daher und fragte, ob der Platz neben ihm noch frei sei. Dr. Prell bejahte.
Sein Banknachbar führte das Gespräch fort:
„Sie sind doch Richter, nicht wahr?“
Dr. Prell verneinte – wahrheitsgemäß, denn er war ja inzwischen pensioniert.
Der Mann neben ihm ließ aber nicht locker. Ein Leuchten der Erinnerung ging über sein Gesicht:
„Aber Sie waren doch Richter. Wissen Sie nicht mehr, wie wir beide an der Fortentwicklung des Rechts gearbeitet haben?“
„Wieso? Waren Sie ein Kollege? Dann können wir aber nur kurz zusammen beim gleichen Gericht gearbeitet haben. Ich kann mich nämlich überhaupt nicht mehr an Sie erinnern.“
„Nein, nein, ich habe sozusagen auf der anderen Seite des Rechts gearbeitet. Sie haben mich öfter verknackt. Sie haben immer gesagt, meine Fälle seien die schwierigsten.“
„Ach, jetzt fällt’s mir wieder ein, wer sie sind. Sie heißen Gernhuber, nicht wahr?“
„Genau! Wissen Sie noch, wie wir uns kennen gelernt haben?“
Dr. Prell dachte an seinen ersten Posten bei der Justiz zurück. Er musste wie viele Kollegen als Ermittlungsrichter anfangen. Die erste Akte, die er auf den Tisch bekam, war dünn, aber dafür umso interessanter: Ein Passant hatte einen Zettel gefunden, auf dem mit zittriger Schrift stand:
„Hilfe, ich werde vergiftet! Josefine Gernhuber, Bachau 7.“
Die Polizei war zunächst mit einem Streifenwagen dort vorgefahren, doch war der Hausherr mit einem Schaufelbagger seines Tiefbauunternehmens erschienen und hatte geschrien:
„Schleicht’s euch!“
Die Polizeibeamten waren unverrichteter Dinge abgezogen und später mit mehreren Mannschaftswagen wieder erschienen. Gernhuber hatte das natürlich vorausgeahnt und seine Söhne herbeigerufen, die alle mit donnernden Motoren in weiteren Schaufellladern des Baggerbetriebs saßen und unerschrocken auf die Polizei zugefahren waren. Einer der Beamten hatte sogar seine Pistole gezogen und einen Schuss abgegeben. Die Kugel prallte mit einem lächerlichen „Bing“ an einer der riesigen Schaufeln ab. Ein röhrendes Gelächter der Gernhuber-Sippe war die Folge. Die Szene hatte etwas von einem alten Western an sich: Der große Show-down endete mit einem grandiosen Sieg der Helden: Die Polizei hatte heimlich, still und leise wieder Reißaus nehmen müssen. Eigentlich war das blamabel für die Polizei gewesen. Doch hatte sie der Staatsanwaltschaft berichtet, man habe abziehen müssen, um ein Blutvergießen zu vermeiden; man bitte um Anweisungen, was zu tun sei. Der Staatsanwalt war auch ratlos, und so verfiel er auf die Idee, den Ermittlungsrichter einzuschalten.
Dr. Prell dachte kurz nach, als der Fall ihm übertragen worden war. Dann setzte er sich in seinen alten VW-Käfer und fuhr zum Anwesen der Familie Gernhuber.
Vor dem Haus standen die Schaufellader, aber von den Männern war nichts zu sehen. Dr. Prell läutete an der Haustür. Als eine junge Frau öffnete, nickte er freundlich:
„Darf ich mich vorstellen: Prell, Ermittlungsrichter. Ich hätte gern Frau Josefine Gernhuber gesprochen.“
„Selbstverständlich! Gern! Kommen Sie mit. Übrigens: Ich bin die Schwiegertochter.“
Die Frau führte Dr. Prell die Treppe hinauf und sagte:
„Wissen Sie, wenn man uns höflich kommt wie Sie, dann haben wir nichts dagegen, aber wenn man so unverschämt ist wie die Polizei, dann müssen wir uns wehren.“
„Ach, die tun halt auch nur ihre Pflicht“, warf Dr. Prell vorsichtig ein.
„Aber doch nicht so! Wenn die mit mehreren Mannschaftswagen anrücken, dann denken ja alle Leute, wir seien Schwerverbrecher.“
Sie betraten eine Dachkammer, wo die alte Frau Gernhuber im Bett lag. Sie freute sich sichtlich, einmal ein fremdes Gesicht zu sehen.
Dr. Prell stellte sich wieder vor:
„Prell, ich wollte einmal nach Ihnen sehen und fragen, wie es Ihnen geht.“
Er fügte in Richtung zu seiner Begleiterin hinzu:
„Ich hätte gern allein mit ihr gesprochen“, und zu seiner Verwunderung entfernte sich Frau Gernhuber jr. tatsächlich auch diskret.
„Sie sehen’s ja. Ich bin alt und bettlägerig“, sagte die alte Frau.
„Und werden Sie auch richtig gepflegt und behandelt?“
„Ja, natürlich. Meine Schwiegertochter tut, was sie kann.“
Dr. Prell holte seine Akte aus der Tasche und zeigte ihr den Zettel, der Anlass des Verfahrens war:
„Haben Sie das geschrieben?“
„Ja, schon“, antwortete die Frau gedehnt und lächelte verschmitzt.
„Und warum, wenn es Ihnen doch angeblich gut geht?“
„Wissen Sie, wenn man so da liegt und von seiner Schwiegertochter gepflegt wird, dann gibt es schon einmal Streit. Und da bin ich halt auf die Idee mit dem Zettel gekommen. Ich wollte mal sehen, was dann passiert. Eigentlich wollte ich nur, dass überhaupt einmal etwas passiert, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Dr. Prell fasste das Ergebnis des Gesprächs in einem Satz zusammen und ließ ihn sich von der alten Frau unterschreiben. Dann verabschiedete er sich. Als er die Treppe hinunter ging, fragte ihn Frau Gernhuber jr.:
„Na, was hat sie gesagt?“
„Nur das Beste über Sie, wenn Sie das meinen.“
„Na also, was sollte dann das ganze Tamtam?“
Dr. Prell erklärte ihr, dass man leider jedem Hinweis auf eine Straftat nachgehen müsse, auch wenn er noch so unsinnig sei, denn das stelle sich ja meistens erst später heraus.
In der Folgezeit wunderte sich Dr. Prell, dass kein Strafverfahren gegen die Familie Gernhuber wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt eingeleitet wurde. Anscheinend meinten die Ermittlungsbehörden, sie hätten sich zu sehr blamiert, und kehrten daher den Fall lieber unter den Teppich, bevor man sich womöglich in einer öffentlichen Verhandlung lächerlich machte.
Wenige Wochen später las Dr. Prell in der Zeitung, dass das Haus der Familie Gernhuber abgebrannt sei; die bettlägerige alte Frau sei dabei ums Leben gekommen. Man ermittele wegen Mordes und Brandstiftung. Wieder einige Zeit danach stand in der Presse, dass sich der Verdacht, für den zwar viele Indizien gesprochen hätten, nicht sicher habe beweisen lassen.
Alle diese alten Geschichten waren schlagartig wieder im Gedächtnis von Dr. Prell gegenwärtig, als wären sie gestern geschehen. Er wandte sich an seinen Banknachbarn und fragte ihn:
„Was mich eigentlich immer interessiert hat: Wie war das eigentlich damals mit dem Brand? Heute können Sie mir das ja ruhig sagen, denn erstens bin ich nicht mehr im Dienst und zweitens liegt das alles ja auch schon so lange zurück.“
„Haben Sie uns etwa die ganze Zeit hindurch in Verdacht gehabt?“
„Sie sollten meine Frage erst einmal beantworten, dann sage ich Ihnen, was Sie wissen wollen.“
„Also gut: Meine Frau war allein zu Hause, als das Feuer ausbrach. Sie hat das Feuer sicher nicht gelegt, denn sie weinte fürchterlich, weil ihr Hund verbrannt war. Wenn sie das Haus angezündet hätte, hätte sie zumindest ihren Hund gerettet.“
Das klang etwas makaber, aber einleuchtend.
Dr. Prell war nun also an der Reihe:
„Ich habe Ihre Frau auch niemals in Verdacht gehabt, denn sie kam öfter zu mir, wenn sie ein Problem hatte.“
„Das weiß ich ja gar nicht! Was hatte sie denn für Probleme?“
„Weil es keine dienstliche Angelegenheit war, weil es auch schon lange her ist und ihre Frau nicht mehr lebt, will ich es Ihnen erzählen. Ihre Frau kam eines Tages zu mir und wollte wissen, was sie tun soll, denn Sie würden sie betrügen. Ich fragte sie, wieso sie zu dieser Annahme komme. Sie antwortete: ‚...weil mein Mann jeden Tag eine frische Unterhose anzieht, wenn er auf seine neue Baustelle fährt.‘ Ich konnte ihr natürlich nicht weiter helfen, habe ihr aber gesagt, dass die Indizienlage etwas schwach sei, wie bei dem Brand damals. Sie war entsetzt über diesen Vergleich und fragte: ‚Sie werden mich doch nicht in Verdacht haben?‘ Ich habe ihr geantwortet: ‚Nein, denn sonst wären Sie wohl kaum zu mir gekommen.‘“
„Das freut mich, dass jedenfalls einer die Dinge gesehen hat, wie sie sind. Die Leute haben uns nach dem Brand wie Verfemte behandelt, so dass wir sogar wegziehen mussten. Doch auch an unserem neuen Wohnort haben uns die alten Gerüchte bald wieder eingeholt. Wir haben lange arbeiten müssen, bis unser Ruf wieder hergestellt war. Oder vielleicht ist nur langsam Gras über die Sache gewachsen.“
„Ja, und was für schwierige Fälle waren das sonst noch, in denen ich mich mit Ihnen befassen musste?“ wollte Dr. Prell wissen.
„Darüber reden wir das nächste Mal, wenn wir uns wieder treffen. Wir haben ja nun unendlich viel Zeit.“